Bundesstaat und Bundesfinanzen: Was will die SPD?

Die Regierungschefs der Bundesländer haben Eckpunkte zur Neuordnung der Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern vorgelegt. Ob die SPD im Bund diesen Vorschlägen folgen will, muss sie sich gründlich überlegen. Um welche Fragen geht es?

Zehn Jahre nach der Verabschiedung der Föderalismusreform I und fünf Jahre nach dem Inkrafttreten der Föderalismusreform II schicken sich die Länder an, eine Föderalismusreform III durchzusetzen. Die Stufen I (2006) und II (2009) hatten das Herzstück eines handlungs- und leistungsfähigen Staates – die Steuerverteilung und den Finanzausgleich – unangetastet gelassen. Der Koalitionsvertrag von Union und SPD sieht keine Föderalismusreform III vor, sondern lediglich Weichenstellungen im Hinblick auf das Auslaufen des Solidarpaktes („Aufbau Ost“) und des Finanzausgleichsgesetzes im Jahr 2019. „Dazu finden zwischen Bund und Ländern Gespräch statt“, heißt es. Nun haben die Regierungschefinnen und -chefs der Länder Eckpunkte zur Neuordnung der Finanzbeziehungen beschlossen. Diese sind mit dem Bund jedoch bisher nicht abgestimmt.

Wie der Bundesstaat zustande kam

Was wollen in dieser Lage die Parteien? Für die SPD ist diese Frage von besonderer Bedeutung. Denn zum einen regiert sie in den meisten Ländern (mit), zum anderen waren bei den Bundesstaatsreformen 2006 und 2009 die damaligen Fraktionsvorsitzenden Franz Müntefering und Peter Struck die Vorsitzenden der beiden Kommissionen zur „Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung“ und der „BundLänder-Finanzbeziehungen“, die beide Gesetzespakete ausgearbeitet haben. Dabei hilft es, sich die langen Linien zu vergegenwärtigen.

Die Ausgangssituation nach dem Zweiten Weltkrieg beschreibt Konrad Adenauer, der 1949 im Westen Deutschlands zum ersten Kanzler gewählt wurde, in seinen Memoiren: „Die Franzosen drängten auf einen möglichst lockeren Zusammenschluss aller Länder und möglichste Schwächung der Zentrale, das heißt des Bundes. General Clay trat für ein System ein, das der amerikanischen föderativen Verfassung entsprach. General Robertson, der Sprecher der Engländer, war, soweit mit dem föderativen Prinzip vereinbar, mit einer stärkeren Zentralisierung einverstanden. Die Haltung der CDU/CSU kam der Auffassung General Clays am nächsten. Die Länder sollten ein großes Maß an Selbständigkeit gegenüber dem Bund erhalten. Diese Selbständigkeit durfte jedoch nicht so weit gehen, dass der künftige Bund dadurch handlungsunfähig gemacht würde … Die SPD trat dafür ein, dass dem Bund mehr Macht gegeben werden müsse, als dies in den Dokumenten der Alliierten gekommen war … vor allem auf dem Gebiet der Finanzen.“ (zitiert nach Kurt Wedl, Der Gedanke des Föderalismus in Programmen der politischen Parteien Deutschlands und Österreichs, 1969).

Demgegenüber schreibt sein sozialdemokratischer Widerpart Kurt Schumacher in seinem Vorwort zum Aktionsprogramm der SPD von 1952: „Die Probe auf das Exempel war die Schaffung des Grundgesetzes von 1949. Wenn es nach … der Haltung der Parteien gegangen wäre, die heute die Bundesregierung bilden …, dann wäre ein neuer Rheinbund entstanden, wie ihn mindestens zwei der drei westlichen Alliierten gewollt haben. Nur durch die Sozialdemokratie ist ein Grundgesetz zustande gekommen, das diese Bundesregierung überhaupt erst funktionsfähig gemacht hat.“

Spät entdeckt die SPD die Leistungen der Länder

Unter dem Eindruck der Wahl- und Regierungserfolge der Union nahm die SPD nicht nur das Ganze, sondern auch seine Teile – die Länder und die Gemeinden – in den Blick. Im Godesberger Programm von 1959 heißt es: „Die großen Leistungen der deutschen Länder und Gemeinden, vor allem der unter sozialdemokratischer Führung stehenden, werden von der Bundesregierung einfach verleugnet.“

