Beben bis nach Berlin



In der Türkei ereignen sich bedenkliche Dinge. Am 14. März dieses Jahres stellte der Generalstaatsanwalt des Landes, Abdurrahman Yalcinkaya, beim türkischen Verfassungsgericht den Antrag, die Partei „Gerechtigkeit und Entwicklung“ (AKP) verbieten zu lassen. Die AKP ist nicht irgendeine Splittergruppe, sondern die mit absoluter parlamentarischer Mehrheit ausgestattete Regierungspartei der Türkei. Aber sie verstoße, so der Vorwurf, gegen die säkulare Verfassung der Türkei und sei ein „Zentrum anti-laizistischer Aktivitäten“.

Für insgesamt 71 Personen fordert der Generalstaatsanwalt ein Politikverbot, darunter sind Staatspräsident Abdullah Gül sowie der Regierungschef und AKP-Vorsitzende Recep Tayyip Erdogan. Am 31. März nahm das türkische Verfassungsgericht, mehrheitlich besetzt mit Vertretern der altkemalistischen Elite des Landes, den Verbotsantrag offiziell zur Entscheidung an. Damit hat die innenpolitische Polarisierung in der Türkei eine neue Eskalationsstufe erreicht. Sollte das Verfassungsgericht die AKP verbieten, so verböte sie ausgerechnet diejenige Partei, in deren Regierungszeit die Türkei beispiellose Jahre der politischen Modernisierung, des wirtschaftlichen Aufschwungs und der Hinwendung zu Europa erlebte. Anhaltende politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Instabilität wären unweigerlich die Folge.

Aus – vermeintlich – sicherer Entfernung könnte man die Idee schlicht als bizarren Unfug abtun, eine Partei amtlich beseitigen zu lassen, die aus freien, fairen und demokratischen Wahlen mit fast 47 Prozent der Wählerstimmen und absoluter Parlamentsmehrheit hervorgegangen ist. Gewiss ist das Vorhaben demokratiepolitisch grotesk. Doch mit dieser Feststellung ist es nicht getan – die Sache hätte ja Folgen, auch für uns. Versinkt die Türkei in einer Verfassungskrise, werden wir dies in Deutschland zu spüren bekommen. Wer sich auch nur im Geringsten für die Rolle, Aufgabe und Zukunft Europas in der Welt interessiert, der muss sich daher heute mit der Türkei beschäftigen. Viele in Deutschland – allen voran die deutsche Bundeskanzlerin – haben noch immer nicht begriffen, was Parag Khanna in seinem neuen Buch Der Kampf um die Zweite Welt: Imperien und Einfluss in der neuen Weltordnung kühl konstatiert: Im 21. Jahrhundert muss die Europäische Union in ihrem ureigenem Interesse mit aller Kraft um die Türkei werben – weit mehr sogar, als es umgekehrt die Türkei nötig hätte, um das Wohlwollen der EU zu buhlen. Denn Europa braucht die Türkei ziemlich dringend, ohne sie wird der globale Einfluss der EU zukünftig nicht weiter reichen als bis zum Balkan. Die Türkei hingegen könnte auch anders.

Zugleich gilt: Wer sich auch nur ansatzweise für die Zukunft der deutschen Gesellschaft interessiert, für ihren Wohlstand, ihren Zusammenhalt oder ihre sozialmoralische Verfasstheit, der muss sich mit der Frage auseinandersetzen, wie die dauerhafte Integration der türkischstämmigen Bevölkerung in Deutschland nach Jahrzehnten fahrlässiger Vernachlässigung doch noch gelingen kann. Vom sozialmoralischen Skandal der gegenwärtigen Verhältnisse faktischer Segregation einmal abgesehen, kann es sich unsere Gesellschaft schlicht nicht mehr leisten, auf irgendwelche Talente und Potenziale hier aufwachsender Menschen zu verzichten. Fortgesetzte Ausgrenzung und gesellschaftliche Desintegration, ob aus Zynismus oder aus Gleichgültigkeit gespeist, sind aber – nicht nur aus sozialdemokratischer Perspektive – schlechterdings keine tauglichen Zukunftsoptionen.

