Das populistische Defizit

Im 21. Jahrhunder müssen Sozialdemokraten die "Sprache der echten Wirklichkeit" neu lernen

Westeuropa steckt in einer politischen Identitätskrise. Die Volksparteien, die in den Staaten unserer Region seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges regieren, haben an Mitgliedern und Elan verloren. Und sie haben ihr Ideenmonopol eingebüßt. Weil sie aber die Grundpfeiler sowohl des parlamentarischen Systems als auch des Wohlfahrtsstaates darstellen, hat ihr Niedergang Konsequenzen für die Gesellschaften in Europa insgesamt.Angesichts von Veränderungen in Arbeitswelt, Familienleben und Lebenskultur sind die christdemokratischen und sozialdemokratischen Säulen der Gesellschaft zerbröselt. Zurückgeblieben sind "Volksparteien" mit sinkenden Mitgliederzahlen. Diese Erosion der politischen Repräsentation frisst an den Fundamenten der europäischen Wohlfahrtsstaaten und Parteiendemokratien.

Das zweite Element dieser europäischen Krise ist eine gleichsam paradoxe Konsequenz des Holocaust-Traumas. Die Europäer scheinen nicht im Stande zu sein, das Problem der ethnischen Vielfalt zu lösen. Die intellektuelle Debatte war lange von einer politischen Korrektheit beherrscht, deren Vertreter den Multikulturalismus als für die Gesellschaft bereichernd anpriesen, zugleich jedoch die tatsächlich bestehende Exklusion vieler neuer Einwanderer und die von diesen ausgehenden Belastungen für die Sozialsysteme ignorierten. Diese Probleme trugen maßgeblich zur Entstehung populistisch-ausländerfeindlicher Reaktionen bei.Ein drittes Element der Krise besteht im verbreiteten Unbehagen über den europäischen Integrationsprozess. Anstelle einer stolzen Kultur der Zusammenarbeit zwischen weltoffenen Nationen hat sich ein Klima wachsender Unsicherheit und nationaler Entfremdung entwickelt.

Der Mitte der neunziger Jahre entstandene neue Rechtspopulismus reduzierte diese Ängste und Unsicherheiten auf die zwei Gegensatzpaare "Wir hier unten - ihr da oben" und "Wir hier drinnen - ihr da draußen".1 Die Parteien dieser neuen Bewegung etwa in Österreich, Dänemark, der Schweiz oder in Frankreich können als populistisch gelten, da sie mit dem Anspruch agieren, "das Volk" zu vertreten und es gegen ein selbstherrliches Establishment zu mobilisieren. Sie können auch deshalb rechtspopulistisch genannt werden, weil sie der Auffassung sind, die nationale, kulturelle oder ethnische Identität verteidigen und gegen Außenstehende und externe Einflüsse abgrenzen zu müssen. Diesen neuen Populismus von Politikern wie Haider, Berlusconi, Blocher und dem verstorbenen Pim Fortuyn in den Niederlanden könnte man als "Dritten Weg von Rechts" bezeichnen: als Mittelweg zwischen der demokratischen und der undemokratischen Rechten, zwischen dem traditionellen Konservatismus und der demokratiefeindlichen extremen Rechten der Vergangenheit.2

In jüngster Zeit aber haben die rechtspopulistischen Parteien in Ländern wie Österreich und den Niederlanden stark an Einfluss verloren. Sowohl die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) als auch die niederländische Liste Pim Fortuyn (LPF) haben sich nach ihrem Regierungseintritt in parteiinternen Konflikten zerrieben. Beide Parteien sind implodiert, beide haben zahlreiche Parlamentssitze verloren. Aber bedeutet das auch, dass sie in Zukunft keine Rolle mehr spielen werden? War die Revolte des Pim Fortuyn in den Niederlanden letztlich nur ein Sturm im Wasserglas?3 War der kometenhafte Aufstieg des Rechtspopulismus nur eine kurze, hysterische Episode? Tritt nun allmählich wieder eine "Normalisierung" der politischen Verhältnisse ein, bei der die traditionellen politischen Parteien ihre Macht zurückgewinnen?

