Begründung der ruhigen Hand
Tony Blair
Gerhard Schröder erlaubte sich einen kleinen respektlosen Scherz. Die ersten beiden Wege habe er nicht gefunden, gestand der deutsche Bundeskanzler im Frühjahr 1999 seinem britischen Amtskollegen Tony Blair. Ob ihm der Premierminister nicht bitte den dritten weisen könne. Darauf wurde Blair ganz ernst und nahm die Frage sehr grundsätzlich: "What is it that we′re really, really about? I believe that what we are really, really about is community, opportunity and responsibility." Gemeinschaft, Chancen und Verantwortung: Das im Kern also soll er wirklich, wirklich gewesen sein, jener Dritte Weg, den mitzugehen die Protagonisten von New Labour Sozialdemokraten in aller Welt mit Nachdruck animierten. Dass ausgerechnet ein habitueller Pragmatiker wie Schröder von wolkigen Pathosformeln dieses Schlages beeindruckt gewesen sein soll, mag man mit guten Gründen bezweifeln. Bereits die ziemlich respektlose Frage des deutschen Kanzlers an den britischen Amtskollegen deutet darauf hin, dass Schröder das Gerede über den Dritten Weg insgeheim von Anfang so überspannt und verblasen gefunden haben mag, wie es in der Tat gewesen ist.
Aber das ist natürlich bloß Mutmaßung, gleichsam kontrafaktische noch dazu. Gerhard Schröder dürfte an das Heilsversprechen des Dritten Weges wohl nie so recht geglaubt haben. Doch vom öffentlichen Flirt mit dem halbgar-verschwurbelten Gedankengut aus dem Hause Blair ("I think that our whole process really is a voyage of discovery") hielt selbst ihn das nicht ab. Der atemberaubende Erfolg von New Labour in Großbritannien erstickte alle Zweifel und nahm Skeptikern die Argumente. Blair und sein harter Kern - Gordon Brown, Peter Mandelson und Alastair Campbell - besaßen scheinbar das Patentrezept dafür, wie müde dahin dümpelnde sozialdemokratische Traditionskompanien gründlich und auf Dauer zu unschlagbaren Mehrheitsmaschinen umgebaut werden konnte. Für eine kurze Weile schien jener britische Budenzauber in den führenden Kreisen der deutschen Sozialdemokratie tatsächlich zur neuen Orthodoxie zu reifen. New Labour galt als Maß der sozialdemokratischen Dinge. "New, new, new. Everything is new", brauchte Tony Blair nur ekstatisch auszurufen - und schon war alles schwer beeindruckt. Alles mit allem zu versöhnen, Kapital und Arbeit, Staat und Markt, Globalisierung und nationale Tradition - das könne die "Philosophie" (Anthony Giddens) des Dritten Weges leisten. Manche haben wirklich daran geglaubt.
Als Mandelson weinend auf dem Sofa lag
Offensichtich war das eine ziemlich abwegige Vorstellung. Wie gut die regierende deutsche Sozialdemokratie daran getan hat, sich nicht im Ernst und dauerhaft auf die Mittel, die Wege und den hochtourigen Hype von New Labour einzulassen, beweist in aller Eindringlichkeit das brillante Buch Servants of the People des Journalisten Andrew Rawnsley, das der Verlag im Untertitel etwas zu reißerisch als The Inside Story of New Labour anpreist. Und gewiss, das ist die eindrucksvolle Arbeit des Chefkommentators der Wochenzeitung The Observer auch - und nicht einmal zu knapp. Der Leser ist dabei, wenn Tony Blair die Journalisten Schottlands summarisch als "bornierte Wichser" beschimpft und sein rustikaler Vize John Prescott den Unsinn der "fuckin′ focus groups" verflucht, auf die sich New Labour stets sklavisch verlassen hat. Hautnah erlebt man mit, wie sich der große Stratege Peter Mandelson nach seiner zweiten Entlassung aus dem Kabinett bitterlich weinend auf Tony Blairs Sofa zusammenkrümmt. Niemand weiß besser Bescheid über das Innenleben von New Labour als Andrew Rawnsley, niemand hatte besseren Zugang zum innersten Kreis von New Labour, keiner hat mehr Informationen über den ständigen erbitterten Nahkampf innerhalb der Regierung zusammengetragen. Alles ist belegt, dokumentiert, abgesichert. Das politische und menschliche Drama, das New Labour für seine Protagonisten von Anfang an gewesen ist - in diesem Buch von Andrew Rawnsley wird es auf geradezu beklemmende Weise nachvollziehbar.
