Think Tanks statt Pantoffeln

EDITORIAL

Die Revolution fiel dann doch aus. Einige Wochen lang in diesem Winter legte eine schrullige Koalition aus wild gewordenem Feuilleton und radikalisiertem Boulevard alle Energie in den Versuch, so etwas wie vorrevolutionäre Verhältnisse in Deutschland herbeizuagitieren. Das System habe abgewirtschaftet wie die Weimarer Republik im Herbst 1932, das Regime verheere das Land wie ein Bombenangriff, die Regierung gehöre hinweg gefegt: "Bürger, auf die Barrikaden!"

Nun ja. Natürlich war das alles von Anfang an ziemlich gedankenloser und ahistorischer Mumpitz. Und einigen der "Revolutionäre in Schlafrock und Pantoffeln" (Ludwig Börne) wird die Sache unterdessen vermutlich auch schon wieder eher peinlich sein, weshalb man über die ganze grillenhafte Episode womöglich diskret hinweggehen sollte. Schließlich werden wir alle auch in Zukunft zusammen in diesem Gemeinwesen leben und miteinander auskommen müssen. Die Berliner Republik hat sich etwas anders entschieden. Alexander Cammann und Sebastian Ullrich beschäftigen sich in dieser Ausgabe mit der ausgebliebenen Revolution. Denn tatsächlich sollte man sich schon noch einmal Klarheit darüber verschaffen, welche Umstände jenem Furor eigentlich erst die Gelegenheit zu seinem zwar kurzen, aber fulminanten Auftritt verschafften.

Natürlich verweist die Frage nicht zu allerletzt auf Defizite sozialdemokratischer Konzeption und Strategie in Zeiten fundamentaler gesellschaftlicher und ökonomischer Umbrüche. Es ist ja gar nicht zu bestreiten: Aus schwer zu verstehenden Gründen hat man sich gerade in der deutschen Sozialdemokratie in den vergangenen Jahren nicht immer systematisch und beharrlich genug mit dem Problem beschäftigt, die Voraussetzungen sozialdemokratischen Erfolgs unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts zu analysieren. Frank Deckers sehr lesenswerte Rezension in diesem Heft macht das schmerzlich bewusst. Und Corinna Emundts′ Beitrag erinnert eindringlich daran, dass sich Politik heute mehr denn je als "lernendes System" begreifen muss, um auf der Höhe ihrer Zeit zu bleiben. Anderswo ist deshalb längst eine blühende Kultur politiknaher Think Tanks entstanden. Nicht so in Deutschland, nicht unbedingt im Umfeld der SPD.

Umso wichtiger ist es, die Suche nach neuen Perspektiven der Sozialdemokratie engagiert zu betreiben. Die erhellende "Bartels-Heil/Stender-Kontroverse", die Texte von Arne Grimm, Thomas Kralinski und Peter Grafe in der vorliegenden Ausgabe dienen diesem Zweck; weitere Aufsätze geben kluge Hinweise. Wer danach noch immer mutlos ist, lese Andreas Helles Essay über die kulturelle Auszehrung der deutschen Christdemokratie. Im Vergleich mit ihr steht die SPD in vieler Hinsicht prächtig da - es kommt bloß drauf an, was sie draus macht.

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