In diesem Essay soll gezeigt werden, dass dies ein völliger Fehlschluss wäre. Der "populistische Moment" - jene spezifische Konstellation von Bedingungen, unter denen der Populismus als politische Kraft gedeihen kann - mag fürs Erste wieder vorbei sein, seine tiefer liegenden Ursachen aber sind mit Sicherheit geblieben. Der Rechtspopulismus in Europa muss als Reaktion auf eine soziale Krise gesehen werden. Populistische Bewegungen sind fast zwangsläufig Reaktionen auf die Kehrseite der Modernisierung. Sie sind eine Konsequenz der sozialen Spannungen und Turbulenzen, die derzeit für viele Menschen - ob objektiv oder subjektiv in ihrem Bewusstsein - mit der Gefahr einer Krise und einem tatsächlichen oder befürchteten kollektiven Identitätsverlust einhergehen. Die Prozesse der Globalisierung (einschließlich Einwanderung), Individualisierung, Meritokratisierung und Postindustrialisierung, die seit längerer Zeit auf die westlichen Gesellschaften einwirken, erzeugen nicht nur Dynamik und neue Wohlstandschancen, sondern immer auch Ressentiments, Frustrationen und Unruhe. Diese Phänomene wiederum können sich unter bestimmten Voraussetzungen politisch entladen.

Der "Dritte Weg von Rechts" wird nicht so einfach zu besiegen sein. Die neuen Populisten gewinnen vielleicht nicht viele Wahlen, sie mögen auch nicht zum Aufbau starker Parteiorganisationen im Stande sein - ihre wahre Macht liegt in der Fähigkeit zu alarmieren, zu agitieren und jene Probleme zu thematisieren, die etablierte Parteien aus dem Gleichgewicht bringen und zu einer Neujustierung der politischen Debatte führen. So kann der Rechtspopulismus als gedankliches Konzept überleben und sich ausbreiten, ohne dass dafür die kontinuierliche Präsenz populistischer Parteien nötig wäre. Wenn die Parteien des politischen Mainstream in einem Land einer "populistischen Erpressung" (Hans-Georg Betz) ausgesetzt sind, machen sie sich einen Teil des Programms der Populisten zu Eigen - und legitimieren damit deren Ideen und Forderungen.Die gegenwärtige Situation könnte sich durchaus zu einem Spiegelbild der fünfziger, sechziger und siebziger Jahre entwickeln. Damals waren die Sozialdemokraten zwar nicht immer an der Macht, aber ihr Programm des Wohlfahrtsstaates dominierte fast überall in Mittel- und Westeuropa die politische Debatte. In ähnlicher Weise konzentriert sich heute die politische Programmatik der Rechtspopulisten auf die weit verbreiteten Klagen über die "Illusion" einer multikulturellen Gesellschaft, auf die aus dieser Illusion resultierende Kriminalität und soziale Unsicherheit sowie die "Krise" des Staates infolge schwacher Regierungspolitik.

Der Populismus ist eine heftige Reaktion auf eine Welt im Übergang, ein Aufschrei der Angst und der Wut mit dem Ziel, einen vertrauten Lebensstil und die eigene Identität zu bewahren. Er ist ein Protest gegen Bedrohungen von außen und zugleich ein alarmierendes Signal dafür, dass sich die Menschen durch das bestehende politische und soziale System nicht mehr vertreten fühlen. Dieses Signal - viel mehr als die bloß politische Macht des Populismus, die sich aus seiner parlamentarischen Repräsentation ergibt - muss ernst genommen werden, nicht zuletzt von Sozialdemokraten.4

Der Bruch verläuft quer durch die Sozialdemokratie

Vom Rechtspopulismus besonders schwer betroffen ist die europäische Sozialdemokratie. Die "Revolte des kleinen Mannes" belegt die in den Parteien der demokratischen Linken seit langem bestehende Kluft zwischen den hoch gebildeten und den weniger gebildeten Schichten, zwischen den so genannten "Materialisten" und den "Postmaterialisten". In gewisser Weise ist der Rechtspopulismus die kulturelle Rache der "Arbeiterklasse" an der intellektuellen Elite, die die Führungsschicht der vermeintlichen "Arbeiterparteien" bildet. Diese Spannung zwischen der Zugehörigkeit zum "Establishment" und dem Anspruch, "Partei des kleinen Mannes" zu sein, ist die Achillesferse der Sozialdemokratie. Diese Spannung macht sie durch populistische Angriffe in hohem und weiter zunehmendem Maße verwundbar.

Ein wichtiger Grund dafür, dass in den neunziger Jahren und den ersten Jahren dieses Jahrhunderts der populistische Moment gekommen war, war das Ende der ideologischen Konfrontation in der Politik. Große Koalitionen etwa in Österreich und Belgien, die "violetten Koalitionen" in den Niederlanden sowie "Kohabitions-Regierungen" zwischen der Rechten und der Linken wie in Frankreich haben zu einer allgemeinem Entpolitisierung hinsichtlich des früheren Rechts-Links-Gegensatzes geführt. Hinzu kamen die Konvergenz der sozioökonomischen Politiken und europäische Liberalisierungsprogramme.

