Das Problem aus der multipolaren Hölle

Der Krieg in Syrien und die Krisen des Nahen Ostens haben Ausmaße angenommen, die sich noch vor kurzem niemand vorstellen wollte. Spätestens jetzt ist eine Syrienstrategie nötig, die kurzfristig wirkt und langfristige Ziele im Blick behält

Soll man es einen guten Anfang nennen, dass syrische Oppositionsgruppen nach dem vielen Hin und Her doch noch den Weg nach Genf gefunden hatten und dass sich die Syrien-Kontaktgruppe in München auf ein Grundsatzpapier einigen konnte, das humanitäre Hilfe und eine Waffenruhe zumindest auf dem Papier vorschreibt? Besteht Anlass zur Hoffnung, weil sich die Vertreter des Assad-Regimes einigermaßen willig geben, wie Beobachter der Genfer Verhandlungsrunde vermelden? Darf man es als positives Zeichen sehen, wenn Sondervermittler Staffan de Mistura nach einem Treffen mit einer Delegation von wichtigen Rebellen- und Oppositionskomitees am 31. Januar sagte, er sei „optimistisch und entschlossen, weil dies hier eine historische Gelegenheit ist, die nicht ausgelassen werden darf“?

Auf alle drei Fragen kann man nur mit Radio Eriwan antworten: „Im Prinzip ja. Aber“. Denn die syrischen Oppositionsgruppen sind und bleiben zersplittert. Obendrein befinden sie sich in einer verzwickten Situation: Wären sie den Verhandlungen ferngeblieben, hätten sie als unwillig gegolten. Außerdem hätten sie die Chance verpasst, ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen. Wenn diese Gruppen aber nichts oder nur wenig durchsetzen könnten, würden sie viele Syrer als Verräter empfinden, die die Interessen der Assad-Gegner ausverkauft hätten.

Assads Vertreter in Genf wiederum hatten und haben auch jetzt allen Grund, sich verhandlungsbereit zu geben, um guten Willen zu demonstrieren – aber gleichzeitig dafür zu sorgen, bloß nicht allzu schnelle Fortschritte zuzulassen. Solange verhandelt wird, können die Regierungstruppen mithilfe russischer Luftangriffe Tatsachen schaffen. Und das nicht etwa im Kampf gegen den so genannten Islamischen Staat, sondern gegen oppositionelle Truppen. Immerhin sind es ja die Gebiete der Rebellen, die russische und syrische Verbände übereinstimmenden Berichten von Menschenrechtsorganisationen zufolge am intensivsten attackieren. Und genau daran scheiterten die Verhandlungen Anfang Februar vorerst: am fortgesetzten Bombardement Aleppos.

Und de Misturas Optimismus? Ist reiner Notwendigkeit geschuldet, denn in der Tat wäre es irrwitzig, nicht einmal den Versuch zu wagen, die gegnerischen Parteien an einen Tisch zu holen. Aber: Syrien war, ist und bleibt das Problem aus der multipolaren Hölle. Aus einem rein innenpolitischen Problem, der ebenso schlichten wie berechtigten Forderung nach (von Bashar Al-Assad bei Amtsantritt vollmundig versprochenen) Reformen, ist eine humanitäre Katastrophe geworden, in der zahlreiche Regional-, Groß- und Möchtegern-Großmächte mitmischen und an der genau diese Mächte schuldig geworden sind – durch Beteiligung, aber auch durch mangelnde Einmischung.

