Warum Politik heute strategisch sein muss

EDITORIAL

"Kann Politik strategisch sein?" Das fragt Anke Hassel in dieser Ausgabe der Berliner Republik. Die Sozialwissenschaftlerin, neuerdings Professorin an der International University in Bremen, hat den Berliner Regierungsbetrieb intensiv teilnehmend beobachtet. Ihre Zustandsbeschreibung fällt ernüchternd aus: "Sowohl erfahrene Ministerialbürokraten als auch die meisten Politiker belächeln bereits die Idee politischer Planung als naiv. Jeder hat insgeheim den nächsten Auftritt der Ministerin oder des Kanzlers vor der Presse oder Fraktion vor Augen. Nur noch in den seltensten Fällen beschäftigen sich Grundsatzabteilungen und Stabsstellen in Parteien, Ministerien und Verbänden heute wirklich noch mit strategischem und auf die Zukunft orientiertem politischen Management." Gerade Sozialdemokraten täten sich häufig schwer, die "Grenzen der intuitiven Politik" zu erkennen, "da sich ein Teil ihrer Identität aus dem Hinterfragen von Expertenwissen speist". Strategisch und konzeptionell gemeinter Rat wird da gern einmal beiläufig als "Professorengeschwätz" lächerlich gemacht.

Spätestens im unruhigen Sommer dieses Jahres dürfte sehr klar geworden sein, dass die bloß intuitive Politik in Deutschland ihre beste Zeit hinter sich hat - oder doch zumindest: hinter sich haben sollte. Unabhängig davon, welche Partei das Kanzleramt besetzen darf: Die kommenden Jahre in Deutschland werden aufgewühlt, anstrengend und ernst. Die geradezu vorsätzlich nicht-strategische Normalpolitik aus alter Gewohnheit gerät gleich aus zwei Richtungen unter Druck. Einerseits erfordert die unzweifelhaft fällige Runderneuerung unseres Gemeinwesens dringend eine Politik der langen Linien, der klaren Prinzipien und dazu passenden Instrumente. Andererseits is offensichtlich, dass sich jeder schlüssige und zukunftsgerichtete politische Kurs in den kommenden Jahren notwendigerweise zunächst hart an den vergangenheitsorientierten Erwartungen vieler Menschen in Deutschland stoßen wird. Jede zwar irgendwie transformativ gemeinte, aber nicht ausreichend strategisch und grundsätzlich angelegte Politik wird in dieser Konstellation jämmerlich scheitern.

Die ostdeutschen Proteste dieser Monate gegen "Hartz IV", deren Dimensionen und Motive Thomas Kralinski in diesem Heft eindrücklich ausleuchtet, sind nur ein erster Vorgeschmack auf die Prüfungen, die das deutsche Gemeinwesen erst noch zu bewältigen haben wird. In Ostdeutschland geht es heute schon nicht mehr um die üblichen Verteilungskämpfe innerhalb eines von allen Beteiligten akzeptierten institutionellen Rahmens - in Ostdeutschland steht heute nicht weniger auf dem Spiel als die Legitimität dieser demokratischen Ordnung überhaupt. "Der Osten braucht eine neue Entwicklungsperspektive - sonst wird das Haus der Bundesrepublik bedrohlich ins Wanken geraten", schreibt Kralinski, und wer in den vergangenen Wochen den Hass und die Entfremdung der Menschen auf den Marktplätzen von Senftenberg, Spremberg oder Eberswalde erlebt hat, wird ihm nicht widersprechen. In solchen Zeiten muss Politik strategisch werden, oder sie hat schon verloren.

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