Das Vergangene neu denken
Doch wie sich gezeigt hat: Bloßes Handeln ist beileibe nicht genug. Im Frühjahr 2004 gelten die Handelnden vielfach schon wieder als die Schuldigen. Sie sollen sich dafür rechtfertigen, dass sie den Menschen dieses Landes allerlei Veränderungen "zumuten". Diese sind zwar die Reaktionen auf den tatsächlichen und umfassenden Umbruch aller politischen und ökonomischen, gesellschaftlichen und demografischen Parameter. Dennoch verspüren einstweilen jene neuen Rückenwind, die das Grundproblem partout nicht in den neuen Verhältnissen des 21. Jahrhunderts sehen wollen, sondern in dem Versuch, dessen Bedingungen politisch angemessen zur Kenntnis zu nehmen. "Sozialabbau ist Mist, lasst es einfach sein", hat etwa jüngst in geradezu ergreifender Schlichtheit der Vorsitzende des DGB angeregt - so als wäre jener "Sozialabbau" nichts weiter als die willkürliche Machenschaft irgendwelcher politischer Fieslinge mit keinem anderem Interesse als der eigenen Abwahl.
Was also ist da schief gegangen? Viel spricht dafür, dass wir die Debatten um die Erneuerung unseres Gemeinwesens bislang viel zu voraussetzungslos und gegenwartsfixiert geführt haben. Wir müssen tiefer bohren und über das Gewesene sprechen - über das Gewesene und seine Wirkungen in der Gegenwart. Denn zumal im sozialdemokratischen Erneuerungsdiskurs erscheint die bundesdeutsche Verangenheit bislang allzu sehr als idyllische Ära von Wohlstand, sozialer Sicherheit und Eigenheimzulage. Das war sie - auch. Doch zugleich war diese Epoche eine Zeit fataler Irrtümer, verrückter Heilslehren und bequemer Lebenslügen. Und es sind nicht zuletzt die falschen Weichenstellungen aus der westdeutschen Welt vor 1989, die heute der Besserung im Wege stehen. Deshalb darf von den Fehlern der Vergangenheit nicht schweigen, wer eine bessere Zukunft erlangen will. Davon vor allem handelt dieses Heft, darum muss es in den Debatten der kommenden Monate gehen.