Jetzt muss eine »No-Bomb-Zone« her

„Humanitäre Hilfe“ und „Problem aus der multipolaren Hölle“ sind zugleich die Eckpunkte einer Syrienstrategie, die kurzfristig wirken kann und muss – und langfristige Ziele im Blick behält. Dabei sind folgende Punkte zu berücksichtigen:

Erstens: Werte sind Interessen. Die Forderungen syrischer Oppositionsgruppen sind völlig berechtigt und sie verdienen die uneingeschränkte Unterstützung der westlichen Beteiligten. Erster Baustein eines Lösungsplans müssen umfassende Maßnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung sein. Dazu gehören Hilfslieferungen in die von Regierungstruppen eingeschlossenen Gebiete, die von akuter Hungersnot betroffen sind. Dass dies jetzt in München vereinbart wurde, ist keine Nebensache, sondern eine existenziell notwendige Maßnahme. Dazu gehört aber auch eine mehrfach geforderte „No-Bomb-Zone“. Diese Forderung richtet sich vor allem an die syrischen Regierungstruppen, die mit dem Abwurf von Fassbomben über Wohngebieten für den Großteil der Toten unter den Zivilisten und für die größte Fluchtbewegung seit Ende des Zweiten Weltkriegs verantwortlich sind. Sie richtet sich aber auch an Moskau, das ebenfalls wenig Rücksicht auf die Zivilbevölkerung nimmt.

Für die Errichtung einer „No-Bomb-Zone“ braucht es mehr als starke Worte, denn eine Verletzung dieser Zone muss hart geahndet werden, am besten im Einvernehmen mit den Vereinten Nationen.

Diese Art der humanitären Hilfe ist kein Idealismus. Wer sich jetzt für den Schutz der Zivilbevölkerung effektiv stark macht, wird auch Glaubwürdigkeit für einen sehr viel schwerer zu erzielenden Frieden und den Wiederaufbau gewinnen. Und: Nachdem sich der Westen nie wirklich um eine Unterstützung säkularer und moderater Oppositionsgruppen oder gar um eine Friedenslösung gekümmert hat, muss er dringend Glaubwürdigkeit zurückgewinnen.

Zweitens: Opposition einbinden, Ziele formulieren. Der Krieg hat begonnen, weil das syrische Regime jegliche Opposition mit Gewalt unterdrückt hat. Ohne die Beteiligung von Oppositionsgruppen wird weder ein Ende der Gewalt noch eine stabile Friedenslösung möglich sein. Die Opposition aber ist zerstritten; zudem versuchen einige Beteiligte wie Russland oder Saudi-Arabien, „ihre“ Oppositionsgruppen an den Friedenstisch zu bringen, um über sie weiteren Einfluss zu gewinnen. Im Fall der Türkei verhält es sich genau umgekehrt: Sie versucht, die oppositionellen Kurden fernzuhalten, um ihnen Einflussmöglichkeiten zu verwehren. Von solchen Spielchen profitieren jedoch nur Assad, der den Bürgerkrieg überhaupt erst verschuldet hat, und Daesh/IS, der von diesem Krieg lebt.

Es wäre grundverkehrt, sich auf eine lange Diskussion darüber einzulassen, wer zu welchem Zeitpunkt an weiteren Gesprächen teilnehmen darf. Wichtiger ist es, Ziele – wie humanitäre Hilfsleistungen – zu formulieren und die Zustimmung zu diesen möglichst konkreten und auch mittelfristig erreichbaren Zielen zur Bedingung einer weiteren Gesprächsteilname zu machen. Der UN-Sonderbeauftragte Staffan de Mistura befindet sich daher auf dem richtigen Weg. Er will die Genfer Verhandlungen als langfristigen Prozess mit verschiedenen Arbeitsgruppen anlegen, die genau diese Ziele (und damit vertrauensbildende Maßnahmen) erarbeiten sollen.

Drittens: Jeder Beteiligte muss Teil einer Lösung sein. Jeder Beteiligte ist aber zunächst Teil des Problems. Der Iran verteidigt das Assad-Regime bereits seit Jahren mithilfe der iranischen Al-Kuds-Brigaden und der schiitisch-libanesischen Hisbollah-Miliz. Russland hat ebenfalls zugunsten seines Schützlings militärisch eingegriffen, nachdem es das Assad-Regime anfangs nur politisch unterstützt hatte. Saudi-Arabien finanziert diverse islamistische Gruppierungen und hat mit dem Export seiner radikalen, wahabitischen Interpretation des Islams erst dazu beigetragen, dem radikalen Islam den Boden zu bereiten. Die Türkei wollte Assad stürzen sehen, hat Dschihadisten jahrelang den Grenzübertritt erlaubt und bombardiert nun, angeblich im Kampf gegen Daesh/IS, kurdische Verbände, um ihrem alten Erzfeind PKK zu schaden.

