Auswanderung und Rückkehr - eine Erfolgsstory
Die Fluchtmigration nach Deutschland und Europa wird derzeit vor allem unter Krisenvorzeichen wahrgenommen und diskutiert: Können Europa und Deutschland so viele Flüchtlinge tatsächlich aufnehmen? Wird die Zuwanderung die europäischen Gesellschaften am Ende destabilisieren – oder die innere Sicherheit gefährden (besonders angesichts der Terroranschläge in Paris)? Diskutiert wird auch, welche langfristigen Folgen die massive Abwanderung für die Herkunftsländer der Migranten hat – und ob ein erneuter Braindrain die Entwicklungsaussichten von Ländern wie Syrien, dem Irak oder Afghanistan weiter einschränken wird. Langfristig könnte dies zu einer weiteren Abwärtsspirale führen, selbst wenn es in diesen Ländern zu einem politischen Neuanfang kommen sollte. Dies würde den Beginn eines Teufelskreises von abnehmenden Entwicklungschancen und zunehmender Auswanderung markieren.
Von Flüchtlingen zu Entwicklungsagenten
Statt dieses Schreckensszenario heraufzubeschwören, sollen an dieser Stelle die Chancen hervorgehoben werden, die sich langfristig aus den aktuellen Migrationsbewegungen ergeben und die sogar zu einer positiven Entwicklung in den betroffenen Regionen beitragen können. Wie können aus den Flüchtlingen von heute entscheidende Entwicklungsagenten von morgen werden?
Diese Frage wird seit zwei Jahrzehnten intensiv erforscht. Lange war man davon ausgegangen, dass die Migration von Hochqualifizierten aus Entwicklungs- in Industrieländer zwangsläufig negative Folgen für die Entwicklungsländer hat (Braindrain). Erst seit Beginn des 21. Jahrhunderts wird dieser Zusammenhang zunehmend infrage gestellt; viele Studien haben inzwischen gezeigt, dass die Herkunftsländer langfristig von der Auswanderung durchaus profitieren können (Braingain) – sofern sich die Einwanderer im Aufnahmeland etablieren und gute Positionen in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft erreichen können. Denn früher oder später werden sie das Kapital, das Know-how und die Kontakte, die sie im Gastland erworben haben, gewinnbringend in ihrem Herkunftsland einsetzen – vorausgesetzt, die Bedingungen im Heimatland erlauben dies. Möglicherweise entstehen so Vorteile für die Entwicklung ihres Herkunftslandes, die nicht bestünden, hätten sie das Land nie verlassen.
Viele Auswanderer kehren wieder zurück
Als Paradebeispiel für die Transformation eines Braindrains in einen Braingain gilt Indien, das sich in den vergangenen zweieinhalb Jahrzehnten von einem Entwicklungsland zu einer international führenden Wirtschaftsmacht entwickelt hat. Die Migration spielte hier eine zentrale Rolle: Über Jahrzehnte hinweg wanderten jährlich viele Tausend Inder nach Nordamerika und Europa aus, vor allem in die Vereinigten Staaten und Großbritannien. Unter ihnen waren viele gut ausgebildete Fachkräfte. Man vermutete, dass diese Auswanderer aufgrund der schwierigen Wirtschaftslage des Landes nicht wieder nach Indien zurückkehren würden und das Land somit wichtige Fachkräfte verlöre. Das Gegenteil trat jedoch ein: Viele Auswanderer kehrten wieder zurück und wirkten bei dem Wirtschaftsaufschwung des Landes entscheidend mit. Besonders groß war der Einfluss der Auslandsinder aus den Vereinigten Staaten im indischen Softwaresektor. So konnte eine zu Beginn des indischen Aufschwungprozesses durchgeführte Studie zeigen, dass fast die Hälfte der in Indien tätigen IT-Unternehmen von ehemaligen Auswanderern (vor allem aus den USA) gegründet beziehungsweise geleitet wurde. Diese Rückkehrer trugen maßgeblich dazu bei, dass Indien heute als einer der führenden Technologiestandorte der Welt gilt.
