Das Projekt Zukunft
Das europäische Krankenlager ist gut gefüllt. Die Patienten sind bekannt, und wir gehören nicht dazu. Selbstzufrieden, die Nase hoch, lehren Merkel und Co. den Nachbarn Mores. Vergessen wird, die Debatte ist nicht neu. Auch die Begriffe sind es nicht, mit denen sie geführt wird. Schon vor gut zehn Jahren sprach der Economist vom „kranken Mann Europas“. Der Unterschied: Gemeint waren damals nicht Griechenland und Spanien. Gemeint war unser Land, Deutschland.
Und es war keine üble Nachrede. Wir waren das Schlusslicht beim europäischen Wachstum. Wenn wir es zehn Jahre später nicht mehr sind, sondern mit der deutschen Wirtschaft einigermaßen robust im europäischen Sturm bestehen, dann kommt das nicht von selbst. Der Turnaround hat fast ein Jahrzehnt gebraucht und ist nicht vom Himmel gefallen. Erfolgreiche Restrukturierungen der Unternehmen gehören genauso dazu wie die verantwortungsvolle Lohnpolitik der Gewerkschaften. Aber wir wären nicht da, wo wir sind, wenn sich nicht eine entschlossene und der Zukunft verpflichtete Bundesregierung unter Führung der SPD der Herausforderung gestellt hätte.
Vom »kranken Mann« zum »Musterknaben«
Wir haben Strukturreformen angepackt, zugleich in Bildung, Wissenschaft, Infrastruktur investiert und die Energiewende begonnen. Mit Erfolg: Deutschlands Volkswirtschaft wurde wieder zur Innovationslokomotive Europas, die Zahl der Beschäftigen erreichte einen Rekordstand, die Zahl der Arbeitslosen konnte beinahe halbiert werden und die einst leeren Sozialkassen stehen wieder auf einer soliden Basis. Das wurde auch mit Anerkennung in der internationalen Presse bedacht: Der Economist schrieb fortan vom „German Jobwunder“ und die Neue Zürcher Zeitung bezeichnete uns als Europas Musterknaben.
Schwarz-Gelb zehrt diesen Vorsprung nun auf. Dabei türmen sich neue Herausforderungen auf: Die Krise Europas ist ungelöst, der Finanzkapitalismus ist nicht gebändigt und auch unserem Land droht die soziale Spaltung. Die nächste Bundesregierung übernimmt ein schweres Erbe. Nach vier desaströsen Jahren Schwarz-Gelb heißt die Frage: Taumelt das Land zurück aufs Krankenlager oder kann Deutschland den noch verbliebenen Schwung nutzen, um seine Zukunftsfähigkeit neu zu gewinnen? Noch ist Zeit zum Handeln. Vor zehn Jahren mussten die Reformen aus einer Position der ökonomischen Schwäche heraus verwirklicht werden, was sicher auch dazu geführt hat, dass soziale Härten nicht ausblieben. Diesmal besteht die Chance, die Modernisierung aus einer Position der ökonomischen Stärke heraus zu gestalten.
Im schwarz-gelben Sündenregister rangiert ein politisches Versagen an erster Stelle. Es ist die dreiste Klientelpolitik, mit der neue unsinnige Sozialtransfers für Bessergestellte wie das „Betreuungsgeld“ erfunden oder Privilegien im Steuersystem ausgeweitet werden, die vor allem Wohlhabenden zugutekommen. Wenn dann auch noch den Steuerhinterziehern und ihren Helfern aus der Finanzbranche augenzwinkernd die Hand gereicht und Strafverfolgung vereitelt werden soll, wenn Investmentbanken noch immer mit dem Geld der Steuerzahler vor dem selbstverschuldeten Bankrott gerettet werden, ist das Maß voll. So wird Zukunft vergeudet! So wird die finanzielle Handlungsfähigkeit unseres Gemeinwesens aufs Spiel gesetzt. Denn Deutschland ist bereits heute mit mehr als zwei Billionen Euro verschuldet – und zuletzt waren es die Folgen der Lehman-Pleite, die auch die deutschen Schulden auf mehr als 80 Prozent des Bruttoinlandsprodukts hochgetrieben haben. Steigende Verschuldung wiederum erhöht die Abhängigkeit von den Finanzmärkten, schränkt die Möglichkeiten von Zukunftsinvestitionen ein und ist eine Bürde für kommende Generationen. Schwarz-Gelb hat es selbst unter den einmalig günstigen Bedingungen niedriger Arbeitslosigkeit, guter Konjunktur und historisch niedrigen Zinsen nicht geschafft, den Haushalt zu konsolidieren.