Die durch das Verschwinden der Konfrontation zwischen Links und Rechts entstandene Lücke wurde durch einen neuen Konflikt zwischen politischen Außenseitern und etablierter Ordnung ausgefüllt. Die neuen Populisten gaben dem Widerstand einer von Ängsten geplagten Bevölkerungsgruppe gegen eine sich verändernde Welt Ausdruck. Zugleich verstärkten sie die Sehnsucht nach einer verlorengegangen Welt, oft verpackt in ausländerfeindliche und rassistische Ideen. Viele der Anhänger der populistischen Parteien besaßen nur unterdurchschnittliche Bildung und fühlten sich in der "Wissensgesellschaft" in ökonomischer wie in kultureller Hinsicht verwundbar. Verständlicherweise standen sie den Akademikern feindselig gegenüber, die sich, gewappnet mit sozialem und kulturellem Kapital, in dieser neuen Welt durchsetzten. Diese Bruchlinie verläuft mitten durch die Sozialdemokratie, die von ihr weit mehr betroffen ist als alle anderen politischen Parteien oder Bewegungen.

Der Rechtspopulismus findet jedoch auch Anhänger bei Angehörigen der Mittelschicht sowie unter "Neureichen". Selbst das progressive Spektrum ist nicht gänzlich immun gegen die globalisierungsfeindlichen Ideen der neuen Rechten und ihr Bestreben, nationale Identität gegen die drohende kulturelle Vereinheitlichung der Welt zu schützen. Hans-Georg Betz glaubt, der neue Populismus habe das Potenzial, zur Integrationsideologie einer westeuropäischen Identität angesichts der Bedrohung durch Multikulturalismus und Globalisierung zu werden.5 Damit steht die originäre Kultur der Sozialdemokratie unter Beschuss. Deren weltoffenen, feministischen, ökologischen und multikulturellen Werten halten die Populisten entgegen, dass genau diese Werte eine Bedrohung für die kulturelle, nationale und sogar ethnische Identität darstellen. Das sei, meinen die Populisten, die "Schattenseite" dieser Werte, der Preis für eine allzu schnelle Modernisierung und für zu liberale Einwanderungsgesetze.

Wie das Vakuum entstanden ist

Davon abgesehen besteht hier ein ideologisches und grundsätzliches Problem. Das politische Leitmotiv der Sozialdemokratie kann in knappen Worten mit "Gestaltung des Kapitalismus nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit und der Emanzipation mit dem Ziel der Verwirklichung einer mündigen Bürgergesellschaft" zusammengefasst werden. Doch die Sozialdemokratie hat in jüngster Zeit zumindest den Verdacht erregt, dass sie diese Zielsetzung nicht mehr ernstlich verfolgt, da sie nicht mehr im Stande ist, auf den ideologischen und politischen Prozess der Globalisierung und auf den weltweiten Aktionärskapitalismus Einfluss zu nehmen. Seit dem Zusammenbruch des Kommunismus denkt die Sozialdemokratie zu Recht nicht mehr über eine Alternative zum Kapitalismus nach. Doch scheint sie nun außer Stande, dem Kapitalismus weltweit auch nur ein humaneres oder sozial verträglicheres Gesicht zu geben.

Die meisten Sozialdemokraten kritisieren die Bewegung der Globalisierungsgegner als naiv. Ihrerseits aber haben sie noch kein Modell der Globalisierung entwickelt, das sich in zentralen Punkten von der neoliberalen Auffassung unterscheidet. Der Gedanke, das europäische Sozialmodell als Entwurf für die ganze Welt zu präsentieren hat - vorsichtig gesagt - noch nicht Fuß gefasst.

Tatsächlich ist auch nicht klar, ob der "rheinische" beziehungsweise korporatistische Kapitalismus vor dem Hintergrund der schon seit langem lahmenden Konjunktur in Deutschland und Japan auf globaler Ebene überhaupt wettbewerbsfähig ist.Das Einschwenken auf den Kurs des "Dritten Weges" hat in der europäischen Arbeiterschaft den Verdacht erweckt, die Sozialdemokraten hätten ihr traditionelles Projekt aufgegeben, den Kapitalismus so zu reformieren, dass er allen Bürgern Gerechtigkeit und volle Bürgerrechte verschafft. Der "Dritte Weg" bedeutete eine Ideologie der Anpassung an die neue globale Wissensgesellschaft "jenseits aller Gegensätze zwischen Links und Rechts oder zwischen Staat und Markt"6. Embracing change - den Wandel begrüßen: Das wurde zum Motto der Neuen Demokraten unter Bill Clinton und später der Sozialdemokraten in den meisten fortschrittlichen Ländern Europas. Regierungen des "Dritten Weges" wie jene von Tony Blair in Großbritannien, Wim Kok in den Niederlanden und Gerhard Schröder in Deutschland passten sich im Großen und Ganzen dem neoliberalen "Washington Consensus" von IWF und Weltbank an. Dies führte zu einem Klima der Unsicherheit, in dem Arbeitslosigkeit nahezu als Strafe für mangelnde Flexibilität, Mobilität oder Risikobereitschaft aufgefasst wurde. So entstand ein Vakuum, das der Rechtspopulismus als "Kulturrevolution" des kleinen Mannes gegen den sozialen Wandel nur zu bereitwillig ausfüllte.