Ähnliche Entwicklungen konnten in den vergangenen Jahren auch in Ländern beobachtet werden, die ebenfalls lange Zeit vom Braindrain betroffen waren und heute von ihren Auslandseliten profitieren. Wichtige Beispiele in Asien sind etwa China, Taiwan und Vietnam. Auch hier spielten ehemalige Auswanderer eine wichtige Rolle beim Aufbau ihres Landes, nachdem sie Jahre oder Jahrzehnte zuvor in den Westen emigriert waren. Schätzungen zufolge wurde etwa in China mehr als die Hälfte aller Auslandsinvestitionen von Auslandschinesen getätigt, besonders von Chinesen, die in die Vereinigten Staaten oder südostasiatische Länder ausgewandert waren. Gleiches gilt für Taiwan: Dort wurde die Hardwareindustrie – eine Schlüsselbranche der taiwanesischen Wirtschaft – maßgeblich durch Auslandstaiwanesen aufgebaut. Ebenso ist der gegenwärtige Aufschwung Vietnams eng mit der Rückkehr und den Rücküberweisungen von Auslandsvietnamesen verbunden.
Ob in Lateinamerika oder in Afrika: Auch andere Teile der Welt lassen Ansätze eines Braingains erkennen. Inzwischen haben viele Entwicklungsländer die Migration als strategisches Instrument für ihre eigene Entwicklung identifiziert und einen Politikwechsel vollzogen: Früher versuchten sie häufig, die Auswanderung zu unterbinden oder die ausgewanderten Eliten zu einer Rückkehr zu bewegen – teilweise auch mit Druck. Heute sind viele dieser Regierungen dazu übergegangen, ihre Eliten im Ausland zu unterstützen und sie später, wenn sie im Ausland etabliert sind und einflussreiche Positionen erreicht haben, zu Investitionen, Rücküberweisungen oder doch zu einer Rückkehr in ihr Heimatland zu motivieren, nun mit zum Teil sehr lukrativen Angeboten. In Afrika, Asien, Lateinamerika und im Nahen und Mittleren Osten haben inzwischen zahlreiche Länder unterschiedliche Institutionen gegründet, um mit ihren Auslandsbevölkerungen in Kontakt zu treten und sie zu unterstützen. Diese reichen von informellen Unterstützungsvereinen über wissenschaftliche Institute bis hin zu eigenen Diasporaministerien. Die Afrikanische Union hat etwa die außerhalb des Kontinents lebende afrikanische „Diaspora“ symbolisch zur „sechsten Region Afrikas“ ernannt.
Ohne stabile Rahmenbedingungen geht es nicht
Wenn es um die Frage geht, welche Rolle die Entwicklungszusammenarbeit in Zukunft spielen sollte, um die Fluchtursachen zu bekämpfen und schwache Staaten zu stabilisieren, ist man gut beraten, die Rolle der Migration selbst in den Blick zu nehmen. Wie die kurze Zusammenschau der Beispiele in diesem Beitrag zeigt, kann es nicht darum gehen, die Migration aus Entwicklungsregionen gänzlich zu unterbinden. Besser sollte man versuchen, sie gezielt zur Entwicklung und Stabilisierung der betroffenen Länder einzusetzen. Das Beispiel Nordirak zeigt, dass die Migration dabei durchaus eine Schlüsselrolle spielen kann: Nach dem Fall des Regimes von Saddam Hussein kehrten viele Flüchtlinge aus Europa – auch aus Deutschland – in das neu aufstrebende Land zurück. Dort nahmen sie hohe Positionen in der Regierung ein, sie leiteten Universitäten und gründeten Unternehmen. Ein geflohener Nordiraker gründete etwa nach seiner Rückkehr aus Bonn ein großes Einkaufszentrum in Erbil, das er „Rhein-Mall“ nannte. Ohne die Rückkehrer wäre die Entwicklung im Nordirak bei weitem nicht so schnell vorangekommen.
Das Beispiel Nordirak zeigt aber auch, dass Migranten allein eine stabile Entwicklung nicht garantieren können. Es bedarf stabiler und sicherer Rahmenbedingungen, die nur die internationale Staatengemeinschaft gewährleisten kann – unter Mitwirkung der internationalen Entwicklungszusammenarbeit. Eine weitere Voraussetzung für eine positive Entwicklung lautet, dass die Migranten, die heute aus den Krisenregionen der Welt nach Europa kommen, hier auch eine echte Chance erhalten, an dem wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Nur dann werden sie in der Lage sein, ihr in Europa gewonnenes Kapital, Know-how und ihre Kontakte eines Tages in ihren Heimatländern einzubringen. Die Migration aus dem Nahen Osten und Afrika, die wir derzeit erleben, besitzt daher ein innovatives Potenzial – auch wenn dies aktuell noch nicht überall erkannt wird. Um die Entwicklung dieser Regionen zu fördern, müssen auch bewusst legale Wege der Arbeitsmigration geschaffen werden. Angesichts der demografischen Entwicklung in Europa wäre dies ein sinnvoller Schritt – der obendrein die Asylwege nach Europa entlasten würde.