Europa in der Welt; die Türkei und Europa; türkische Einwanderer in Deutschland: Selbstverständlich hängen diese Fragen unauflöslich zusammen. Sollten in den kommenden Jahrzehnten die Beziehungen zwischen der Europäischen Union und der Türkei auf grundlegende Weise aus dem Ruder laufen, wird dies heftige Rückwirkungen auf die Beziehungen zwischen Eingewanderten und Alteingesessenen in Deutschland selbst haben. Gelingt es Deutschland umgekehrt weiterhin nicht, seine türkischstämmigen Einwohner in vollem Umfang gesellschaftlich zu integrieren, dann werden die deutschen Ureinwohner unseres Landes auch in Zukunft ihr völlig verzerrtes Bild von der Türkei pflegen.

Noch immer assoziieren nicht wenige Deutsche mit dem Land am Bosporus vor allem kulturelle Rückständigkeit, fremdartige Riten, wirtschaftliche Stagnation, soziale Verelendung sowie Jugendliche ohne Hoffnung und Schulabschluss. Genau dies sind die Attribute, die türkischstämmigen Einwanderern und ihren Kindern typischerweise in Westdeutschland zugeschrieben werden. So entsteht aber ein extrem beschränktes, ja fundamental falsches Bild vom Land am Bosporus. In der öffentlichen Vorstellung erscheint die Türkei entweder als unbestimmter Standort beschaulicher Hotelkomplexe unter südlicher Sonne, nicht anders als „Malle“ und „Domrep“. Oder man imaginiert sie als King-Size-Version von Berlin-Kreuzberg mit seiner genügsamen Dönerladenkultur und Onkelökonomie.

Eine der dynamischsten Gesellschaften weltweit

Istanbul als „Groß-Kreuzberg“: Die Fehlwahrnehmung könnte nicht eklatanter sein. In Wirklichkeit ist die Türkei des frühen 21. Jahrhunderts eine der dynamischsten Gesellschaften weltweit, vielfältig eingewoben in die globalisierte Weltwirtschaft und mitten im Prozess der inneren Erneuerung. Wer das Land heute mit der Türkei in den frühen achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts vergleicht, kann nur mit offenem Mund staunen über das schiere Ausmaß der Modernisierung und Urbanisierung, Verwestlichung und kulturellen Öffnung, das in der Zwischenzeit eingetreten ist – und weiter voranschreitet. Zu Recht gilt Istanbul heute als eine der coolsten und kulturell avanciertesten Städte der Welt. Nicht ohne Grund ging der Literaturnobelpreis des Jahres 2006 an einen türkischen Schriftsteller (der übrigens in den Jahren zuvor in den Vereinigten Staaten oder Großbritannien längst als Autor von Weltrang wahrgenommen wurde, während man Orhan Pamuk in Deutschland noch weitgehend ignorierte).

Moderne und urbane Türken, kulturell liberal, typischerweise mehrsprachig, weitgereist und weltgewandt, können sich oft nicht recht entscheiden, ob sie belustigt oder verzweifelt darüber sein sollen, wie sehr ihre armen Vettern mit anatolischen Wurzeln aus Duisburg-Marxloh, Berlin-Neukölln oder Hamburg-Wilhelmsburg die Vorstellungen prägen, die sich Deutsche von der heutigen Türkei machen. „Diese rückständigen Bauern in Deutschland verhindern, dass unser Land in die EU aufgenommen wird“, ist ein Satz, den man im Gespräch mit „türkischen Türken“ immer wieder hört. Davon abgesehen, dass selbstverständlich auch die türkischstämmige Community in Deutschland in sich viel ausdifferenzierter ist, als sie aus der Perspektive der Metropolen Istanbul, Ankara oder Izmir erscheinen mag, trifft diese Einschätzung im Kern durchaus zu. Die türkischstämmige Bevölkerung in Deutschland sitzt im Hinblick auf Bildung, Beruf und Sozialstatus weitgehend am unteren Ende der Gesellschaft fest – erfreuliche Ausnahmen bestätigen die trostlose Regel. Hingegen weist die gegenwärtige Türkei sämtliche Facetten einer modernen und aufstrebenden Gesellschaft auf – von ganz oben bis ganz unten. Zu diesen Facetten zählt zuvörderst das Phänomen einer enormen wirtschaftlichen und sozialen Aufwärtsmobilität.