Die Philosophie des Dritten Weges veranschaulicht bestens die Dilemmata der heutigen Sozialdemokratie. Ursprünglich waren die Drittwegler als Verfechter einer durchaus erfrischenden Kritik an der Erstarrung sozialdemokratischer Politik angetreten. Sie hatten die Defizite von Staat und Markt beim Namen genannt. Diese Philosophie betonte auf innovative Weise die Bedeutung sowohl eines aktiven Sozialstaates wie einer dynamischen Privatwirtschaft. Doch versöhnte sie sich schließlich viel zu sehr mit dem vorherrschenden anglo-amerikanischen Neoliberalismus der neunziger Jahre. Im Zeitalter der Globalisierung scheint die Politik der Linken in erster Linie aus Einschnitten, Arbeitsmarktreformen, Leistungskürzungen und Deregulierungsmaßnahmen zu bestehen. Diese mögen vielleicht unvermeidbar gewesen sein. Doch fällt es schwer, in ihnen mehr als neoliberalen Revisionismus in abgemilderter Form zu erkennen.

Die Wurzeln in die Gesellschaft sind gekappt

Aber Vorsicht! Es wäre falsch zu glauben, der "Dritte Weg" sei die riskanteste unter den verschiedenen Optionen gewesen. In den achtziger Jahren wurden Parteien wie die PvdA in den Niederlanden, die SPD in Deutschland oder die Labour Party in Großbritannien gerade deshalb so "unwählbar", weil sie es in Zeiten der Wirtschaftskrise, der Massenarbeitslosigkeit und der hoffnungslos überlasteten Sozialsysteme vorzogen, "postmaterialistische" Themen wie Rüstung, Kernenergie, apokalyptische Umweltszenarien und staatlich garantierte Grundeinkommen zu besetzen. Der "Dritte Weg" war bei aller Unzulänglichkeit eine Reaktion auf genau diese Fehlentwicklung. Er muss deshalb als die notwendige Rückkehr zu den sozialökonomischen "Brot-und-Butter-Themen" sowie als Anerkennung des Prozesses der Globalisierung und der neuen Realität der postindustriellen Dienstleistungsökonomie begriffen werden.7 Als jedoch der Eindruck entstand, dass von dem nunmehr stromlinienförmigeren Wohlfahrtsstaat nur Ausländer und Randgruppen profitierten, kam das autoritäre Gesicht der "Arbeiterkultur" zum Vorschein. Viele Durchschnittsbürger waren der Ansicht, der Sozialstaat biete kein Sicherheitsnetz mehr. Und vielen Bürgern kam es so vor, als würde die verbleibende Restsicherheit nur denen gewährt, die kein Anrecht darauf hatten: in Wahrheit gesunde Dauerempfänger von Invalidenleistungen, Einwanderer jüngeren Datums, Steuerflüchtlinge et cetera. So wurde das Bündnis zwischen der Sozialdemokratie und ihren traditionellen Anhängern in den weniger gebildeten, einkommensschwachen Schichten, die mit ihr traditionell durch das schützende und zuverlässige Band des Sozialstaates verbunden waren, auf eine harte Zerreißprobe gestellt.

Mit schweren Folgen. Denn an dieser Stelle kommt es zu einem Bruch quer durch die Sozialdemokratie. Die sozialdemokratische Wählerschaft wird in zwei scharf konturierte Gruppen zerteilt: Materialisten und Postmaterialisten. Die Trennungslinie zwischen beiden verläuft entlang der durch den Bildungsstand bestimmten kulturellen Kluft.8 Es handelt sich hier um genau diejenige "neue Bruchlinie", deren Verbreitung flämische Forscher empirisch für die gesamte neue "Wissensgesellschaft" konstatieren: die Bruchlinie zwischen jenen mit den geringen Qualifikationen, die sich unsicher und verwundbar fühlen, und den besser ausgebildeten Schichten, die - ausgestattet mit sozialem und kulturellem Kapital - gezielt daran arbeiten, sich in der Welt durchzusetzen. Diese Bruchlinie verläuft mitten durch die Sozialdemokratie, die von dieser Kluft weit mehr betroffen ist als alle anderen politischen Parteien oder Bewegungen.

