Das eigentümliche Parteiensystem des deutschen Ostens
Sieht man nur auf die Parteinamen, so scheinen die neuen Bundesländer das gleiche Parteiensystem zu haben wie die alten. Blickt man aber auf die Wahlergebnisse, so erkennt man einen zentralen Unterschied: die Rolle der Linkspartei. Und achtet man auf die Wahlgeschichte, dann zeigt sich noch eine Differenz am rechten Rand des politischen Spektrums. Woher kommt das alles?
Natürlich haben diese Unterschiede mit der Wiedervereinigung zu tun, zumal mit den – durch Deutschlands Teilung und die SED-Diktatur – so lange unterschiedlichen politischen Kulturen der zwei deutschen Staaten. Wichtig sind auch die Weichenstellungen bei der Neugründung der Demokratie in Ostdeutschland. Diese lösten pfadabhängige Prozesse aus, deren Folgen die Gegenwart prägen.
Vor allem spielt die Kontinuität der Parteigeschichte eine große Rolle. Zum Beispiel überlebte die im heutigen Ostdeutschland so traditionsreiche SPD ihre Zwangsumarmung durch die KPD nicht. In der Spätphase der DDR entstand sie deshalb neu, sogar unter anderem Namen. Ihrer ostdeutschen Mitgliederstruktur merkt man diesen Einschnitt bis heute an, am deutlichsten im einstigen „Roten Königreich“ Sachsen: die Partei der Arbeiter und kleinen Leute ist (nicht nur hier) die CDU. Neugründungen waren auch jene Bürgerrechtsbewegungen, die im Vorfeld und Verlauf der Friedlichen Revolution entstanden. Etliche von ihnen wurden als „Bündnis 90“ zum ostdeutschen Zweig der Grünen. Auch sie haben es nicht geschafft, flächendeckende Mitgliederstrukturen aufzubauen.
Linkspartei und CDU: Brücken zur Vergangenheit
Doch zwei Parteien bewahrten eine Form von Kontinuität, obwohl sich die Gesellschaft tiefgreifend wandelte. Die SED, die später zur PDS und dann zur Linkspartei wurde, war der Identifikationskern derer, die nach dem Verlust des von ihnen geschätzten Staates politisch heimatlos geworden waren. Und sie nutzte ihre Chance als „Kümmererpartei“ für jene, die beim ostdeutschen Umgestaltungsprozess wirklich oder gefühlt unter die Räder kamen. Obendrein ermöglichte sie es, dass sich Reformsozialisten – unter bundesdeutschen Handlungsbedingungen – als tüchtige Kommunal- und Landespolitiker bewähren konnten. Dazu trug auch die anfängliche Weigerung der SPD bei, ehemalige SED-Mitglieder aufzunehmen. Auf diese Weise verblieb viel politisches Talent in der PDS, und im Laufe der Jahre erfüllte die verwandelte SED eine wertvolle Integrationsfunktion im neuen System.
Ganz offensichtlich besteht die Brücke zur Vergangenheit auch bei der CDU. Von der westdeutschen Union als „Ost-CDU“ zunächst nicht gern zum eigenen Lager gerechnet und 1990 in der „Allianz für Deutschland“ noch fadenscheinig versteckt, wurde sie – da sie bei Wahlen erfolgreich war – zum wechselseitigen Vorteil in die bundesdeutsche CDU integriert. Vor allem der Zustrom neuer Mitglieder, zumal aus dem „Demokratischen Aufbruch“, und eine gerade auch ihnen zu verdankende personelle Erneuerung beschleunigten den Wandel weg von der SED-hörigen Block- hin zu einer attraktiven Volkspartei.
Die ostdeutsche SPD: immer zweifach bedroht
Heute bilden Union und Linkspartei die schwergewichtigen Konstanten im ostdeutschen Parteiensystem. Wo die CDU allein oder als führende Koalitionspartei regieren konnte, wurde die SPD zwischen ihr und der Linkspartei in die Zange genommen. Doch selbst wo die SPD stark war (teils aus eigener Kraft wie in Brandenburg, teils aufgrund einer schwachen CDU wie zunächst in Sachsen-Anhalt und später in Mecklenburg-Vorpommern), ist sie zweifach bedroht: von der Linkspartei, die stets klarer und attraktiver als eine regierende SPD fordern kann, was im Grunde auch sozialdemokratische Vision ist, und von der CDU, wenn diese sich als Sachwalterin wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Vernunft in Szene zu setzen vermag. Was mit der SPD geschieht, wenn sie als Juniorpartner der Linkspartei fungiert, könnte bald in Thüringen zu beobachten sein.