Die Ironie könnte kaum größer sein – und auch kaum bitterer: In Deutschland haben wir uns über Jahrzehnte hinweg unsinnig polarisierte Debatten geleistet: „Wir sind kein Einwanderungsland“ contra „Multikulturalität als ewiges Straßenfest“. Für eine wirksame und sozialinvestive Integrationspolitik blieb da keine Zeit. Entsprechend beklagenswert ist die soziale und ökonomische Lage, in der sich die türkischstämmigen Einwanderer in Deutschland bis heute vielfach befinden. Und genau das wiederum liefert heute scheinheiligen „Abendlandsapologeten“ vor allem aus den christlichen Parteien willkommene Vorwände gegen die Mitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Union. Man führt gleichsam das Jahrzehnte währende eigene Versagen auf dem Gebiet der Integrationspolitik ins Feld, um eine strategisch widersinnige Außenpolitik zu begründen – absurder geht es kaum.

Tatsächlich hätten Europa und Deutschland jeden Grund, die Türkei intensiv zu umwerben. Das Land ist, bei allen noch bestehenden Defiziten, die mit Abstand fortschrittlichste demokratisch verfasste Nation in der muslimischen Welt. Keine andere Gesellschaft demonstriert so eindrucksvoll, dass Demokratie und Islam miteinander vereinbar sein können. Seine geografische Lage macht das langjährige Nato-Mitglied im 21. Jahrhundert zu einem wertvollen geopolitischen Aktivposten für Europa, der schon deshalb nach Kräften gehegt und gepflegt werden sollte. Die Türkei ist das entscheidende Transitland für russisches, kaspisches, zentralasiatisches oder iranisches Öl und Gas. Sie grenzt an den Iran und den Irak, an Syrien, Armenien und Georgien; sie kann als wichtiger Stabilitätsanker für den instabilen Kaukasus und die Schwarzmeerregion wirken.

In vieler Hinsicht braucht Europa die Türkei als dynamischen Partner tatsächlich mehr als die Türkei auf Europa angewiesen ist. Denn Ankara stehen alternative Bündnisoptionen offen. So fordern nationalistisch gesinnte Teile des türkischen Militärs schon lange offen die Abkehr von Nato und Europa. Stattdessen wünschen sie sich eine pro-russische oder asiatische Ausrichtung der Außenpolitik ihres Landes. Die Türkei wird sich bei Bedarf auch zukünftig in allen vier Himmelsrichtungen nach Freunden umsehen – ganz einfach weil sie dies kraft ihrer geopolitischen Schlüsselstellung kann.

Die erste unkorrupte Regierung seit Menschengedenken

Europa braucht die Türkei auch aufgrund ihrer Größe von 75 Millionen Einwohnern, ihrer äußerst jungen Bevölkerung und ihrer – gemessen an europäischen Verhältnissen – eindrucksvollen ökonomischen Dynamik. Nach der schweren Wirtschaftskrise des Jahres 2001 hat die AKP unter Führung von Premierminister Recep Tayyip Erdogan die Türkei erstmals in Jahrzehnten auf einen nachhaltigen Wachstumspfad geführt. Dabei hielt sich die türkische Regierung eng an die Vorgaben des Internationalen Währungsfonds. In der Ära Erdogan wuchs die türkische Wirtschaft zwischen 2002 und 2007 Jahr für Jahr durchschnittlich um 7,5 Prozent. Im gleichen Zeitraum sanken Inflation und Zinssätze – auch dies präzedenzlos – bis hinunter in den einstelligen Bereich, was Binnennachfrage und Konsum kräftig ankurbelte. Parallel dazu zog die Türkei aufgrund eines disziplinierten Privatisierungskurses erstmals auch beträchtliche Direktinvestitionen aus dem Ausland an.