Diese Tatsache muss vor dem Hintergrund der langen Geschichte gesehen werden, die sozialdemokratische Parteien mit ihrer gesellschaftlichen Basis verbindet. In historischer Perspektive war innerhalb der Sozialdemokratie die Allianz zwischen Proletariat und hochqualifizierten Berufsgruppen, zwischen Arbeiterklasse und Mittelschicht, zwischen Intellektuellen und Geschäftsleuten niemals einfach. Seit den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts jedoch haben sich die strukturellen Verbindungen zwischen den Parteien der demokratischen Linken und ihren Anhängern an der Basis in ganz neuer Weise gelockert, was auf den Zerfall der traditionellen religiösen und soziopolitischen Bindungen zugunsten einer stärkeren Individualisierung zurückzuführen ist. Die engen Verbindungen zwischen Gesellschaft und Politik, zwischen Parteien und ihrer soziologischen Basis sind weitgehend zerstört worden. Die Struktur der Gesellschaft selbst hat sich drastisch verändert, und dies hat Folgen für die Muster der Repräsentation. Die Wähler sind zu Wechselwählern geworden. Sie legen heute ein viel wankelmütigeres und launischeres Wahlverhalten an den Tag als noch vor ein paar Jahrzehnten. Ideologisch begründete Loyalitäten und Klassenbewusstsein spielen eine immer geringere Rolle.

In einer zunehmend stärker durch Leistungsdenken geprägten Gesellschaft haben Lebensstil und kulturelle Identität an Wert gewonnen. Der Individualismus der Bürger von heute lässt sich nur schwer mit einer engen Bindung an ein Kollektiv wie eine politische Partei vereinbaren. Die moderne Medienlandschaft wiederum hat die Schwächung der Bindung zwischen Bürgern und Parteien dadurch begünstigt, dass sie das politische Geschehen mit einer neuen Medienlogik und Dynamik versehen und traditionelle Funktionen der Parteien - Sozialisierung, Kommunikation, Verbreitung von Informationen - übernommen hat. Die Politik ist zu einem Markt geworden, auf dem politische Unternehmer um die Stimmen der zu politischen Konsumenten gewordenen Bürger konkurrieren. Die traditionellen Volksparteien haben darauf mit umfassender Rationalisierung und Professionalisierung reagiert.

Mehr Mut und mehr Entschlossenheit

Betrachten es die Sozialdemokraten noch immer als ihre historische Aufgabe, den desintegrierenden und zerstörerischen Kräften entgegenzutreten, die die freiheitliche Demokratie beschädigen und die soziale Solidarität schwächen? Falls ja, sollten sie den Schattenseiten und den verunsichernden Auswirkungen des atemberaubend schnellen Modernisierungsprozesses, der die Welt erfasst hat, weit mehr Aufmerksamkeit widmen. Seit den fünfziger Jahren haben sich Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur der westlichen Welt rapide verändert. Das hatte neue und intensive Formen tatsächlicher wie wahrgenommener "Enttraditionalisierung" zur Folge: Fragmentierung, Differenzierung, Individualisierung, Identitätsverlust und das Zerbröseln gewachsener Gemeinschaften. Besonders der (Rechts)-Populismus muss als Ausdruck der Kehrseite dieser Hypermodernisierung angesehen werden. Der neue Populismus stellt einen Widerstand gegen die Veränderung der Welt dar - den rückwärts gewandten Wunsch, eine verlorenen gegangene Welt aus der Vergangenheit zurückzuholen. Doch manifestiert sich dieser Wunsch nur allzu leicht in ausländerfeindlichen oder rassistischen Ideen.

Die Sozialdemokratie wird den politischen Spielraum, den dieser offenbar zwangsläufige Prozess ihr noch lässt, mit mehr Mut und Entschlossenheit ausnutzen müssen. Aber kann es überhaupt miteinander konkurrierende politische Optionen für die Globalisierung geben? Ist ein globaler Sozialkapitalismus als konkurrenzfähige Alternative zum anglo-amerikanischen Modell vorstellbar? Und welche Allianzen und globalen Vereinbarungen wird dies von der europäischen Sozialdemokratie verlangen?