In der Mitte zwischen den erfolgreichen Kontinuitätsgeschichten von CDU und Linkspartei sowie den Neugründungen mit ihren Schwierigkeiten steht die FDP. An ihr erkennt man sehr gut einen weiteren Prägefaktor des neuen Parteiensystems: Mit LDPD und NDPD bildeten gleich zwei DDR-Parteien den Grundstock der ostdeutschen FDP. Vor allem auch die LDPD stand in der Tradition des deutschen (National-)Liberalismus, der jedoch durch eine SED-Hörigkeit überformt worden war. Sie brachte nicht nur sehr viele Mitglieder, sondern auch zahlreiche kommunale Mandatsträger mit in die fortan gesamtdeutsche Partei – eine Tatsache, die bis heute nachwirkt. Doch im Grunde verband allein das Etikett „liberal“ die west- und ostdeutschen Parteiteile. Die westdeutsche FDP hatte sich längst zu einer sozialliberalen Partei entwickelt und von den im Osten weiterwirkenden (national-)liberalen Traditionen entfernt. Dass der westdeutsche Parteiteil seinen ostdeutschen Annex auch aufgrund schwacher ostdeutscher Wahlergebnisse dominierte, trug erst recht zum Schrumpfen von dessen Mitgliederzahl und Wählerpotenzial bei.
Parteiensystem ohne stabile Strukturen
Zwar war auch die Ost-CDU unter die Fittiche einer westdeutschen Partei geschlüpft. Doch gewann sie – mit Ausnahme von Brandenburg – in den neuen Bundesländern alle Gründungswahlen. Das verlieh eigene Macht, so dass die langjährigen Regierungschefs von Sachsen und Thüringen zu auch im Westen angesehenen Schwergewichten der gesamtdeutschen Partei werden konnten. Die Attraktivität der Union bei ostdeutschen Wählern, die zunächst nicht der Ost-CDU selbst, sondern dem „Kanzler der Einheit“ zu verdanken war, wurde somit durch eigene Leistungen erneuert und verstetigt. Ähnliches gelang der ostdeutschen SPD dort, wo sie – teils dank überzeugender Führungsfiguren wie Manfred Stolpe, teils aufgrund der Schwäche der Union – erhebliche Wahlerfolge errang.
Den ostdeutschen Bündnisgrünen hingegen nützte es wenig, dass sie zwischen 1990 und 1994 im Bundestag allein die Fahne ihrer Bindestrich-Partei hochhielten. Wie bei der FDP unterschied sich der ostdeutsche Teil der Partei nach Prägung, Zielen und politischer Raffinesse zu sehr vom westdeutschen, um eine erfolgreiche Rolle spielen zu können. Und anders als die SPD wurde das Bündnis 90 nicht durch gute Wahlergebnisse oder im Westen akzeptierte Führungsfiguren gestärkt.
Hinter all diesen Parteigeschichten steht ein Wechselspiel von „virtuellem“ und „realem“ Parteiensystem. Von der freien Volkskammerwahl bis zu den Landtagswahlen im Herbst 1990 orientierten sich die Wähler viel weniger an den in Ostdeutschland bestehenden, sich im Umbruch befindlichen Parteien, als vielmehr an deren westdeutschen „Paten“. Diese waren dank allabendlicher „Wiedervereinigung vor dem Fernsehschirm“ längst bekannt. Ihre Anführer prägten die ostdeutschen Wahlkämpfe, und das organisationspolitische Kernanliegen bestand darin, jenes Parteiensystem nun auch im Osten „nachzubauen“. Anders hielten es nur die „Abwehr-Wähler“ der PDS.
So entstand ein Parteiensystem, das noch gar nicht auf eigenen, gar festen Strukturen ruhte, sondern diese – selbst im Fall der ehemaligen Blockparteien – erst noch schaffen musste. Wie gut das gelingen konnte, hing vom Ausgang der Gründungswahlen ab, die ihrerseits wesentlich von der Attraktivität westdeutscher Partnerparteien geprägt wurden. Das ostdeutsche Parteiensystem begann gewissermaßen als oberflächliche „Kopie“ des westdeutschen Parteiensystems zuzüglich der PDS, und es konkretisierte sich zunächst in den Landesparlamenten. Von diesen aus durchdrang es die Wahlkreise der Parlamentarier und verfestigte sich.
