Jetzt geht es ums Ganze

EDITORIAL

Die Deutschen sind ganz gerne ein bisschen depressiv, oder? Das ist wohl ein Teil ihrer Mentalität. Aber es bringt nichts, depressiv zu sein, wenn das nicht zu Taten führt.“
William E. Paterson

Die Zäsur des 18. September 2005 hat Deutschland Perspektiven eröffnet, die der Republik anderenfalls nicht offen gestanden hätten. Ob diese Spielräume genutzt werden, ist eine andere Frage. Um genau sie muss es deshalb jetzt gehen. Wer nicht will, dass die neuen Chancen gleich wieder verstolpert werden, der sollte sich schnell von ein paar wärmenden Mythen und Märchen trennen, die sonst den nüchternen Blick auf die deutsche Wirklichkeit verstellen könnten. Fangen wir also gleich einmal an: Es ist zum einen natürlich nicht wahr, dass die vorgezogene Bundestagswahl notwendig wurde, weil Rot-Grün alles, aber auch alles völlig falsch gemacht hätte. Ebenso wenig allerdings kann das am Ende – im Lichte seiner schwierigen Vorgeschichte – unerwartet gute Ergebnis für Gerhard Schröder und die SPD als Beleg dafür herhalten, dass beim Regieren des Landes in den vergangenen sieben Jahren eben doch fast alles richtig gemacht worden wäre. So war es nicht, und alle wissen das.

Weiter: Über das gemessen an allen Voraussagen und Erwartungen vollständig jämmerliche Wahlergebnis der CDU/CSU wird noch viel und gründlich zu diskutieren sein. Schon jetzt indes täten die Protagonisten der Union sehr gut daran, ihr Resultat als einen sehr dringlichen Weckruf zu begreifen. Die klare Botschaft der Wähler lautet: Ihr habt es Euch bei weitem zu einfach gemacht! Tatsächlich haben sich in der Union in den vergangenen Jahren die allermeisten in der trügerischen Gewissheit gewiegt, die Schwierigkeiten der Regierung und des Regierens in Deutschland seien allein die Schwierigkeiten dieser Regierenden, die „es“ nun einmal nicht könnten. Was sie nicht begriffen haben: Im 21. Jahrhundert, unter den Bedingungen der Globalisierung, des demografischem Umbruchs und des wissensintensiven Wirtschaftens, ist „es“ längst nicht mehr, was es zu Zeiten christdemokratisch geführter Regierungen im vorigen Jahrhundert einmal gewesen sein mag.

Wolfgang Schroeder hat völlig Recht: „Angesichts von 4,7 Millionen Arbeitslosen, einem unzureichenden Sozialstaat, extremen Haushaltslöchern, bislang ungekannten demografischen Verschiebungen, schwächer werdenden Bildungsinstitutionen und einem angeschlagenen europäischen Projekt, geht es heute nicht nur um klein Gedrucktes, sondern ums Ganze.“ Die kommende Koalition aus Sozialdemokratie und Unionsparteien wird sich der Dimension dieser Aufgaben gewachsen erweisen müssen. Unbedingte Voraussetzung dafür ist die Bereitschaft aller Beteiligten, eigene Irrtümer einzugestehen und gemeinsam dazuzulernen. Nur miteinander können sie erfolgreich sein. Die Gelegenheit dazu besteht. Sie muss jetzt tatkräftig ergriffen werden.

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