Geradlinigkeit, Einfachheit, Klarheit

Als politisch mäßigende Kraft muss es die Sozialdemokratie als ihre wesentliche Aufgabe betrachten, die so genannten "Modernisierungsverlierer" vom Rechtspopulismus oder noch schlimmeren Formen des Extremismus und Radikalismus fernzuhalten. Dies bedeutet, dass die Kräfte der Modernisierung so weit wie möglich gemäßigt und gesteuert, dass ihre ökonomische, soziopsychologische und kulturelle Wirkungen so weit wie möglich aufgefangen werden müssen. Wenn es nicht gelingt, die Krise der Demokratie zu überwinden, in die das soziopolitische System des Westens geraten ist, droht in der Tat das "autoritäre Jahrhundert", vor dem der Soziologe Ralf Dahrendorf mit guten Gründen warnt.9

Mit anderen Worten: Wenn die Sozialdemokratie die Ressentiments innerhalb der Gesellschaft - den sozioökonomischen, demokratischen, kulturellen und multikulturellen Verdruss an den Verhältnissen - verringern und damit die Bedingungen beseitigen möchte, die die sozioökonomische Marginalisierung sowie die Polarisierung von Gemeinschaften entlang ethnischer Trennlinien begünstigen, dann muss sie in ihren Programmen, ihrem Stil und in ihrer Kommunikation Zugeständnisse an den weniger gebildeten Teil ihrer Wählerschaft machen - notfalls auch auf Kosten ihrer anderen großen Wählergruppe, den gebildeten Intellektuellen. Dies ist das schmerzliche Dilemma, vor dem die europäische Sozialdemokratie steht - inmitten gesellschaftlicher Turbulenzen und widriger politischer Bedingungen und unter den ständigen Angriffen von Rechtspopulisten, die den "kleinen Mann" mit einem Bollwerk gegen echte oder vermeintliche globale Kräfte schützen wollen.10

Welchen Preis die Sozialdemokratie für ihre verkrampfte Haltung der "politischen Korrektheit" und des relativistischen Multikulturalismus zahlen muss, das hat ihr die niederländische Fortuyn-Revolte auf dramatische Weise vor Augen geführt. Deren Folgen waren so weitreichend, dass sich inzwischen in allen Parteien des politischen Spektrums der Niederlande einschließlich der "Neuen PvdA" ein gewisser Konsens im Hinblick auf die Fragen der Integration und Einbürgerung von Immigranten eingestellt hat. In milder Form gefordert wird die "Assimilierung" in Form des Erlernens der niederländischen Sprache und der Akzeptanz der niederländisch-westlichen Demokratie mit ihrer säkularen Verfassung.

Die Sozialdemokratie muss lernen, den Rechtspopulismus selbst und dessen Ursachen entschlossen zu bekämpfen. Das macht eine Neuorientierung ihrer sozioökonomischen Politik erforderlich (Gegengewicht zur Meritokratisierung wie zur Verdrängung wenig qualifizierter durch besser qualifizierte Arbeitskräfte). Es bedeutet die Neuausrichtung ihrer demokratischen Repräsentation und Kommunikation ebenso wie ein Umdenken auf dem Gebiet der Erhaltung von Recht und Ordnung: Kriminalität trifft traditionelle sozialdemokratische Wählerschichten; Immigration hat destabilisierende Wirkungen auf traditionelle Wählermilieus.

Das alles macht ein populistisches Vorgehen in dem von Paul Taggart beschriebenen Sinn erforderlich: "Geradlinigkeit, Einfachheit und Klarheit sind die Fanfaren des Populismus. Dieser wirbt auf allgemein verständliche Weise um vernünftige Lösungen." Wir müssen den Begriff der Demokratie neu definieren, aber ohne dabei wie die Rechtspopulisten in übermäßige Vereinfachungen oder Vulgarität zu verfallen.11 Denn durch den Aufstieg der populistischen Parteien scheint sich auch das Wesen der demokratischen Legitimität grundlegend zu verändern. Der Virus der "plebiszitären Demokratie"12 breitet sich schleichend aus, die demokratische Kultur der Diskussion unter Gleichen wird durch personalisierte Führung mit "demokratischem Mandat" ersetzt. Diese Tendenz wird durch die Logik der herrschenden Mediendemokratie verstärkt, die "Personalisierung ohne Konsultation" fordert. Die Aufgabe besteht jetzt darin, einen demokratischen Mittelweg zwischen technokratischem Elitismus und vulgärem Populismus zu finden.

