Bildung ist der reinste Hürdenlauf
Vor wenigen Wochen sorgten die internationalen Grundschulstudien „Timms“ und „Iglu“ für positive Meldungen in den deutschen Medien. „Deutsche Grundschüler im oberen Drittel“, titelte tagesschau.de. Und die Frankfurter Allgemeine Zeitung feierte: „Deutsche Viertklässler überdurchschnittlich gut“. Endlich gab es einmal gute Neuigkeiten aus der angeknacksten Bildungsrepublik – zumindest war das die Hoffnung.
In Wirklichkeit waren die Ergebnisse nicht überraschend. Denn schon die Timms- und Iglu-Studien aus den Jahren 2001 und 2006 waren zu ähnlich guten Resultaten gekommen. Was neu war: Der positive Trend, der seit elf Jahren zu beobachten ist, wurde in zahlreichen Bereichen wie dem Lesen nicht weiter fortgesetzt. Dass wir diesen Stillstand dennoch feiern, zeugt mehr von einem Wunsch nach Verbesserung des Bildungssystems als von einer tatsächlichen Veränderung. Das ist verständlich, schließlich hat sich knapp zwölf Jahre nach dem allseits bekannten PISA-Schock kaum etwas verändert.
Für viele Kinder und Jugendliche – allen voran jene Schülerinnen und Schüler mit Zuwanderungsgeschichte und aus sozial schwächeren Familien – stellt das deutsche Bildungssystem weiterhin ein Hürdenlauf dar. Statt Hindernisse abzubauen, verschärfen sich Benachteiligungen während der Schullaufbahn. Von einer besseren Durchlässigkeit kann nicht die Rede sein. Für uns als junge Generation stellt sich daher die Frage: Was bildet ihr uns ein?
Für Kinder der vierten Klasse zeigen die aktuellen Studien Timms und Iglu, die neben Mathematik und Naturwissenschaften auch die Lesekompetenz unter die Lupe nahmen, welche Hürden noch bestehen. Weil die Leseleistungen der Schüler rückläufig sind, gehen die Wissenschaftler davon aus, dass etwa 15 Prozent der Schüler im Verlauf ihrer Schulzeit in der Sekundarstufe mit erheblichen Schwierigkeiten rechnen müssen – und zwar in allen Fächern. In Mathematik und Naturwissenschaften ist es sogar fast jedes fünfte Kind.
Besonders deutlich wird der Hürdenlauf bei Schülern mit Zuwanderungsgeschichte. In Mathematik, Naturwissenschaften und beim Lesen besteht ein erheblicher Leistungsvorsprung von Schülern, deren Eltern in Deutschland geboren sind. Dieser Umstand ist keinesfalls ausschließlich auf die Kinder mit Migrationshintergrund zurückzuführen. In vergleichbaren europäischen Staaten existieren keine derart starken Leistungsunterschiede zwischen den beiden Schülergruppen. Folglich gelingt es im Ausland häufig besser, Schüler mit Zuwanderungsgeschichte zu fördern.
Aber auch diese Hürden sind kein Novum. Bereits vorangegangene Studien machten deutlich, dass Schüler mit Zuwanderungsgeschichte im deutschen Bildungssystem benachteiligt werden. Dennoch hat sich nichts verändert. Schon längst müsste das Wortanhängsel „Migrationshintergrund“ durch „Migrationsvordergrund“ ersetzt werden. Denn die (vermeintliche) Herkunft geht im Schulalltag ja gerade nicht unter, sondern prägt den Bildungsweg.
Mittlerweile hat etwa jeder vierte Schüler einen Migrationshintergrund. Auf Hauptschulen sind die Jugendliche dieser Gruppe etwa doppelt so häufig anzutreffen wie Jugendliche ohne Migrationshintergrund. Auf Gymnasien gehen sie hingegen selten, auch weil sie wesentlich seltener eine entsprechende Empfehlung erhalten als ihre deutschen Mitschüler. Dass dieser Fall auch dann eintritt, wenn beide Schülergruppen dieselben Noten und die gleiche soziale Herkunft aufweisen, haben mehrere Studien anschaulich gezeigt.
Wir brauchen viel mehr „minority teachers“
Das bedeutet: Bei Kindern mit Zuwanderungsgeschichte wird mit zweierlei Maß gemessen. Systematisch wird übersehen, dass gerade Jungen und Mädchen aus anderssprachigen Haushalten wesentlich mehr leisten müssen, um dieselben Leistungen wie ihre muttersprachlichen Mitschüler zu erbringen. Es erfordert eine hohe Anstrengung, den Lernstoff in der Zweitsprache aufzunehmen und darin zu arbeiten.
Umso erstaunlicher ist es, wie wenig systematische Unterstützung diese Kinder und Jugendlichen von ihren Schulen erfahren, wenn es um die deutsche Sprache geht. So führen laut einer aktuellen Studie der Universität Köln lediglich 39 Prozent der befragten Lehrkräfte aktiv Sprachfördermaßnahmen durch, obwohl 71 Prozent dieser Lehrkräfte angeben, Schüler mit Sprachförderbedarf zu unterrichten. Angesichts der Tatsache, dass lediglich in Nordrhein-Westfalen und Berlin die Auseinandersetzung mit Deutsch als Zweitsprache (DaZ) im Rahmen der Lehrerausbildung verpflichtend ist, verwundert dieses Ergebnis nicht. Die überwiegende Mehrheit der befragten Lehrkräfte fühlt sich im Rahmen ihrer Ausbildung nicht ausreichend auf den Umgang mit sprachlich oder kulturell heterogenen Klassen vorbereitet.
