Das Paradigma vom Staatsaufbau ist gescheitert - wie nun weiter?
Die Partner der neuen Bundesregierung betonen in ihrem Koalitionsvertrag, ein zentrales Ziel verantwortungsvoller Außenpolitik sei der Wiederaufbau fragiler Staaten. Dieses Ziel steht bereits seit den neunziger Jahren beständig auf der politischen Agenda und wird spätestens seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 als Kernparadigma der Sicherheitspolitik diskutiert. Trotzdem gibt es weltweit immer noch viele fragile Staaten. Das gilt besonders für Afrika, wo sich der Negativtrend – anders als in Osteuropa und Lateinamerika – weitgehend fortsetzt. Lange Zeit kamen fragile Staaten vor allem im Subsahara-Raum vor, doch seit dem Arabischen Frühling drohen auch nordafrikanische Staaten zu zerfallen. Gleichzeitig finden gescheiterte Staaten wie die Demokratische Republik Kongo und Somalia keinen Frieden. Länder wie Mali wiederum, die lange als relativ stabil galten, sind erneut von der Gefahr eines Zerfalls bedroht.
Diese Entwicklung zeigt, dass das Staatsaufbau-Paradigma der letzten Jahre gescheitert ist. Die bisherige Politik, die vor allem auf Sicherheit, Wahlen und Wirtschaftskraft setzte, scheint fehlgeschlagen zu sein. Umso dringender muss die neue Bundesregierung eine kritische Korrektur der bisherigen Maßnahmen vornehmen – von den Polizei- und Militärtrainings über das Konzept des externen state building bis zum Ziel der wirtschaftlichen Produktivitätssteigerung.
Eigentlich gilt Afrika derzeit als aufstrebender Kontinent. Unter dem Titel „Africa Rising“ schrieb Oliver August jüngst im Economist, dass die Vertreter Afrikas auf dem internationalen Parkett immer selbstbewusster auftreten und die Entwicklung des Kontinents gemessen am Bruttoinlandsprodukt positiv verläuft. Doch die Hoffnung, der wirtschaftliche Aufschwung gehe automatisch mit mehr Stabilität einher, wurde enttäuscht. Stattdessen zeichnen die Hungeraufstände von 2007 und 2008 in Westafrika sowie die Massendemonstrationen in Ägypten, Libyen und Tunesien seit 2010 ein zweigeteiltes Bild: Auf der einen Seite gibt es eine afrikanische Elite, der es wirtschaftlich gut geht und die ihre politischen Forderungen international mit Nachdruck vorträgt. Auf der anderen Seite steht eine Bevölkerung, die sich vom neuen Wohlstand ausgeschlossen fühlt, unter einer hohen Jugendarbeitslosigkeit leidet und die sich mit ihrem jeweiligen Heimatstaat nicht identifizieren kann. Funktionierende Staatlichkeit allein wird dabei weder der zunehmenden Entfremdung entgegenwirken, noch Stabilität fördern, solange die staatlichen Institutionen nicht als legitim anerkannt werden.
Das staatliche Gewaltmonopol gilt im westlichen Diskurs zwar als notwendige Bedingung für ein funktionierendes Gemeinwesen, doch fragile Staaten können die idealtypischen Funktionen von Wohlfahrt, Legitimität, Rechtsstaatlichkeit und Sicherheit nicht oder nur teilweise erfüllen. Lokal werden diese Lücken dann von traditionellen – und häufig anerkannten – Institutionen, nicht-staatlichen Akteuren oder auch Unternehmen gefüllt.
Die Förderung von Staatlichkeit kann somit kein Selbstzweck sein. Ein Staatsbildungsansatz, der allein auf eine Implementierung von oben (oder von außerhalb) setzt, wird nur kurzfristig Erfolg haben. Erst die langfristige gesellschaftliche Akzeptanz des Staates und seiner Strukturen kann Stabilität generieren. Anstatt zu fragen, ob der Staat funktioniert, sollte sich die Entwicklungspolitik vielmehr fragen, für wen der Staat funktioniert. Fokussiert sich staatliches Handeln auf Partikularinteressen von transnationalen Konzernen und lokalen oder nationalen Eliten, wird es vielerorts negativ bewertet werden, übrigens nicht nur in Afrika.