Verschuldung ist unter den Schocks der Finanzmarkt- und der Eurokrise zur Gretchenfrage politischer Glaubwürdigkeit geworden. Wir müssen erstens Schluss machen mit der Schuldenspirale und zweitens Mehreinnahmen sehr gezielt vor allem in Bildung, Forschung und Infrastruktur investieren. Wenn beides gelingt – Schulden runter, Zukunftsinvestitionen rauf –, dann wird auch ein neuer solidarischer Lastenausgleich mit einem höheren Spitzensteuersatz von denen akzeptiert werden, die es sich leisten können, ein wenig mehr zum Gemeinwohl beizutragen. Denn der Bedarf ist offensichtlich: Unter Rot-Grün haben wir mit dem Tagesbetreuungsausbaugesetz einen Paradigmenwechsel hin zur frühen Förderung der Kinder eingeleitet. 2007 haben wir auf dem „Krippengipfel“ den weiteren Kita-Ausbau durchgesetzt. Das war eine Steilvorlage für die zweite Regierung Merkel. Nun aber versagt Schwarz-Gelb bei der Umsetzung des Rechtsanspruchs auf Kinderbetreuung für unter Dreijährige ab 2013. Derzeit fehlen sage und schreibe 220.000 Kitaplätze. Wir wollen den Kita-Ausbau entschlossen vorantreiben und die Qualität der Kitas verbessern.
Auch der vor zehn Jahren von der SPD-geführten Bundesregierung begonnene Ausbau der Ganztagsschulen ist unter Schwarz-Gelb auf halbem Weg stecken geblieben. Wir werden daher ein zweites Ganztagsschulprogramm in die Tat umsetzen, das bis 2020 jedem Kind den Besuch einer guten Ganztagsschule ermöglicht. Wir finden uns nicht damit ab, dass jedes Jahr 60.000 Jugendliche die Schule abbrechen und 1,5 Million junge Erwachsene im Alter zwischen 20 und 29 Jahren keinen Berufsabschluss haben. Deshalb müssen wir beim Übergang von der Schule in den Beruf bessere Unterstützung leisten. Allen Jugendlichen und jungen Erwachsenen werden wir eine Berufsausbildungsgarantie geben.
Die ökonomischen Ungleichheiten und sozialen Unsicherheiten in unserer Gesellschaft haben zugenommen. Ich sage sehr klar: Instrumente der Arbeitsmarktreformen, die von uns als Brücke in gesicherte Arbeit gedacht waren, wie Leiharbeit oder Minijobs, wurden zum Lohndumping missbraucht. Eines muss den Trittbrettfahrern im Arbeitgeberlager gesagt werden: Wer permanent und systematisch auf Kosten des Gemeinwesens wirtschaftet, der verletzt das Prinzip soziale Marktwirtschaft – und zwar doppelt. Erstens weigert er sich, für sein Geschäftsmodell zu haften und lässt sich vom Steuerzahler aushalten. Zweitens verstößt er gegen das Grundgesetz der Leistungsgerechtigkeit, indem er für volle Arbeitsleistung nur halbe Löhne zahlt und die Arbeitnehmer nach 40 Wochenstunden noch zum Sozialamt schickt.
So wie es war, wird es nie wieder
Wir brauchen deshalb eine neue Ordnung der Arbeit. Fast acht Millionen Menschen in Deutschland arbeiten zu Niedriglöhnen. Deswegen müssen aus Steuermitteln jährlich Milliardensummen für ergänzende Transferleistungen aufgewendet werden. Ein Mindestlohn von 8,50 Euro ist also nicht nur sozial gerecht, sondern würde auch die Subventionierung von unverantwortlichem Lohndumping beenden. Laut einer Studie würden die öffentlichen Haushalte durch einen allgemeinen Mindestlohn jährlich um fünf Milliarden Euro entlastet werden.
