Von welcher Armut wir jetzt reden müssen
Deutschland ist ein verarmtes Land. Nicht unbedingt arm an Möglichkeiten, gewiss nicht arm an Mitteln. Aber bitter arm an Wirklichkeitssinn und Vorstellungskraft, an Empathie und Energie. Was uns in Politik und Gesellschaft dieses Landes irgendwann in den vermeintlich so erfolgreichen vergangenen Jahrzehnten abhanden gekommen ist, das ist die ganz basale Fähigkeit, Dinge so zu sehen, wie sie sind, uns über Missstände zu empören, aber kühl die richtigen Schlüsse zu ziehen – und dann energisch ans Werk zu gehen, damit es mehr Menschen besser geht. Weil wir ahnen, wir kriegen es sowieso nicht hin, fangen wir erst gar nicht mehr richtig an. Wir weichen aus in allerlei Symbolik. Wir reden schön. Und halbherzige Reformen lassen wir erst einmal “wirken”. Es wird schon wieder, sagen wir – und glauben es selbst nicht mehr. Immer öfter wirkt das alles nur noch kläglich.
Ja, es stimmt: Deutschland ist ein zynisches Land geworden. Und so, genau so geht die völlig unabdingbare gesellschaftliche Ressource des Respekts verloren: die der Achtung vor anderen ebenso wie die der Selbstachtung. Kein Zweifel, das auf gespenstische Weise abhanden gekommene Vertrauen in die eigene Fähigkeit, Fehlentwicklungen beherzt anzupacken und in den Griff zu bekommen, liegt allen übrigen Unzulänglichkeiten zugrunde, die dieser Gesellschaft im einzelnen zu schaffen machen. Solange es bei diesem Urübel bleibt, wird sich in Deutschland wenig zum grundsätzlich Besseren wenden.
Vom konkreten Mangel an Lebenschancen handelt der Schwerpunkt dieses Hefts. Schon wer sich nur die eindringlichen Bilder von Laura Gliesche, Charlotte Thömmes und Oliver Wolff (alle drei Fotografiestudenten am Berliner Lette-Verein) vor Augen führt, kann begreifen, wie viel auf dem Spiel steht für unser Land. “Bereits heute besteht für Kinder und Jugendliche ganzer Stadtteile die Realität in Aussichtslosigkeit, Sozialhilfemilieu, Schulversagen, Werteverfall, Rechtsextremismus, Kriminalität – im Osten wie im Westen”, schreiben Kerstin Griese und Harald Schrapers. Wollen wir das ? Nehmen wir das hin? Möchten wir in so einem Land leben?
Ändern könnte man das alles. Wenn man es denn ganz ernsthaft wollte. Dafür braucht man Geld, sicher. Vor allem aber braucht man eine Haltung. Eine Haltung, wie sie bei uns kaum jemand an den Tag legt. Eine Haltung, wie sie in den Sätzen Bill Clintons zum Ausdruck kommt, die Hans-Peter Bartels in seinem Essay zitiert: “Ich möchte heute Abend jedem Kind in Amerika, das da draußen ist und versucht, ohne Vater und Mutter groß zu werden, etwas sagen. Ich weiß, wie Du Dich fühlst. Auch Du bist etwas Besonderes. Du bedeutest etwas für Amerika. Und lass Dir niemals von irgendjemandem einreden, dass Du nicht werden kannst, was immer Du sein möchtest.” Das kommt uns zu kitschig vor? Das geht hier nicht? Das kann man in Deutschland so nicht sagen? Mag sein. Und exakt da liegt unser Problem.