Alles in allem hat die türkische Gesellschaft die Ära Erdogan bislang zumeist als beispiellose Erfolgsgeschichte erlebt. Das durchschnittliche Jahreseinkommen pro Kopf der Bevölkerung hat sich zwischen 2001 und 2007 nahezu verdoppelt, von 2.800 Dollar auf etwa 5.000 Dollar. Die AKP-Regierung verabschiedete eine ganze Serie von Reformen, um das Justizwesen, das Verhältnis zwischen Regierung und Militär sowie die Menschenrechtspraktiken an europäische Standards anzupassen. Weithin wird die AKP-Regierung unter Premier Erdogan in der Türkei als erste weitgehend unkorrupte Regierung seit Menschengedenken angesehen. Zu den Verdiensten der tief in der türkischen Gesellschaft verwurzelten Volkspartei AKP zählen der energische Ausbau des Gesundheitssystems und der öffentlichen Infrastruktur besonders in ärmeren Regionen, die erleichterte Vergabe von Wohnbaukrediten, höhere Stipendien für Studenten sowie – entgegen kemalistischer Tradition – der Ausbau der Minderheitenrechte von Kurden und Nichtmuslimen. Allen diesen ganz praktisch im Alltag erlebbaren Leistungen verdankte die AKP ihren erdrutschartigen Sieg vom vergangenen Jahr, der Premier Erdogan eine zweite Amtszeit einbrachte.

Wer die Verwestlichung in Wirklichkeit hintertreibt

Ihr herausragendes Wahlergebnis von 47 Prozent (gegenüber 34 Prozent 2002) erzielte die kulturell zweifellos konservative, zugleich aber demokratische, reformfreudige und westlich ausgerichtete Volkspartei AKP gerade nicht aufgrund irgendeiner vermeintlich „versteckten islamistischen Agenda“, sondern weil sie sich glaubwürdig als verantwortungsbewusste und an den Graswurzeln der Gesellschaft verankerte Partei des ökonomischen Pragmatismus und der bodennahen Demokratie präsentierte. Auf eine Regierungspartei dieser Art hatten die jahrzehntelang Korruption, Nepotismus und gewaltsame Militärputsche (1960, 1971 und 1980) gewöhnten Türken lange warten müssen. Es ist kein Wunder, dass sich im vorigen Jahr eine große Mehrheit der Wähler erneut für die AKP entschied.

Vor allem aber hat ausgerechnet die mancherorts noch immer verkappter radikalislamistischer Neigungen verdächtigte AKP-Regierung unter Recep Tayyip Erdogan mehr als jede türkische Regierung vor ihr dafür getan, die Türkei der Europäischen Union anzunähern. Es ist wahr, dass die Bewegung in Richtung Europa in jüngerer Zeit beträchtlich ins Stocken geraten war. Umso hoffnungsvoller stimmt, dass das türkische Parlament im April dieses Jahres mit den Stimmen der AKP endlich die Liberalisierung des notorischen Strafgesetzbuchparagrafen 301 beschlossen hat, der die „Beleidigung des Türkentums“ unter Strafe stellte. Doch verantwortlich für das Nachlassen des türkischen Reformeifers waren ohnehin nur zum geringen Teil Ministerpräsident Erdogan, der pragmatische vormalige Außenminister und heutige Staatspräsident Abdullah Gül oder die AKP insgesamt. (Geradezu albern ist besonders der Vorwurf, die Aufhebung eines überhaupt erst seit zehn Jahren durchgesetzten Verbots von Kopftüchern an Universitäten werde geradewegs in eine Islamische Republik unter Scharia-Gesetzen führen.) Die Hauptverantwortung dafür, dass Verwestlichung und „Europäisierung“ der Türkei zuletzt nicht mehr so recht von der Stelle gekommen ist, trägt vielmehr eine gefährliche türkisch-europäische Blockadekoalition. Diese setzt sich auf türkischer Seite zusammen aus Militärs und antidemokratischen kemalistischen Traditionalisten; auf europäischer Seite wiederum besteht sie im Wesentlichen aus bänglich-opportunistischen Apologeten des „christlichen Abendlandes“ (wie etwa Angela Merkel oder Nicolas Sarkozy) sowie verantwortungslosen Populisten von rechts bis links. Alteuropäische Abendländler und türkische Altkemalisten agieren heute als Beharrungsbrüder im Geiste – zum gemeinsamen Schaden Europas und der Türkei.