Eine differenzierte Debatte über die Arbeitsmarktreformen hat uns geholfen, Korrekturen vorzunehmen. Diese Diskussion darf aber nicht den Blick dafür verstellen, dass die Herausforderungen des nächsten Jahrzehnts andere sind als die der letzten Jahre. Deutlich wird dies beim demografischen Wandel, der vielleicht auf Samtpfoten daherkommt, aber einen grundlegenden Gesellschaftswandel mit sich bringt. Sprechen wir es aus: Deutschland wird nie wieder so sein wie zuvor! Das Arbeitskräfteangebot geht schon jetzt um 150 000 Personen jährlich zurück. Das so genannte Erwerbspersonenpotenzial, also die Zahl derer, die in der Lage sind, einer Arbeit nachzugehen, wird bis zum Jahr 2025 um rund 6,5 Millionen Personen sinken. Die Folge: Nach jahrzehntelangem Kampf gegen Massenarbeitslosigkeit droht uns ein gespaltener Arbeitsmarkt – mit verhärteter Langzeitarbeitslosigkeit sowie prekärer Beschäftigung auf der einen Seite und Fachkräftemangel auf der anderen Seite. Und dabei werden, wenn wir nicht gegensteuern, nicht nur hochqualifizierte Akademiker, sondern auch Facharbeiter und qualifiziertes Personal in Pflege-, Erziehungs- und Gesundheitsberufen fehlen. Fachkräftesicherung ist in der Breite der mittleren Qualifikation, nicht nur an der Spitze der Hochqualifizierten notwendig.
Die gute Nachricht lautet: Deutschland verfügt über ein großes Fachkräftepotenzial, das gehoben werden kann. Junge Menschen müssen besser ausgebildet werden, Frauen die Möglichkeit haben, höherwertig und vermehrt in Vollzeit zu arbeiten, Ältere bessere Chancen bekommen und Geringqualifizierte müssen aus- und weitergebildet werden. Ein Instrument dabei ist eine Arbeitsversicherung, die ein Recht auf Weiterbildung ermöglicht. Dafür muss Deutschlands Weiterbildungsinfrastruktur einen Qualitätssprung machen. Die Basis ist vorhanden: Deutschland hat gute Berufsschulen, die demografisch bedingt zunehmend freie Kapazitäten haben und die nun verstärkt für Bildung in der zweiten Lebenshälfte genutzt werden können.
Unsere Arbeitsgesellschaft bietet unter den Vorzeichen des demografischen Wandels bei hoher wirtschaftlicher Produktivität eine große Chance, Vollbeschäftigung in guter Arbeit mit fairen Löhnen zu erreichen. Von allein geschieht das aber nicht. Vielmehr gilt: Eine vorsorgende Arbeitsmarktpolitik wird zusammen mit mehr Investitionen in Bildung dazu beitragen, Arbeitslosigkeit präventiv zu verhindern, stabilere Erwerbsbiografien und gute Einkommen zu ermöglichen. Das ist der beste Schutz vor Altersarmut.
Die Debatte über die Sicherung des Rentenniveaus muss deshalb viel stärker als bisher vorsorgende Arbeits- und Bildungspolitik mit einbeziehen. Eine investive Arbeitsmarktpolitik kann nicht allein vom Staat gestemmt werden. Wir brauchen dazu auch vorausschauende Gewerkschaften und Arbeitgeber. Fortschrittliche Tarifpartner haben bereits vorbildliche Modelle entwickelt, auf die aufgebaut werden sollte. Der Tarifvertrag von IG BCE und dem Arbeitgeberverband Nordostchemie zu lebensphasengerechten Arbeitszeiten ermöglicht Beschäftigten auch Freiräume zur Weiterbildung.