Nicht selten machen Wahlen alles noch schlimmer
Um Staatszerfall vorzubeugen, wird gern die Idee eines sicherheitspolitisch starken Staates hochgehalten, der durch einen funktionierenden Militär- und Polizeiapparat für Ordnung sorgt. Die Annahme dahinter: Sicherheit in Kombination mit Wahlen führt nach und nach zu einem Rechtsstaat. Dieses Konzept wird derzeit auch in Mali wieder praktiziert, wo Deutschland die Armee des Landes mit Ausrüstung und Know-how unterstützt. Die geschulten oder neu ausgebildeten Sicherheitskräfte repräsentieren vor Ort den Staat. Wenn diese Sicherheitskräfte dann aber Menschenrechtsverletzungen begehen wie in Nigeria, Mozambik oder Simbabwe, wird der neu aufgebaute Staat schnell delegitimiert.
Vor allem ein wirksamer Rechtsstaat ist wichtig
Diesem Vertrauensverlust können auch Wahlen nicht entgegenwirken, ganz im Gegenteil: Die Studie Der Preis der Wahl der Stiftung Wissenschaft und Politik und andere Untersuchungen weisen einen Zusammenhang von Wahlen und neuen Gewaltausbrüchen nach. So kam es in den vergangenen Jahren vor allem in Kenia, Simbabwe, Nigeria, der Elfenbeinküste und in der Demokratischen Republik Kongo anlässlich von Wahlen zu Gewalt. Um die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen 2015 im Südsudan werden nicht minder gewaltsame Auseinandersetzungen erwartet. Die aufgezählten Staaten gelten als besonders fragil. Ihnen fehlen die nötigen institutionellen, ökonomischen und politischen Voraussetzungen, um legitime Wahlen abzuhalten. Regierungsinstitutionen, die bereits vorab als illegitim gelten, können jedoch keine Stabilität generieren. Aus diesem Grund sind Wahlen als erste Schritte des state building meistens ungeeignet.
Im Fokus der neuen deutschen Afrika-Agenda steht nun vor allem die ökonomische Zusammenarbeit. Afrikas Volkswirtschaften wird weiterhin ein stetiges und schnelles Wachstum prophezeit, wobei das Wirtschaftswachstum Südafrikas maßgeblich das westliche Bild prägt und positiv verzerrt. Vom Export abhängige Staaten wie Deutschland wollen ihre Kooperationen auf privatwirtschaftlicher Ebene ausbauen. Statistiken zeigen zwar, dass Unternehmen nicht vor fragilen Staaten als Wirtschaftsstandorten zurückschrecken. Allerdings birgt die ökonomische Zusammenarbeit mit diesen Staaten die Gefahr, nichtdemokratische Strukturen sowie niedrige Sozial-, Arbeits- und Umweltstandards vor Ort zu unterstützen. Seit den internationalen Investitionsprogrammen der neunziger Jahre minimieren viele afrikanische Staaten diese Standards speziell für ausländische Geldgeber. Beispielsweise locken sie Investoren mit Steuerfreiheiten, Billiglohnkräften und kostenlosen Landverpachtungen. Dieses race to the bottom sollte vor allem auch Deutschland als Vorreiter für hohe Umwelt- und Sozialstandards nicht mitmachen, sondern ihm entgegenwirken.
Auch sind die vermeintlichen Vorteile der Kooperation für die Infrastruktur in den afrikanischen Staaten ambivalent: So beteiligen sich privatwirtschaftliche Akteure zwar maßgeblich am lokalen Ausbau von Zufahrtsstraßen, Bahntransportwegen oder Bildungseinrichtungen. Der Radius der Investitionen bleibt jedoch meist auf das Gebiet beschränkt, das für die Unternehmen von Interesse ist. Diese Exklusivität befördert oft partikulare Konfliktlinien und untergräbt die nationale Einheit der betreffenden Staaten. Die Privatwirtschaft kann durchaus zu einer positiven Entwicklung und Good Governance beitragen – aber eben auch zu schlechter Regierungsführung, Intransparenz, ökonomischer Ungleichheit und dem Ausschluss bestimmter Bevölkerungsteile.