Und weiter: „Die Gliederung der öffentlichen Gewalt in Bund, Länder und Gemeinden soll die Macht verteilen, die Freiheit stärken und dem Bürger durch Mitbestimmung und Mitverantwortung vielfach Zugang zu den Institutionen der Demokratie geben. Bund, Länder und Gemeinden müssen sich zu einem gleichgerichteten und aufeinander abgestimmten Verhalten bereitfinden. … Die bundesstaatliche Struktur der Bundesrepublik muss zur Lösung gemeinsamer, in hohem Maße europäisch und international verzahnter Probleme entschlossen im Sinne eines kooperativen Föderalismus reformiert werden. … Eine solche Reform … muss vom politischen Gestaltungswillen der im Bundestag und in den Landtagen vertretenen demokratischen Parteien getragen werden.“

In den beiden Phasen der Bundesrepublik bis zur Wiedervereinigung Deutschlands – sozusagen bis zur und nach der ersten Großen Koalition 1966 bis 1969 – ging es in Bezug auf die Staatsorganisation vor allem um die Wehrverfassung (1956) im Gefolge der Westintegration und um die Notstandsverfassung (1968) im Zuge der Ostpolitik. Weniger im kollektiven Gedächtnis verankert, doch umso folgenreicher waren die Reformen der Finanzverfassung und die Einführung der so genannten Gemeinschaftsaufgaben (1953, 1954 und 1955 sowie 1969).

Handlungsfähige Länder, handlungsfähiger Bund

Die Wiedervereinigung fand demgegenüber keinen unmittelbaren Niederschlag im Grundgesetz: Die ehemalige DDR trat (in Verbindung mit dem Einigungsvertrag) der Bundesrepublik beziehungsweise dem Grundgesetz bei. Der „Fonds Deutsche Einheit“, die Solidarpakte I und II und diverse Anpassungen des Systems der Steuerverteilung und des Finanzausgleichs erfolgten durch einfache Gesetze, das heißt ohne das Erfordernis einer Zwei-Drittel-Mehrheit in Bundestag und Bundesrat.

Diese Maßnahmen trugen bis zum ersten vollständigen Regierungswechsel in der Geschichte der Bundesrepublik 1998 und bis zur Bildung der ersten Großen Koalition des wiedervereinten Deutschlands im Jahr 2005. Die nach früheren Anläufen der Länder und vor allem im Kontext der europäischen Integration beschlossene Föderalismusreform wurde im Deutschen Bundestag gegen die Stimmen von Bündnis 90/Die Grünen und der Linkspartei und bei Enthaltung der FDP beschlossen.

Die Interessen und Rollen der Akteure folgten weniger den Programmen ihrer Parteien als deren Geschichte in Regierung beziehungsweise Opposition, das heißt im Falle der Union und der SPD den Erfahrungen in der Ära Kohl und in der Ära Schröder. Im Hamburger Programm der SPD, das 2007 an die Stelle des Berliner Programms von 1989 trat, stand passend zum Handeln der vom Bund gestellten Vorsitzenden der beiden Kommissionen I und II Franz Müntefering und Peter Struck: „Wir wollen handlungsfähige Länder in einem handlungsfähigen Bund. Dabei muss immer erkennbar sein, wer wofür verantwortlich ist. … In einem föderalen Staat gilt Subsidiarität: Nur was die kleinere Einheit nicht leisten kann, übernimmt die größere. … Die solidarische Bürgergesellschaft hat ihren Ort vor allem in den Kommunen. Sie sind es, die für die Daseinsvorsorge verantwortlich sind und den Alltag der Menschen prägen. … Eine solide Finanzpolitik heißt für uns, dass wir heute nicht auf Kosten zukünftiger Generationen leben. … Wir müssen die Verschuldung der öffentlichen Haushalte senken und gleichzeitig mehr Geld in Bildung, Forschung und Infrastruktur investieren.“ Die Bundesstaatsreform der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts ist unbestritten und belegbar ein Erfolg – einschließlich der Komplettierungen von 2010 und 2014 im paradigmatisch weiterentwickelten Abschnitt VIII a. des Grundgesetzes über Gemeinschaftsaufgaben und Verwaltungszusammenarbeit. Zur Frage, was nun folgt, beschränkt sich die SPD-Bundestagsfraktion in ihrer Halbzeitbilanz der aktuellen Legislaturperiode auf Aussagen zu „Mehr Investitionen ohne neue Schulden“ und den Ausblick: „Mit dem Ende des Solidarpaktes 2019 steht eine Neuordnung der Finanzbeziehungen von Bund, Ländern und Gemeinden an. Wir setzen uns für ein solidarisches Gemeinwesen und gleichwertige Lebensverhältnisse ein.“

Heißt das, die SPD wird den Ländervorschlag durchwinken? Was muss die SPD beachten, um Linie zu halten?

