Die Idee der Sozialdemokratie
„Eines Tages kam Alice an eine Weggabelung und sah dort eine Katze auf einem Baum sitzen. „Welchen Weg soll ich gehen?“, fragte sie. Die Katze antwortete mit einer Gegenfrage: „Wohin möchtest du denn gehen?“ „Ich weiß nicht“, sagte Alice. „Dann“, sagte die Katze, „ist es egal.“
Lewis Carrol, Alice im Wunderland
Wenig beschäftigt die politischen Profis aller Parteien und die meisten ihrer ständigen journalistischen Begleiter so sehr wie Wahlumfragen, Kandidaturen und Koalitionsoptionen. Politik wird fast nur noch unter dem Gesichtspunkt betrachtet, für wen „es“ womöglich mit wem „reichen“ könnte. Das ist ein wichtiger Grund für die Trostlosigkeit unseres gegenwärtigen politischen Betriebs. Außerhalb dieses verinselten Milieus interessiert sich kein Mensch für die taktischen Kalküle der Politikinsassen. Respekt haben die Leute nur vor Politikern und Parteien, die glaubwürdig den Eindruck vermitteln, sie besäßen eine übergeordnete Idee, ein paar grundlegende Prinzipien sowie die Bereitschaft, für ihre Idee und ihre Prinzipien mit Leidenschaft und Augenmaß zu kämpfen.
„Politik ist Wille“, lautete das Motto des großen schwedischen Sozialdemokraten Olof Palme. Parteien sollten niemals einen Zweifel daran zulassen, dass es ihnen mit großer Dringlichkeit um etwas – nicht um „irgendetwas“ – geht. In Deutschland ist es aber so: Im Fall von Angela Merkels CDU kann mittlerweile niemand mehr sagen, was dieser Partei eigentlich noch wichtig ist. Die FDP wiederum steht zwar ohne Vertun für eine konkrete Sache, nämlich niedrigere Steuern für Leute mit Geld; sie kann aber nicht ansatzweise vermitteln, auf welche Zukunftsfragen unseres Landes diese „Lösung“ eine Antwort sein soll. Vor diesem Hintergrund reüssieren die Grünen derzeit schon deshalb so sehr, weil sie im Gegensatz zu ihren Konkurrenten plausible Anliegen vertreten und zugleich den Eindruck vermitteln, diese Anliegen mit Beharrlichkeit zu verfechten.
Bleibt die Sozialdemokratie. In Europa geht es ihr überall schlecht bis sehr schlecht. Alles spricht dafür, dass es langfristig wirksame strukturelle und kulturelle Faktoren sind, die dem Abstieg dieser einst so stolzen und zielbewussten Bewegung zugrunde liegen. Zieht man die Quersumme aus den 25 Beiträgen unseres großen Sozialdemokratie-Schwerpunkts in diesem Heft, dann wird deutlich: Nur noch ein geradezu titanisches Aufbäumen against all odds, also „die ganz große Metamorphose“ (Tissy Bruns) wird die europäische Sozialdemokratie vor dem weiteren Niedergang bewahren. Ohne fundamentalen Aufbruch wird nichts mehr gut.
Das gilt auch für die SPD. Und doch könnten Deutschlands Sozialdemokraten der bequemen Versuchung erliegen, viel kleinere Brötchen zu backen: Wären nicht auch 25 oder 26 Prozent ein schönes Ergebnis, solange man nur 2013 gemeinsam mit den Grünen auf 50 Prozent käme? Entschiede sich die SPD an dieser entscheidenden Weggabelung falsch, hätte sich die Partei endgültig aufgegeben. Die Idee der sozialen Demokratie taugt allemal für die veränderten Verhältnisse des 21. Jahrhunderts; nötig sind aber zupackende Sozialdemokraten mit deutlicher Aussprache, die sie ins Präsens übersetzen und unerschrocken vertreten. Allerhand hilfreiche Hinweise haben wir in diesem Heft zusammengetragen.