Die Grundlage eines aufnahmefähigen Arbeitsmarktes ist eine dynamische Wirtschaft. Eine starke industrielle Basis ist dabei das Rückgrat unserer Volkswirtschaft. Sogar der amerikanische Präsident Barack Obama pries in der entscheidenden Fernsehdebatte mit seinem Herausforderer gleich zweimal den Industriestandort Deutschland als vorbildlich. Ich halte daran fest, was ich 2009 im „Deutschlandplan“ formuliert habe: Deutschland kann mit innovativer Produktion zum „Ausrüster der Welt von morgen“ werden – für ökologische Nachhaltigkeit, neue Energiequellen, Klimaschutz, Gesundheit, Mobilität, Kommunikation.
Kraft des Fortschritts, einst und jetzt
Dieses Ziel wird ohne eine kluge Industriepolitik nicht erreicht werden. Wir müssen die Investitionspolitik an diesen Leitmärkten und Zukunftstechnologien orientieren. Wir brauchen die steuerliche Forschungsförderung und müssen die Finanzierungsbedingungen des Mittelstands verbessern. Entscheidend für unsere ökonomische Zukunft ist eine bessere politische Steuerung der Energiewende, damit der Umbau zu einer sicheren, nachhaltigen und bezahlbaren Energieversorgung gelingt. Planungs- und Investitionssicherheit, ein stabiler Netzbetrieb und ein hohes Maß an Versorgungssicherheit müssen wieder zum Kennzeichen deutscher Energiepolitik werden. Zubau erneuerbarer Energien und Netzausbau müssen Hand in Hand gehen. Strompreise müssen bezahlbar bleiben und Effizienzgewinne müssen Kostensenkungen möglich machen.
Die Modernisierung unseres Industriestandortes erfordert entschlossene Investitionen in die Infrastruktur. Nachholbedarf besteht nicht nur beim Ausbau der Energienetze; vor allem das Kommunikationsnetz muss den Ansprüchen der digitalen Gesellschaft gerecht werden. Unsere Verkehrsinfrastruktur braucht eine neue Priorität für Erhalt und Modernisierung. Jeder Kilometer, jede Brücke, jeder Tunnel, die wir in den vergangenen Jahrzehnten gebaut haben, muss jetzt auch erhalten werden. Die SPD will den Infrastrukturkonsens für das 21. Jahrhundert.
Dabei ist nicht nur die Finanzierung von Netzen und Verkehrsknotenpunkten, sondern immer stärker die Akzeptanz von zentraler Bedeutung. Wir wollen die Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern auf die Höhe der Zeit bringen. Denn Betroffene sind heute oft ebenso gut informiert wie die Planungsträger. Frühere und transparentere Beteiligung macht den Weg frei für die schnellere Umsetzung. Wir wollen erreichen, dass die Generation, die ein großes Projekt plant, auch diejenige ist, die es umsetzt, baut und fertigstellt. Heute keine Selbstverständlichkeit, wie die jüngsten Erfahrungen zeigen.
Das Bundestagswahljahr 2013 ist für uns eine historische Wegmarke: Wir schauen zurück auf 150 Jahre Sozialdemokratie. Die SPD steht wie keine andere politische Kraft in Deutschland für den Fortschritt unseres Landes. Sie kämpfte für die Freiheit und die Demokratie, als darauf im konservativen Obrigkeitsstaat noch Festungshaft oder Zwangsexilierung standen. Sie rang in immer neuen Reformschritten um eine humanere Arbeitswelt, für den Achtstundentag, die Lohnfortzahlung bei Krankheit, den freien Samstag. Sie stritt für die Chancengleichheit durch gebührenfreie Schulen und für die Gleichstellung der Frauen. Diese Sozialdemokratie wird zu Beginn des 21. Jahrhunderts das Projekt Zukunft neu anpacken. Deutschland braucht eine neue Bundesregierung, die nach dem Satz von Willy Brandt handelt: „Der beste Weg, die Zukunft vorauszusagen, ist, sie zu gestalten.“
In den vergangenen anderthalb Jahren hat die SPD-Bundestagsfraktion einen intensiven Zukunftsdialog mit Hunderten von engagierten Bürgern geführt. Auf einem „Zukunftskongress“ legte Frank-Walter Steinmeier kürzlich die Ergebnisse vor: „Deutschland 2020. So wollen wir morgen leben. Bausteine eines Modernisierungsprogramms“. Zum Download: www.spdfraktion.de/projekt-zukunft