Mehr Populismus wagen. Aber in Zivil

Die wirkliche Schlüsselfrage aber lautet: Wie viel Antipopulismus kann sich eine Volkspartei wirklich erlauben? Wie lange kann es sich eine sozialdemokratische Partei leisten, für ein liberaleres Strafrecht einzutreten, wenn sie auf die Unterstützung von Wählern mit geringer Bildung angewiesen ist, deren Prioritäten oft von dem Themenkomplex Recht und Ordnung beherrscht werden? Kann die Sozialdemokratie unbeirrt optimistisch am europäischen Supranationalismus oder Föderalismus festhalten, wo doch klar auf der Hand liegt, dass durch den Prozess der europäischen Integration die Reichweite und Komplexität politischer Repräsentation in so massiver Weise zunehmen werden, dass für populistische Mobilisierung ein idealer Nährboden entsteht? Wie groß darf die Kluft zwischen der Politik und den Menschen noch werden? Wenn die Sozialdemokratie dem Rechtspopulismus mit Erfolg entgegentreten will, sollte sie in ihrem Stil, ihrer Kommunikation und ihren Programmen mehr Populismus wagen - vorausgesetzt, dass dieser die Handschrift der politischen Linken trägt. Das bedeutet, dass sie sich so weit wie möglich von technokratischen und bürokratischen Komplexen entfernen muss. Es geht um nicht weniger als die "Repolitisierung der Politik". Die bequeme, hermetische und isolierte Welt, in der sich die politische Macht konzentriert, muss zerschlagen werden. Durch verbesserte politische Kommunikation, durch einen höheren Stellenwert vernünftiger Lösungen und eine stärkere Politisierung, durch weniger technokratische Zwangsläufigkeit, aber mehr politische Wahlfreiheit sollte die vermeintliche oder tatsächliche Kluft zwischen den Eliten der politischen Meinungsbildner und Entscheidungsträger und den einfachen Bürgern so weit wie möglich überbrückt werden. Wenn dem Rechtspopulismus, der in einer autoritären und ausländerfeindlichen Haltung wurzelt, der Wind aus den Segeln genommen werden soll, ist ein zivilisierter Linkspopulismus dringend erforderlich."

Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich plädiere keineswegs für eine "Haiderisierung", nicht für die Übernahme von Rhetorik und Programm des Rechtspopulismus in irgendeiner Form aus strategischen Gründen. Ich plädiere aber dafür, die zu Grunde liegenden Ursachen und Hintergründe des Rechtspopulismus in Europa sehr ernst zu nehmen. Und auch dafür, Rhetorik und Stil des Populismus als "Sprache der echten Wirklichkeit" neben, gegenüber und in Konfrontation mit der Sprache der "Leitzielwirklichkeit" der Politiker, der politischen Parteien, der Sachverständigen, Beobachter und Technokraten ernster zu nehmen. "Der Wunsch, den Populismus zu überwinden, ist kurzsichtig", hat Michael Kazin im Hinblick auf die Situation in den Vereinigten Staaten geschrieben. "Er ignoriert die Dauerhaftigkeit der Sprache an sich, die in der Kluft zwischen amerikanischen Idealen einerseits und ihrem Verrat durch die Institutionen und Behörden andererseits begründet ist. ... Im Mittelpunkt der populistischen Tradition steht eine Erkenntnis von großer demokratischer und moralischer Bedeutung. ... Zwar müssen wir uns davor hüten, ausschließlich populistische Rhetorik zu verwenden, aber gänzlich ohne sie sind wir verloren. ... Nur dort, wo sich in der Vergangenheit linke und liberale Kräfte einer populistischen Rhetorik bedienten, die von Hoffnung, Extrovertiertheit und sogar Romantik gekennzeichnet war, ist es ihnen gelungen, ihre Politik mehrheitsfähig zu machen und spürbar zur Förderung des Allgemeinwohls beizutragen."13

Eine zivilisierte Demokratie kann nur dauerhaft existieren, wenn die politisch gemäßigten Kräfte in ihr auf Dauer führend sind. Dieses Ziel heiligt viele Mittel.


Anmerkungen:

1 Anton Pelinka, Die FPÖ in der vergleichenden Parteienforschung, in: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 3/2002.

2 Michael Ehrke, Rechtspopulismus in Europa: Die Meuterei der Besitzstandswahrer, Analyse International Policy Analysis Unit; M. Fennema, Populist Parties of the Right, IMES Paper, 23. Juli 2001.

3 Zum Phänomen Fortuyn vgl. René Cuperus, From Poldermodel to Postmodern Populism: Five Explanations for the Fortuyn Revolt in the Netherlands", in: René Cuperus, Karl Duffek und Johannes Kandel (Hrsg.), The Challenge of Diversity: European Social Democracy Facing Immigration, Integration and Multiculturalism, Renner-Institut, Wien 2003.