Das geschah aber nur teilweise. Anders als ihre Kollegen von der PDS wollten viele Abgeordnete von CDU, SPD und Bündnisgrünen eine Verantwortung als regionale Parteiführer nicht akzeptieren. Selbst wenn sie dies als eine ihrer Pflichten erkannten, wurden sie – besonders in regierungstragenden Fraktionen – von den gewaltigen gesetzgeberischen Aufgaben der ersten Wahlperiode aufs Äußerste gefordert. Außerdem sanken bei PDS, CDU und FDP die Mitgliederzahlen kontinuierlich, während jene von SPD und Grünen kaum stiegen. Auch das behinderte den Aufbau flächendeckend stabiler Parteistrukturen. Ein Übriges tat die „Politikverdrossenheit“, die in den neunziger Jahren um sich griff. Im postrevolutionär sich entpolitisierenden Ostdeutschland entstand rasch eine „Vernetzungslücke“ zwischen einem Großteil der Bürgerschaft und ihren Parlamenten.
Abrechnung im Schutz der Wahlkabine
Dadurch konnte das reale Parteiensystem nie vollständig jenes virtuelle Parteiensystem werden, von dem aus es entstanden war. Die Folge all dessen sind die schwache Parteibindung eines Großteils der Ostdeutschen und die „Volatilität“ ostdeutschen Wahlverhaltens. Beides zusammen bewirkt nicht nur eine schwankende Wahlbeteiligung, sondern auch das Auf und Ab von Protestparteien. Dass diese nur am rechten Rand des Parteiensystems ein Phänomen sind, liegt daran, dass von der Mitte bis links schon Grüne und SPD agieren und die Linkspartei den linken Rand abdichtet.
Rechtsradikale Parteien in Ostdeutschland haben von Anfang an bundesweit Aufmerksamkeit erregt. Es greift zu kurz, deren Aufkommen und Präsenz nur mit „nachwirkendem Autoritarismus“ oder „kulturellen Ressentiments“ in den neuen Bundesländern zu erklären, obschon es derlei sehr wohl gibt. Noch wichtiger ist, dass die CDU auch in Ostdeutschland seit vielen Jahren erfolgreich versucht, sich durch eine inhaltliche Annäherung an – massenmedial stark unterstützte – sozialdemokratische Positionen von links wenig angreifbar zu machen. Der Preis dafür ist die abnehmende Bindekraft am rechten Rand. In diese Lücke stießen einst NPD und DVU. Jetzt tut es die AfD.
Ferner finden wichtige Bestandteile des bundesdeutschen Elitenkonsenses („Nationales ist schlecht, Multikulturelles aber gut“ und so weiter) in der Bevölkerung viel weniger Zustimmung als unter Intellektuellen und Politikern, und speziell im Osten weniger als im Westen. Zugleich trägt dieser Konsens manche zivilreligiöse Züge, was Streit um die entsprechenden Themen oft zum Konfessionskrieg macht – durchaus auch mit einer Ost-West-Komponente. Jedenfalls nehmen gerade viele ostdeutsche Bürger die Verteidigung dieses – stark westdeutsch akzentuierten – Konsenses gegenüber Abweichlern als ein „Aufzwingen von Geboten und Verboten politischer Korrektheit“ wahr, zumal oft schon der bloße Gebrauch von Begriffen bestraft wird. Dies verleitet zu Trotz und Provokationen, denen wiederum mit Ausgrenzungsversuchen begegnet wird, meist durch die Etikettierung als „rechtspopulistisch“ und den „Kampf gegen rechts“. Viele Bürger, zumal im für seine „Rechtslastigkeit“ besonders kritisierten Osten, empfinden solche Reaktionen als ungerechtfertigt und überzogen. Und wer sich ohnehin nicht „in der Mitte“ und schon gar nicht als „links“ verortet, den ziehen derartig aufs Korn genommene Gruppierungen erst recht an. Umgekehrt erscheint ihm jene Mehrheit, die sich in pauschaler „Abgrenzung gegen rechts“ übt, als abgehoben und besserwisserisch. Im Schutz der Wahlkabine rechnet man dann gefahrlos mit ihr ab.
Von solchen Zusammenhängen profitierten schon DVU und NPD. Beide aber waren beziehungsweise sind wirklich zu rechtsradikal, ja rechtsextremistisch, um nicht mit wirklich guten Gründen ausgegrenzt zu werden. Doch eine sich von allem Rechtsradikalismus überzeugend abgrenzende AfD, die sich außerdem professionalisiert, hätte durchaus die Chance, in ganz Deutschland zu jener demokratisch legitimierten – vielleicht ja nationalliberalen – „Partei rechts von der Union“ zu werden, vor der Franz Josef Strauß einst warnte. Eine solche Partei rechts der Mitte könnte die Union in dieselbe unangenehme Konkurrenzsituation bringen, in der sich die SPD seit dem Aufkommen von Grünen und Linkspartei befindet. Somit ist es strategisch paradox, dass ausgerechnet linke Parteien die AfD zum Teufel wünschen.