Bereits heute existieren zahlreiche internationale Verhaltenskodizes für multinationale Konzerne in Schwellen- und Entwicklungsländern, doch diese sind vor Ort häufig unbekannt und können von den Betroffenen auch gar nicht eingefordert werden. Hier fehlt es an effektiver rechtlicher Kontrolle. Sollte Deutschland durch verstärkt privatwirtschaftliche Kooperationen schlechte Unternehmenspraktiken und Menschenrechtsverletzungen unterstützen oder billigen, wird es diese Normen auch an anderen Verhandlungstischen nicht mehr einfordern können. Die betont wertegeleitete Außenpolitik würde dann nicht mehr ernst genommen, weder von der deutschen Öffentlichkeit noch auf dem internationalen Parkett. Deshalb muss die Bundesrepublik in fragilen Staaten zunächst rechtsstaatliche Strukturen stärken, indem sie diese auch in peripheren Gebieten mit aufbaut, die Ausbildung von Juristen fördert und Korruption im Rechtssystem bekämpft.
In Afrika herrscht oft juristischer Pluralismus
Diese Aufgabe bedarf auch deshalb besonderer Anstrengung, weil in den meisten afrikanischen Staaten ein Pluralismus der Rechtssysteme vorherrscht. Gewohnheitsrecht, nationale Gesetze und internationale Vorgaben konkurrieren miteinander. Daraus entstehen nicht selten machtpolitische Konflikte über die rechtliche Deutungshoheit. Um diese Konflikte fair und friedlich auszutragen, muss für alle Beteiligten ein gleicher Zugang geschaffen werden: zu Informationen, Verhandlungstischen, Rechtsvertretern und Gerichten. Erst ein solcher Zugang zu Rechtsberatungen und einem effektiven, unabhängigen Justizwesen würde es der Bevölkerung ermöglichen, ihre Rechte einzuklagen. Dadurch ließe sich staatliches und unternehmerisches Handeln vor Ort kontrollieren, etwa bei Verhandlungen über Verträge oder Entschädigungen. Andernfalls werden sich die Interessen der Unternehmen und politischen Eliten stets gegenüber dem Gemeinwohl durchsetzen.
Lokale Anlaufstellen und Rechtsberatungen sind jedoch nur dann erfolgversprechend, wenn Vertragsvorhaben vor Abschluss der Verhandlungen veröffentlicht werden, damit die lokalen Gemeinschaften ihren Interessen überhaupt Gehör verschaffen können. Der allgemeine Zugang zu rechtlichen Informationen, Verhandlungen und Gesetzestexten könnte zum Beispiel über das Internet gefördert werden. Dessen Verbreitung sollte die deutsche Entwicklungspolitik mittels des Ausbaus von Leitungen und kostenfreier Internetcafés unterstützen. Dies würde sich auch positiv auf die Wahrnehmung des Staates vor Ort auswirken.
Der Aufbau einer wirksamen Judikative kann zudem einen wichtigen zivilen Beitrag zur Sicherheit leisten. Allerdings sollte der Ausbau des Justizwesens regelmäßig evaluiert werden, um die Legitimität der örtlichen Gerichte sicherzustellen. Dabei müssen auch traditionelle Verhandlungsarenen und Rechtsvorstellungen einbezogen werden. Nur so kann die Bundesregierung ihrem Anspruch gerecht werden, „lokale Legitimitätsvorstellungen“ zu integrieren.
Kurzum, die Prozesse des Staatsaufbaus in Afrika werden langwierig sein – doch das waren sie in Europa ebenfalls. Um daran konstruktiv mitzuwirken, sollte Deutschland nicht auf externes state building setzen, sondern ein einheitliches Rechtssystem für den internen Staatsaufbau unterstützen. Denn ohne eine solche rechtsstaatliche Basis fördern deutsche Unternehmen und die Entwicklungspolitik bloß Ungleichheiten und Konflikte. Die noch stärker wirtschaftlich ausgerichtete Afrika-Agenda der Bundesregierung könnte afrikanische Staaten zu wirklichen „Partnern auf Augenhöhe“ machen, statt nur Bittsteller von Entwicklungshilfe zu sein. Dafür müssen funktionierende Justizsysteme die lokalen und nationalen Machtasymmetrien ausgleichen und die Rechte benachteiligter Gruppen garantieren.