Erstens: Um den Finanzausgleich nach dem Auslaufen des Solidarpaktes fortzusetzen, kann man mit den Regelungen des Grundgesetzes in Artikel 106 und 107 weiterarbeiten. Man müsste nur einfache (Ausführungs-)Gesetze anpassen, besonders was die Überwindung verbliebener oder die Bekämpfung neuer regionaler Ungleichgewichte angeht.

Zweitens: Um sich auf die Jahre nach 2020 vorzubereiten, braucht man Daten, die zurzeit nicht vorliegen. Zu unberechenbar ist die innere und äußere Lage der Bundesrepublik. Alles spricht für eine zeitnahe Entscheidung 2018/19.

Prämissen und Folgen des Ländervorschlags

Drittens: Möchte man dennoch im Jahr 2016 oder 2017 entscheiden, wäre ein seriöses Gesetzgebungsverfahren zu gewährleisten: Es bräuchte einen Entwurf für die weitreichenden Änderungen des Grundgesetzes und die zahlreichen Änderungen einfacher Gesetze, die der Ländervorschlag erwarten lässt, die übliche, juristisch und finanzwirtschaftlich fundierte Begründung und – im Laufe des Verfahrens – eine Anhörung von Sachverständigen. Bisher ist der Vorschlag ein Produkt der Bürokratie.

Viertens: Obgleich eine solche prüffähige Grundlage derzeit fehlt, sind einige Prämissen und Konsequenzen des Ländervorschlags mit den Händen zu greifen:

•    Für die Abschaffung des Länderfinanzausgleichs (einschließlich des so genannten Umsatzsteuervorwegausgleichs) und seine Integration in die Verteilung des Länderanteils an der Umsatzsteuer sollen die Länder zusätzlich Umsatzsteuerpunkte vom Bund erhalten. Dies geht zu Lasten des Bundes.

•    Die Berücksichtigung der kommunalen Finanzkraft bei der Berechnung der Finanzkraft eines Landes in einem höheren Umfang als bisher soll durch eine zusätzliche Bundesergänzungszuweisung kompensiert werden.

•    Damit kein Land schlechter dasteht als bisher, werden weitere Bundesergänzungszuweisungen kreiert; vorhandene Transfers zwischen Bund und Ländern sollen zum Teil prolongiert, zum Teil aufgestockt werden.

•    Beim Bundesanteil an der Umsatzsteuer erhöht sich der Druck; denn das System soll die „Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse“ wahren. Die Verringerung des Bundesanteils geht zulasten anderer „Deckungsbedürfnisse des Bundes“ (vgl. Artikel 106 Abs. 3 Satz 4 Nr. 2 GG).

•    Die Bund-Länder-Finanzbeziehungen vertikalisieren sich weiter – nicht nur in quantitativer, sondern vor allem auch in qualitativer Hinsicht: Zwar bleiben die Länder mangels Steuerautonomie nur „hinkende“ Gliedstaaten, aber die finanzschwachen Länder werden vollends abhängig vom Bund. Von seinem Wohl und Weh wird abhängen, ob die Lebensverhältnisse in Deutschland weiter auseinanderdriften.

Fünftens: Die Stärkung des Föderalismus auf beiden Ebenen (Bund und Ländern) wird konterkariert. Auf Dauer könnten die Länder zu regionalen Selbstverwaltungskörperschaften schrumpfen; im Vier-Ebenen-System (einschließlich Europa) könnten die Gemeinden die Gewinner sein.

Ob der Bund das – auch als Treuhänder des Gesamtstaates – will, muss er sich genau überlegen. Auf keinen Fall sollte sich der Deutsche Bundestag ausschalten lassen, zumal sich eine Neujustierung der National- und Sozialstaatlichkeit in Europa und seinem Umfeld aufdrängt; sie erfordert zwingend die Handlungs- und Leistungsfähigkeit der Bundesebene und des Parlaments. Zumindest ginge dies nicht ohne eine Refinanzierung über die Effizienzverbesserung des Steuervollzuges (Artikel 108 GG) und die Rückführung der Zustimmungsquote bei der Steuergesetzgebung (Artikel 105 GG).


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