Von der Nutzlosigkeit des Dritten Weges
Das alles wäre zwar schon für sich genommen unendlich spannend. Doch Andrew Rawnsley hat weit mehr zuwege gebracht als nur eine minutiöse Reportage aus den "inneren, inzestuösen Zirkeln" (Rawnsley) von New Labour. Das eigentliche Verdienst des Autors liegt nämlich darin, dass er die überwältigende Menge seiner Beobachtungen und Detailkenntnisse zu einer kühlen und konzisen, dabei keineswegs feindseligen Analyse des politischen Projekts New Labour verwebt. Dabei geht es Rawnsley vor allem darum, die paradoxen Muster zu erhellen, nach denen sich gerade die spezifischen Stärken der Modernisierer um Tony Blair immer wieder zugleich als deren erschreckende Schwächen erweisen. New Labour, das lehrt dieses Buch sehr eindrucksvoll, ist von Anfang an nie das strahlende Erfolgsmodell gewesen, für das es viele gehalten haben. Im Juni dieses Jahres wurde die Regierung Blair zwar wiedergewählt. Doch es war ein ernüchternder Sieg: Gerade noch 25 Prozent der britischen Wahlberechtigten entschieden sich für die Labour Party, während volle 41 Prozent zu Hause blieben. Die Schwäche der Opposition und das britische Mehrheitswahlrecht verhalfen Blairs Leuten erneut zu einer massiven Mehrheit im Parlament. Doch irgend etwas war sehr gründlich schief gegangen.
Tatsächlich hatte das prekäre Projekt New Labour in seinen ersten vier Regierungsjahren jederzeit das Potential, mit voller Wucht in die Hose zu gehen. Verantwortlich dafür war zum Teil gewiss die schiere Fadenscheinigkeit und Fragwürdigkeit des Dritten Weges als ideenpolitischer Leitfaden für praktische Regierungspolitik. "It was a useless compass when confronted a decision which did not permit of compromise", schreibt Rawnsley. Dass zwischen widerstreitenden Interessen und Werten niemals eine Wahl getroffen werden müsse, gaukelte der Dritte Weg vor. Doch genau das konnte nicht gutgehen, denn: "To govern is always to choose." Weil der britischen Öffentlichkeit diese schlichte Tatsache nicht lange verborgen blieb, taugte der Dritte Weg bald nicht einmal mehr als Werbegag. Je maßloser und messianischer Tony Blairs Rhetorik ausfiel, desto skeptischer reagierte das Publikum. "When you say: when does the revolution ever stop? I′m not sure the revolution ever stops", erklärte Tony Blair allen Ernstes - so als wäre er Mao oder Robespierre. Dabei agierte er in der politischen Praxis doch stets als "sandpaper politician" (Rawnsley), immer darauf bedacht, allen Konflikten jede scharfe Kante abzuschleifen. Gemessen an seinem Anspruch, neue politische Ideen mit einem einprägsamen Etikett zu versehen, war der Dritte Weg ein Fehlschlag gleich in doppelter Weise: Weder waren die Ideen besonders gut oder neu, noch erschienen sie den Briten sonderlich mitreißend. Tony Blair wurmte das gewaltig. In Südkorea und auf dem europäischen Festland nehme man den Dritten Weg ernster als im Lande des Erfinders selbst, klagte der beleidigte Premier regelmäßig. Freilich sollte sich auch dieses Interesse bald legen.
Zwischen Arroganz und Panik
Aber nicht allein die Lücke zwischen großspurigem Führungsgestus und der deutlich bescheideneren Wirklichkeit verschluckte nach und nach das politischen Kapital von New Labour. Es war vor allem auch ihre geradezu besessene Fixierung auf kurzfristige Ziele, auf Medienkonjunkturen und öffentliche Stimmungen, auf Umfragedaten und Fokusgruppen, auf Oberfläche statt Substanz, die diese Regierung nach und nach viel Kredit kostete. Hohle Gesten und zappelige Symbolpolitik ersetzten in den ersten Jahren immer wieder vorausschauende Politik. New Labours ständige Tendenz, nicht weiter zu denken als bis zur nächsten Schlagzeile, dies aber jeweils mit aller Macht, beschreibt Andrew Rawnsley in immer neuen Wendungen. "It is the defining image of the government", zitiert er einen der engsten Berater des Premierministers. "Tony sits there at the Monday morning strategy meetings screaming: "What are we doing about health? What are we doing about crime? What are we doing about transport?" And nothing happening." Ständig wurden neue Ziele definiert, "Modernisierungskommissare" ernannt und Prioritäten gesetzt. Doch wo man alles zur Priorität erklärt, hat am Ende überhaupt nichts mehr Vorrang.
Die giftige Melange aus "control freakery and spin" verwandelte die Regierung in eine "convention of paranoiacs". Das für die Blairisten charakteristische Gemisch aus Arroganz und panischer Unsicherheit hatte seine Ursache in deren neurotischer Angst davor, auch nur im Geringsten mit der langen Vorgeschichte der Labour Party in Verbindung gebracht zu werden, die sie für eine einzige Abfolge von Misserfolgen hielten. Doch die zuweilen brutale Besessenheit, mit der die Gruppe um Blair diese Vergangenheit auszutreiben trachtete, schuf vielfach überhaupt erst die Widerstände gegen den angeblich alternativlosen Modernisierungskurs, mit denen sich die Blairisten dann wieder herumschlagen mussten. So war es zum Beispiel in London, wo der Altlinke Ken Livingstone im vergangenen Jahr die Bürgermeisterwahl gegen den Kandidaten des Parteiestablishments vor allem deshalb haushoch gewann, weil er weithin als unerschrockender Rebell gegen eine abstoßend sterile Machtmaschine ohne Bodenhaftung wahrgenommen wurde.