Womöglich, vielleicht sogar wahrscheinlich wird Europa die enorme historische Gelegenheit verspielen, die mit seiner Öffnung hin zu einer sich ihrerseits öffnenden Türkei möglich würde. Zu defensiv, zu nostalgisch und weltabgewandt scheint heute die gesellschaftliche Gestimmtheit im „alten Europa“, um wirklich Neues zu wagen. Statt in eine dynamische ökonomische und zivilisatorische Win-win-Konstellation mit großer Perspektive könnten wir so in eine Situation geraten, in der alle Beteiligten als Verlierer dastehen – die EU jedoch stärker als die Türkei. Geschichte besteht immer auch aus den positiven Entwicklungen, zu denen es nicht kam, weil Weggabelungen verpasst und vielversprechende Richtungen nicht eingeschlagen wurden. So kann es auch bezogen auf die Zukunft der Türkei und das türkisch-europäische Verhältnis geschehen. Vielleicht – hoffentlich! – kommt es ganz anders.

Wichtig ist deshalb vor allem, das große Paradox der jüngeren türkischen Geschichte und Politik zu begreifen: Heute sind es in der Türkei die ehemaligen Islamisten von der AKP, die für Öffnung und Verwestlichung, für Marktwirtschaft und Menschenrechte, für Demokratie und Europäisierung stehen. Umgekehrt ist das einstmalige kemalistische Establishment in den vergangenen Jahren immer stärker einem erstarrten und nach innen gekehrten türkischen Neonationalismus verfallen, der sich gegen Europa, gegen die Nato, gegen Amerika und alles Westliche im Allgemeinen richtet. Die zentrale politische Herausforderung, vor der die Türkei gegenwärtig steht, ist gerade nicht der vermeintliche Islamismus der AKP, sondern der um sich greifende antiwestliche Nationalismus des vormaligen Establishments in Politik, Militär und Gesellschaft. Aus den Vertretern der einstmaligen Modernisierungs- und Verwestlichungsideologie des Kemalismus sind Verfechter einer reaktionären, nationalistischen und militaristischen Wende gegen Europa, gegen die Vereinigten Staaten und gegen den Westen insgesamt geworden.

Die traurige Irrelevanz der kemalistischen Opposition

Bedauerlicherweise gilt das in ganz besonderem Maße auch für die oppositionelle Republikanische Volkspartei (CHP). Gegründet 1923 von Kemal Atatürk ist diese traditionsreiche politische Organisation unter der sechzehnjährigen Führung ihres – soeben zum zehnten Mal wiedergewählten – Vorsitzenden Deniz Baykal in den Zustand „trauriger Irrelevanz“ (The Economist) herabgesunken. In den politischen Konflikten der vergangenen Jahre hat die CHP immer stärker den Schulterschluss mit antidemokratischen Strömungen in der türkischen Generalität gesucht; gegen deren Putschgelüste im vorigen Jahr hatte die – nominell noch immer sozialdemokratische CHP – nichts einzuwenden. Es war ebenfalls Baykals Partei, die im vorigen Jahr mit juristischen Manövern die Wahl von Abdullah Gül zum Staatspräsidenten verzögerte. Überhaupt erst das löste die politische Krise aus, die eine Neuwahl des Parlaments nötig machte und der AKP zu ihrem haushohen Wahlsieg verhalf. Dass die CHP den „Türkentum“-Paragrafen 301 beibehalten will, rundet das Bild ab. Weshalb ausgerechnet eine so hoffnungslos verknöcherte nationalistische Partei noch immer der Sozialistischen Internationale angehören darf, ist rundum rätselhaft.

Europa hat also allen Grund, in seinen Beziehungen zur Türkei auf die erfolgreich regierende AKP zu setzen. Diese Partei und ihre führenden Köpfe haben in den vergangenen Jahrzehnten einen weiten Weg zurückgelegt. Das verdient Anerkennung und Respekt. Zumal aus deutscher Perspektive ist es schlicht gedankenlos, den türkischen Premierminister danach zu beurteilen, was er vor Jahrzehnten dachte, sagte oder erreichen wollte. Die Bundesrepublik Deutschland ist ein freiheitliches und demokratisches Gemeinwesen, das nicht unwesentlich von ehemaligen Nazis aufgebaut wurde. Ein ehemaliger Straßenkämpfer und Steinewerfer diente von 1998 bis 2005 erfolgreich als deutscher Außenminister. Und im Bundesland Brandenburg wird im kommenden Jahr eine ehemalige Mitarbeiterin des Staatssicherheitsdienstes der DDR für das Amt des Ministerpräsidenten kandidieren.