Inzwischen gewinnt die Forderung, mehr Lehrkräfte mit Migrationshintergrund auszubilden, an Unterstützung. Ein Blick in die bundesdeutschen Lehrerzimmer offenbart ein anderes Bild: Fast jeder vierte Schüler hat eine Zuwanderungsgeschichte, aber nur ein bis drei Prozent der Lehrer sind minority teachers. Ein Missstand, der von Wissenschaft, Politik und Interessenverbänden lange unberücksichtigt blieb. Erst vor wenigen Jahren rückte das Thema stärker in den Fokus. Zu Recht: Es besteht die Hoffnung, dass Lehrer mit Migrationshintergrund eine Vorbildfunktion einnehmen und aufgrund einer sprachlich-kulturellen Nähe beziehungsweise ähnlichen Erfahrungen eine positivere Lehrer-Schüler-Beziehung aufbauen können. Studien aus dem anglo-amerikanischen Raum deuten auf solche Vorteile hin.
Aber nicht nur für Kinder und Jugendliche mit Zuwanderungsgeschichte hält das Bildungssystem enorme Hürden bereit. Auch Arbeiterkindern wird der Bildungsweg häufig erschwert. Diese Erkenntnis wurde seit der Veröffentlichung der ersten PISA-Studien in Politik, Wissenschaft und Praxis ausgiebig diskutiert – zum Positiven verändert hat sich seitdem jedoch nur wenig. Heute sind die Chancen auf eine Gymnasialempfehlung für ein Kind, dessen Eltern der oberen Dienstklasse zugeordnet werden können, 3,4 Mal so hoch wie die eines Facharbeiterkindes. Wohlgemerkt – und hier kommt die empörende Ungerechtigkeit zutage – bei gleichen Leistungen und Fähigkeiten! Laut Timms und Iglu wurde die enge Kopplung zwischen sozialer Herkunft und Schulempfehlung mitnichten aufgebrochen, stattdessen hat sich diese Situation in den letzten zehn Jahren sogar verschärft. Das ist ein Umstand, der an den Grundfesten unserer meritokratischen Gesellschaftsordnung rüttelt.
Schlimmer noch: Nur wenige Bürger nehmen die beschriebenen Hürden überhaupt wahr. Die Mehrheit lebt nach dem Credo „Jeder ist seines Glückes Schmied“. Ein Motto, das mehr als 80 Prozent der 18 bis 35-Jährigen befürworten, wie eine Umfrage der Zeitschrift Neon im vergangenen Jahr ergab. Die Redewendung täuscht darüber hinweg, dass es real existierende Hürden gibt, an denen täglich viele Kinder und Jugendliche scheitern. Darüber hinaus wird allzu oft vergessen, was mit denjenigen passiert, die an den Barrieren scheitern, die im System angelegt sind. Nicht selten empfinden die Betroffenen ihr Scheitern als eigenes Versagen – ein Fehlschluss, der häufig sogar Auswirkungen auf das künftige Selbstverständnis hat.
Dieses Problem wird in extremer Form an Hauptschulen deutlich. Dort lernen Schüler, denen beigebracht wurde: Ihr seid nicht gut genug! Die Hauptschüler wurden aussortiert und für nicht gut genug befunden, auf eine Realschule oder auf ein Gymnasium zu gehen – vor allem eben Kinder mit Migrationshintergrund und Arbeiterkinder. Die Stereotype, „faul und dumm“ zu sein, werden ihnen von den Medien und der Gesellschaft immer wieder vorgehalten.
Höchste Zeit für die Bildungsrevolution
Aus diesen Gründen ist es wichtig anzuerkennen, dass es im Bildungssystem Hürden gibt, und offen über sie zu sprechen. In einer Leistungsgesellschaft ist das kein leichter Schritt, denn er könnte die Erkenntnis zur Folge haben, dass der eigene Bildungsweg nahezu hürdenlos verlief. Aber um ihr eigenes Selbstbild korrigieren zu können, müssen benachteiligte Schüler erfahren, dass systematische Hürden existieren. Dann vermögen sie die ihnen vorgegebenen Laufbahnen leichter zu durchbrechen.
Nur wenige Kindern oder Jugendliche können auf höhere Schulformen wechseln. Das ergab eine Studie der Bertelsmann Stiftung aus dem Jahr 2012. Für die überwiegende Mehrheit, etwa 60 Prozent, ist der Wechsel der Schulform ein Abstieg. Nur 27 Prozent der Wechsler gelingt der Aufstieg in eine höhere Schulform. In nahezu allen Bundesländern zeigt sich, dass gerade das Gymnasium während der Sekundarstufe I nur sehr wenige Schulformwechsler aufnimmt. Die Durchlässigkeit des mehrgliedrigen Systems gilt also primär für den Weg nach unten. Das ist die falsche Richtung!
Die Bildungsmisere hat uns veranlasst, im vergangenen Jahr das Buch Was bildet ihr uns ein? Eine Generation fordert die Bildungsrevolution zu publizieren, woraus sich eine überparteiliche Initiative für ein gerechtes Bildungssystem entwickelt hat. Die Forderung nach einer Bildungsrevolution erscheint vielen radikal. Dabei können wir angesichts der aktuellen Bildungssituation und der fehlenden Verbesserung in den vergangenen Jahrzehnten kaum radikal genug sein. Eine demokratische Gesellschaft kann nur als solche fortbestehen, wenn sie jedem Gesellschaftsmitglied die gleichen Rechte und Möglichkeiten zugesteht. Aus diesem Grund muss sie sich dafür einsetzen, dass nicht mehr das Schicksal oder die Herkunft über Lebenschancen entscheidet, sondern jedes einzelne Gesellschaftsmitglied selbst.