Ja, wir wissen, dass all diese Beteiligten Teil der Lösung sein müssen. Das wird Außenminister Frank-Walter Steinmeier ja auch nicht müde zu betonen. In der Tat wird der Bürgerkrieg nicht zu beenden sein, wenn diese Länder ihre militärischen Aktionen nicht einstellen. Wenn es aber darum gehen soll, eine stabile Nachkriegsordnung herzustellen, dann muss ein gerade von Moskau ad nauseam benütztes politisches Argument erst wieder vom Kopf auf die Füße gestellt werden.

Nicht ein Regimewechsel an sich ist das Problem, wie die russische Regierung immer betont, sondern ein von außen und dann auch noch schlecht vorbereiteter und halbherzig durchgeführter Regimewechsel – wie im Irak – oder ein Regimeerhalt um jeden Preis wie in Syrien. Die Urmutter aller Probleme ist die anpassungsunwillige Diktatur. Noch einmal: Erst Assads harsche Antwort auf friedliche Proteste hat diesen Bürgerkrieg ausgelöst. Ausnahmslos alle autoritären Staaten des Nahen und Mittleren Ostens haben sich als reformunfähig und damit als inhärent instabil erwiesen. Der Westen sollte also unter allen Umständen die „Diktatur gleich Stabilität“-Falle vermeiden. Ein autoritäres Regime, das Teilhabe verweigert, Reformen ablehnt, Minderheiten bevorzugt und wenig inklusiv ist, ist scheinstabil. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis ein solches Regime implodiert.

Mit Assad kann es keinen Frieden geben

Viertens: Der Islamische Staat ist ein Gegner, aber nicht der Hauptgegner. Frankreich hat seine Luftschläge nach den Terrorattentaten intensiviert. Das ist eine nachvollziehbare Reaktion. Aber zum einen werden Luftschläge Daesh/IS auf Dauer nicht besiegen können. Um das zu erreichen, müsste der Westen entweder selbst Bodentruppen schicken, oder verlässliche Partner ausbilden und ausrüsten (eine Chance, die der Westen bislang weitgehend vertan hat). Zum anderen ist der Kampf gegen den Terror wichtig, aber nur ein Teilaspekt des Syrienproblems. Die Hauptaufgabe bleibt es, den Bürgerkrieg zu beenden und eine stabile Nachkriegsordnung herzustellen, bei der Wert auf Good Governance gelegt wird. Die westlichen Länder sollten sich also nicht zu einer „Anti-Terror-Koalition“ überreden lassen, die lediglich als Vorwand für den Erhalt eines Regimes dient, das die Ursache für die syrische Katastrophe ist.

Fünftens: Syrien erhalten, aber ohne Assad. „Assad muss gehen“ war eine Grundforderung des Westens zu Beginn des Bürgerkrieges. Falsch war an dieser Forderung „nur“ die Sicherheit, mit der man annahm, diese Forderung würde sich von alleine und ohne jegliches Zutun durchsetzen. Die Grundannahme aber bleibt richtig. Seit Jahren versucht Assad, sich als Bollwerk gegen den radikalen Islamismus darzustellen. Verlogener geht es kaum. Assads autoritäres Regime und seine Brutalität haben die radikalen Milizen erst erstarken lassen – einmal abgesehen von der Tatsache, dass Assad auch kein Problem damit hat, je nach Gutdünken punktuell mit radikalen Islamisten gemeinsame Sache zu machen.