4 Siehe Paul A. Taggarts instruktive Einführung in das Phänomen Populismus, in: Populism, Philadelphia: Open University Press 2000; siehe auch Pierre-André Taguieff, L′Illusion Populiste. De l′archaïque au médiatique, 2002.

5 Hans-Georg Betz., New Politics of the Right, New York: St. Martins Press 1998.

6 Anthony Giddens, The Third Way: The Renewal of Social Democracy, Polity Press 1998 und René Cuperus, The New World and the social-democratic response, in: René Cuperus, Karl Duffek und Johannes Kandel, Multiple Third Ways: European Social Democracy facing the Twin Revolution of Globalization and the Knowledge Society, Amsterdam/Berlin/Wien 2001.

7 René Cuperus, Over Ad Melkert, het kale-kip-syndroom en Des Indes, in: Socialisme & Democratie, Nr. 7/8, 2002. Das schockierendste Beispiel für die Dominanz postmaterialistischer Themen über die materialistischen, von dem ich je in der Sozialdemokratie erfahren habe, ereignete sich 1991 auf einem Parteitag der SPD in Mannheim, als - kurz nach der Wiedervereinigung - der Tagesordnungspunkt "Die Wirtschaft in der ehemaligen DDR" kurzerhand zugunsten der Verlängerung der Debatte über die innerparteiliche Frauenquote gestrichen wurde.

8 In einer Untersuchung für eine Beilage "Normen und Werte" der Zeitung De Volkskrant wies die Forschungsorganisation NIPO darauf hin, dass sich in der Gesellschaft hinsichtlich allgemeiner sozialer Normen und Wertvorstellungen eine enorme Kluft aufgetan habe. Auf der einen Seite gebe es "linksgerichtete Wähler, "engagierte Christen", "Verfechter konservativer Familienwerte" und "sozial engagierte Menschen". Diese Gruppen äußerten sich besorgt über das Anwachsen von Egoismus und sozialer Spaltung. Auf der anderen Seite gebe es die Gruppen der "ehrgeizigen Materialisten", der "Karrieremacher" und der "bedenkenlosen Hedonisten", die sich keinerlei Gedanken über irgendwelche Spaltungen machten, aber die Anwesenheit von Asylbewerbern und ethnischen Minderheiten für soziale Problem hielten. Dieses Segment der Gesellschaft lege großen Wert auf materiellen Wohlstand und bequemes Leben und halte die Solidarität mit Schwächeren oder globalen Problemen wie der Umweltzerstörung für unwichtig. Die Kluft zwischen solch gegensätzlichen Einstellungen scheine weitgehend im Zusammenhang mit der Kluft zwischen den Gruppen mit höherem und den Gruppen mit niedrigerem Bildungsniveau zu stehen, was NIPO dazu veranlasste, von einer "Revolte der Unterklasse" zu sprechen, die ihre Eigeninteressen in den Vordergrund stelle.

9 Ralf Dahrendorf, Die Krisen der Demokratie, München: Beck 2003.

10 Paul A. Taggart, Populism (Anm. 4).

11 Ebenda. Siehe auch Andries Hoogerwerf, Naar een niet-elitaire democratie, in: Facta, Februar 2003; Alfred Gusenbauer, Die Bekämpfung des Rechtspopulismus in den europäischen Demokratien, PES Dokument, ohne Datum.

12 Bart Tromp, Het virus van de plebiscitaire democratie, in: Socialisme & Democratie, Nr. 12, 2002; Joachim Raschke, Die Zukunft der Volksparteien erklärt sich aus ihrer Vergangenheit, in: Matthias Machnig und Hans-Peter Bartels (Hrsg.), Der rasende Tanker, Göttingen 2000. "Politikverdrossenheit" - jenes Gemisch aus Misstrauen, Feindseligkeit und Argwohn, das den Parteien seit einiger Zeit zusetzt - hat zu dem geführt, was der deutsche Politologe Joachim Raschke so beschreibt: "Ablehnung, aber auch Chancen für populistische Abenteuer in Form einer Mittelstandsrebellion oder von Rechtspopulismus - stets jedoch zu Lasten der Linken; ein nennenswertes Beispiel für Linkspopulismus gibt es weder in Deutschland noch in anderen europäischen Ländern, weder in der Gegenwart noch in der Vergangenheit."

13 Michael Kazin, The Populist Persuasion: An American History, New York: Basic Books 1995.

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