Man muss das nicht gutheißen, und es mag moralisch legitim sein, Menschen, Staaten oder Parteien vor allem anhand der Frage zu beurteilen, woher sie kommen und was sie früher einmal taten. Politisch aber ist dies auf fundamentale Weise unklug. Politische Veränderung zum Besseren ist immer nur dann und dort möglich, wo positive Ansätze begrüßt und gefördert, nicht aber sogleich lauthals als besonders hinterlistiger Trick „entlarvt“ werden. Kein Fortschritt auf der Welt wäre möglich, wenn jegliches Umdenken und Hinzulernen politischer Akteure stets bloß als Manöver zur Ablenkung von früheren Irrtümern gewertet würde. In der Türkei haben Jahrzehnte der demokratischen und marktwirtschaftlichen Praxis islamistische Heißsporne zu pragmatischen Politikern mit gemäßigt religiöser Prägung werden lassen. Es ist daher folgerichtig, dass die AKP heute Anschluss an die christdemokratische Europäische Volkspartei sucht (und mehr als töricht, wenn die schlafmützigen Abendländler in CDU und EVP diese Avancen pikiert abwehren).

Vertreter dieser „Abendlandfraktion“ in Deutschland scheinen zuweilen geradezu erfreut über die Versuche des altkemalistisch-nationalistischen Establishments der Türkei, die AKP als politisch-volksparteiliche Realität per Gerichtsbeschluss wieder aus der Welt zu schaffen. Es ist aber exakt diese Art des abstrakten Beharrens auf rigiden und prinzipiellen Lösungen, die politisch regelmäßig den größten Schaden anrichtet. In der Türkei jedenfalls würde es zweifellos lediglich eine islamistische Re-Radikalisierung nach sich ziehen, sollte das administrative Aufbegehren der Radikalsäkularisten im 21. Jahrhundert noch einmal von Erfolg gekrönt sein. Die historische Erfahrung nicht nur in der arabischen Welt lehrt: Mehr als alles andere ist es stets und überall staatlicher Autoritarismus, der religiös-ideologischen Extremismus hervorbringt. Sollte das irrwitzige Vorhaben tatsächlich glücken, die modernisierend, europafreundlich und mit absoluter Mehrheit regierende AKP aus der türkischen Politik zu verdrängen, so würde am Ende weit mehr zerstört als nur die erfreulich aufkeimende Demokratie in demjenigen Land der islamischen Welt, das in den vergangenen Jahren wie kein anderes Anlass zu Hoffnung gegeben hat. Der Donnerschlag würde lange nachhallen, und das Beben wäre bis in die Straßen von Berlin zu spüren.

Literatur
Katinka Barysch, Turkey: The Constitutional Frontline, in: http://www.opendemocracy.net/article/democracy_power/ future_turkey/the_constitutional_frontline, 15.4.2008
Soner Cagaptay, Ankara’s Quiet Revolution, in: Newsweek vom 14.4.2008
„A Cloud No Bigger Than a Hand“, in: The Economist vom 13.12.2007
„Courtroom drama: The constitutional court’s case against Turkey’s ruling political party is a dangerous mistake“, in: The Economist vom 3.4.2008
Larry Diamond, The Spirit of Democracy: The Struggle to Build Free Societies Throughout the World, New York 2008
„An Ineffective Opposition: The Sad Irrelevance of Turkey’s Main Opposition Leader“, in: The Economist vom 3.5.2008
Parag Khanna, Der Kampf um die Zweite Welt: Imperien und Einfluss in der neuen Weltordnung, Berlin 2008
Andrew Mango, The Turks Today, London 2004
Anand Menon, Europe: The State of the Union, London 2008
„Back to the Ottomans: Why Turkey Matters So Much to Islam“, in: The Economist vom 3.11.2007
Ömer Taspinar, The Old Turks’ Revolt: When Radical Secularism Endangers Democracy, in: Foreign Affairs 86 (2007) 6, S. 114-130

zurück zur Person