Ein „Exil für Assad“ muss nicht zu den ersten Forderungen in den Genfer Gesprächen gehören. Aber mit Assad wird es auf Dauer keinen haltbaren Frieden geben; zu tief sind die Wunden, die er geschlagen hat. Um kein Vakuum entstehen zu lassen, ist es denkbar, mit einem „Baath-Rumpfregime“ zu arbeiten und dann Kommune für Kommune (und nicht etwa mit voreiligen Wahlen für eine Zentralregierung) eine politische Struktur neu aufzubauen. Vorrangig ist zunächst der physische und dann erst der politische Wiederaufbau – durchaus mit Unterstützung einiger alter Träger des Regimes, solange sie nicht zum engsten Kern des Assad-Regimes gehören. Allzu voreilig und ein Rezept für erneute Auseinandersetzungen wäre es, das Sykes-Picot-Abkommen in die Mülltonne der Geschichte zu treten und neue Grenzen für einen „neuen Nahen Osten“ zu ziehen. Das käme einer Generaleinladung an alle Beteiligten gleich, auch hier ein möglichst großes Stück des Kuchens zu ergattern. Zudem hat die Idee des Nationalstaates tiefere Wurzeln geschlagen, als gemeinhin angenommen wird. Die meisten Syrer, das ist gerade unter den Flüchtlingen spür- und deutlich vernehmbar, verstehen sich als Bürger eines syrischen Staates, den sie gerne wieder aufbauen möchten (und nicht etwa als Bürger eines zukünftigen „Sunnistans“). Es wäre im allergrößten Interesse des Westens, vor allem des unmittelbar benachbarten Europas, wesentlich mehr Ressourcen und politische Kreativität darauf zu verwenden, ein wesentliches Fundament funktionierender Nationalstaaten zu stärken beziehungsweise überhaupt erst aufzubauen: ein echtes Bürgerverständnis, das eben nicht auf der Zugehörigkeit zu einer ethnischen oder religiösen Gruppe oder einem Clan basiert, sondern auf den Rechten und Pflichten eines jeden Bürgers. Diese wiederum müssen von einem Staatswesen garantiert werden, das auf Good Governance beruht.

Ressourcen, Ressourcen, Ressourcen

Sechstens: Strategisches Durchhaltevermögen und Ressourcen, Ressourcen, Ressourcen. Nach dem Irak-Krieg und dem Einsatz in Afghanistan war man im Westen der Meinung, dass Interventionen schlecht sind. Das aber ist höchstens die halbe Wahrheit. Interventionen richten großen Schaden an, wenn sie mies begründet, schlecht durchdacht und dann auch noch hastig und ohne strategische Geduld und die notwendigen Ressourcen durchgeführt werden. Nicht zu intervenieren kann aber – siehe Syrien – ebenfalls zu größtem Chaos führen. „Intervention“ bedeutet dabei nicht notwendigerweise, Bodentruppen zu entsenden. Wenn man aber nicht buchstäblich Boden an all jene Kräfte verlieren will, die sektiererische Auseinandersetzungen weiter anheizen (Al-Kuds-Brigaden, Hisbollah, Al-Nusra, Daesh/IS und so weiter), wenn man es nicht dem Iran, Saudi-Arabien oder Russland überlassen will, eine (vermutlich auf Dauer nicht stabile) Nachkriegsordnung nach eigenem Gusto zu gestalten, dann wird der Westen „seine“ Kräfte vor Ort wesentlich besser unterstützen müssen als bislang. Zudem wird er darüber nachdenken müssen, ob und wie er eigene Verbände zur Unterstützung bereitstellen will. Das heißt: Vonnöten sind strategische Geduld und ein enormes Durchhalte- und Frustrationsvermögen, um die Verhandlungen in Genf dauerhaft fortzuführen. Zudem muss der Westen politische, finanzielle und auch militärische Ressourcen bereitstellen, die wesentlich größer und langfristiger orientiert sind als bisher. Denn klar ist: Syrien und der Nahe Osten werden uns noch sehr viele Jahre intensiv beschäftigen.


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