Heute ist der pure Markt das Ancien régime
"We are still too trapped in the eighties", hat Peter Mandelson vor einiger Zeit in einem kontemplativen Augenblick eingeräumt - und lag damit genau richtig: Es sind tatsächlich die Konflikte ihrer jungen Jahre, die Politiker oft lebenslang prägen. Noch immer ist es das Bestreben, nur um jeden Preis nicht mehr so zu sein wie Old Labour, wie die linke Verliererpartei von einst, das New Labour antreibt. Nur haben sich, verstärkt noch seit dem 11. September 2001, die Zeiten geändert. Von immer weniger Staat, immer mehr Privatisierung und immer niedrigeren Steuern lassen sich die wenigsten Briten heute noch beeindrucken. England ist nicht Amerika, und die Vergangenheit ist ein fremdes Land. Wenn "mehr Staat" bedeutet, dass die Züge pünktlich fahren - was soll dann so schlecht sein an "mehr Staat"? Was eigentlich spricht gegen öffentliche Dienste, die funktionieren? Inzwischen ist die einst revolutionäre Ordnung des freien Marktes ihrerseits zum fragwürdigen Ancien régime geworden. Doch diese Wendung des öffentlichen Bewusstseins haben die Blairisten, politisch herangereift in der Ära Thatcheristischer Hegemonie, nicht rechtzeitig registriert. Jetzt sehen sie ideenpolitisch ziemlich alt aus, und revolutionäre Rhetorik hilft ihnen nicht mehr weiter.
Die Modernisierten nach der Macht
Das alles arbeitet Andrew Rawnsley bestechend scharf heraus. Sein Buch wirft wichtige Fragen auf. Weitaus rücksichtsloser als die deutschen Sozialdemokraten hat New Labour unter Tony Blair seine Erfolge gleichsam mit dem Mittel des entschlossenen Verheizens der eigenen Parteivergangenheit erzielt. Bis zur Unkenntlichkeit hat sich die Partei gewandelt und kann sich der Loyalität ihrer einstigen Anhänger in den verwaisten und abgekoppelten Labour heartlands längst nicht mehr sicher sein. Tony Blair hat Recht: Wohl nur noch Macht und Erfolg halten die Labour Party heute zusammen. Aber wie nachhaltig und zukunftstauglich - und wie zynisch - ist eigentlich ein elitengesteuerter Modernisierungskurs, dessen Erfolge überhaupt nur durch das Ausschlachten der langfristig gewachsenen Organisations- und Loyalitätsressourcen einer Partei möglich werden? Und was wird von solchermaßen modernisierten Parteien wohl noch übrig bleiben, wenn sie ihre Macht eines Tages wieder verlieren werden?
Servants of the People ist ein implizites Plädoyer für einen ernsthaften No-nonsense-Regierungsstil und eine verantwortliche Modernisierungspolitik. Es enthält die auch für andere Parteien und politische Systeme bedeutsame Mahnung, nicht vor den vermeintlichen Zwängen von Mediokratie und Spindoctortum in die Knie zu gehen. Insofern mögen deutsche Leser dieses Buch - gewissermaßen im Umkehrschluss - durchaus als Gebrauchsanweisung für einen wohlverstandenen Politik- und Modernisierungsstil der ruhigen Hand lesen: Ein klarer Richtungssinn und die Bereitschaft, Risiken einzugehen, hätten alle herausragenden Premierminister ausgezeichnet, schreibt Rawnsley. "Without that, governments become the victims of events, at the mercy of the media, and the playthings of the fluctuating passions of public opinion." Wer genau wissen will, wie Modernisierungspolitik jedenfalls nicht funktioniert, der sollte dieses Buch unbedingt lesen.
Andrew Rawnsleys ist nicht weniger gelungen als ein meisterliches Stück jenes literarischen Genres, das Timothy Garton Ash treffend "History of the Present" genannt hat. Ein deutscher Verleger wird sich dieses wunderbaren Buches nicht annehmen. Das ist schade, aber nachvollziehbar; einen Markt für die Übersetzung gäbe es hierzulande wohl nicht. Viel bedauerlicher noch ist allerdings, dass anschauungsgesättigte politische Analysen dieser Qualität in Deutschland weit und breit nicht zu entdecken sind. Oder schreibt doch schon irgendwer heimlich am großen Buch der Neuen Mitte? An der Zeit dafür wäre es.
Andrew Rawnsley, Servants of the People: The Inside Story of New Labour, aktualisierte Neuauflage, London: Penguin 2001, 568 Seiten, 7,99 Pfund
Franz Walter, Politik in Zeiten der neuen Mitte: Essays New York u.a.: Verlag Peter Lang 2001, ca. 200 Seiten