Noch einmal zur Mitte. Nur etwas anders

EDITORIAL

Ist nicht schon alles gesagt zum Wettstreit um die Mitte? Wer das glaubt, irrt gewaltig. Im Grunde muss die Debatte jetzt erst richtig losgehen. Gewiss, ein paar Erkenntnisse liegen im Wahljahr 2002 klar zutage. Dass der früher so selbstverständliche Einklang der Christdemokratie mit dem Mainstream im Lande vergangen ist und auch nicht wiederkehrt, ist die eine. Dass es auf den Kanzler ankommt, ist die andere. Wer würde im Ernst widersprechen? Wo alle überkommenen Parteibindungen erodieren und die geschlossenen Weltanschauungen nicht mehr viel gelten, da blicken die Menschen noch viel genauer (und zugleich skeptischer) auf die Galeonsfiguren ganz vorne an der Spitze. Wer in dieser Lage in Auftritt und Habitus näher dran ist am Lebensgefühl des Landes, wer sich zwanglos so zu präsentieren versteht, dass viele sich in ihm wiedererkennen, der hat gute Karten in der Konkurrenz der Spitzenkandidaten. Nur dem werden die Wähler ohne Vorbehalt den Zuschlag geben, nur der taugt zum "Kanzler der Mitte". Die Leute mögen keine Politiker, die ihnen fremd und unheimlich vorkommen - davon profitieren Gerhard Schröder und die SPD. Edmund Stoiber? "Der hat sich ja noch jar nich jeäußat", sagen sie in den Berliner Kneipen - und nicht nur dort. Schröder meint man zu verstehen, Stoiber bleibt ein Rätsel. Genau hier liegt die kulturelle Dimension der Konkurrenz um die Mitte.

Um diese kulturelle Mitte, also um Images und Inszenierungen, geht es derzeit im Wahlkampf vor allem. Das ist kein Wunder, als Ausdruck munteren parteipolitischen Wettbewerbs im Übrigen auch ganz in Ordnung. Einerseits. Nur droht dabei andererseits der entscheidende Kern der Auseinandersetzung aus dem Blick zu geraten. Denn wo es um den Wahlsieg geht, ist der kulturelle Einklang zwischen Kandidat und mittiger Mehrheit längst nicht genug. "Die Mitte", so hat es Gerhard Schröder jüngst erklärt, ist "ja zu allererst eine soziale Kategorie". Genau darum geht es - weshalb diese Erkenntnis auch nicht ohne Folgen bleiben sollte. Wer die Mitte der Gesellschaft gewinnen will, der braucht ein präzises Bild von ihr: von dem dramatischen sozialen Wandel, dem sie heute unterliegt, von all den Hoffnungen und Ängsten, die sich damit verbinden. Als ein für allemal "angekommen" im vermeintlich soliden Mainstram ihrer Gesellschaft empfinden sich in Deutschland nur die wenigsten. Viel eher sind es Abstiegsbefürchtungen und Entfremdungsgefühle, die die Selbstwahrnehmung breiter Gruppen bis weit hinein in den moderne und mobile Mitte prägen. Es müssten Parteien sozialer Demokraten sein, denen sich die Menschen in solchen Zeiten anvertrauen. Ob sie es auch tun, hängt nicht zuletzt davon ab, ob soziale Demokraten die Mitte der Gesellschaft so wahrnehmen, wie sie ist. Ganz in diesem Sinne tragen die diagnostischen Beiträge dieser Ausgaber der Berliner Republik zum Verständnis bei.

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