Das türkische Dilemma
Während diese Zeilen geschrieben werden, ist der jüngste Besuch von Bundeskanzlerin Angela Merkel in Ankara keine 24 Stunden her. Und der des türkischen Premierministers Ahmet Davutoglu in Berlin anlässlich der ersten deutsch-türkischen Regierungskonsultationen keine zwei Wochen. Die Bundesregierung, das macht der rege gegenseitige Besuch deutlich, setzt bei der Bewältigung der Flüchtlingskrise ganz auf die Regierung in Ankara – die AKP-Regierung von Staatspräsident Tayyip Erdogan an.
In was für einem Dilemma Angela Merkel dabei steckt, zeigt sich nicht nur an der Forderung der EU in diesen Tagen: Die Türkei soll den türkisch-syrischen Grenzübergang Öncüpınar öffnen und zehntausende neue Flüchtlinge ins Land lassen, die vor den Bombardierungen des Assad-Regimes und der russischen Luftwaffe Schutz suchen – während sie die Geflüchteten gleichzeitig an der Weiterreise nach Europa hindern soll. Währenddessen können sich die EU-Staaten nicht einmal über eine Verteilung von Flüchtlingen innerhalb der Union einigen. Dass die EU-Außenbeauftrage Federica
Mogherini die Türken dennoch an die „moralische und rechtliche Pflicht“ erinnert, weiterhin Schutzsuchende ins Land zu lassen, nachdem die Türkei bereits mehr als zweieinhalb Millionen Syrer aufgenommen hat, wird man in Ankara nur mit einem müden Lächeln quittiert haben.
Stadtteile wie im Kriegsland Syrien
Das Dilemma in der Zusammenarbeit mit der Türkei zeigt sich aber auch im deutschen Schweigen über die innenpolitischen Entwicklungen im Land: Dort wächst der Druck auf Regierungskritiker und Opposition. So laufen zum Beispiel Ermittlungen gegen die Vorsitzenden von zwei der drei parlamentarischen Oppositionsparteien. Viele kritische Journalisten sitzen in Haft oder werden eingeschüchtert. Im Ranking von „Reporter ohne Grenzen“ belegt die Türkei derzeit Platz 149 von 180 – zwischen Mexiko und der Demokratischen Republik Kongo. Die Gewaltenteilung erodiert; die Versammlungs- und die Meinungsfreiheit werden stark eingeschränkt. Vor kurzem wurden Ermittlungen gegen Wissenschaftler und Lehrbeauftragte an Hochschulen wegen „Propaganda für eine Terrororganisation“ eingeleitet. Ihr Vergehen? Angesichts des wieder aufgeflammten Konflikts zwischen den türkischen Sicherheitskräften und der PKK hatten sie nichts weiter getan, als eine Erklärung zu unterschreiben, die den Staat auffordert, für Frieden im Südosten des Landes zu sorgen und das Leben von Zivilisten zu schützen.
Laut Menschenrechtsorganisationen sind seit August 2015 in der Türkei mehr als 200 Zivilisten während der Kämpfe ums Leben gekommen. Einige Stadtteile von Diyarbakır, Cizre oder Silopi sehen inzwischen aus wie die zerstörten Orte, die wir von Bildern aus dem Bürgerkriegsland Syrien kennen. Tausende Menschen mussten ihre Häuser verlassen und sind auf der Flucht, derzeit noch innerhalb der Region. Aber auch sie könnten sich auf den Weg in Richtung Westen machen. Auch in der Türkei können also Ursachen für die Flucht nach Europa entstehen.
Hier geht es nicht um Werte
Als die AKP-Regierung Mitte des vergangenen Jahrzehnts unaufhörlich „EU-Mitgliedschaft! Reformen! Öffnung!“ propagierte, wurde sie von Angela Merkel hinhaltend mit dem Angebot einer „privilegierten Partnerschaft“ abgespeist. Es mutet wie bittere Ironie an, dass aus Deutschland gerade jetzt, da die türkische Regierung immer weiter ins Autoritäre abgleitet, der Ruf nach Visaerleichterungen und EU-Mitgliedschaft erklingt – wenn auch noch aus weiter Ferne und mit knirschenden Zähnen.
Dieses Dilemma der deutschen Flüchtlingspolitik bleibt auch der Opposition und den Regierungskritikern in der Türkei nicht verborgen. Spätestens seitdem Bundeskanzlerin Merkel kurz vor der Parlamentswahl am 1. November neben Staatspräsident Erdogan an im Yıldız-Palast in Istanbul auf absurd golden-barocken Sesseln Platz nahm, begriffen viele Türken die Priorität der Deutschen und Europäer: Hier geht es nicht um Werte, hier geht es um Realpolitik. Das Flüchtlingsaufkommen hat dazu geführt, dass Merkel dringend Erdogan ans Kooperation braucht, um Pegida, die AfD und auch die CSU in Schach zu halten. Ein nachvollziehbares Interesse.
Viele Oppositionelle, Intellektuelle und Liberale waren bestürzt über die Geste der mächtigsten Frau der Welt auf dem goldenen Stuhl, die sie als Wahlkampfhilfe für Erdogan ans AKP werteten. Dieses Bild befeuerte in der Türkei tagelang die Debatten. Viele Regierungsgegner werden auch nicht so schnell vergessen, dass EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und auch der deutsche Innenminister Thomas de Maizière feststellten, es sei gerade nicht an der Zeit, Menschenrechtsverletzungen in der Türkei zu kritisieren. Es gehe hier schließlich um einen Interessensausgleich. Man könnte auch genau andersherum argumentieren: Doch, genau jetzt ist der richtige Zeitpunkt. Einem Partner oder gar Freund kann, ja muss man die vielleicht unbequeme Wahrheit ins Gesicht sagen – gerade weil man ihn ernstnimmt.
Immerhin: Prinzipiell ist es natürlich gut, eigentlich unerlässlich, dass die Türkei wieder enger an Europa und besonders an Deutschland gebunden wird. Hier bestand immer eine besondere Beziehung. Mehr als drei Millionen Menschen in Deutschland stammen aus der Türkei. Viele deutsche Rentner genießen ihren Ruhestand lieber an der türkischen Riviera als in Kiel, Kassel oder Koblenz. Mit keinem anderen europäischen Land betreibt die Türkei so viel Handel wie mit Deutschland. Auch deutsch-türkische Ehen werden immer häufiger. Kurzum: Man kennt einander mittlerweile ganz gut.
Unbestritten ist die Türkei derzeit das Schlüsselland in der Flüchtlingsfrage. Und ja, auch das ist richtig, im Moment haben die Türken die moralische Führungsposition inne – während sie Millionen Flüchtlinge versorgen, liegen sich die Europäer in den Haaren und errichten Zäune. Diese Führungsposition haben die Europäer den Türken einfach so übergeben, nun müssen sie die Folgen managen – ebenso, dass die Türken die Flüchtlinge politisch instrumentalisieren. Nur: Ohne Berücksichtigung der innenpolitischen Situation kann das nicht gelingen. Ohne die Opposition, ohne die kritischen Geister, die Liberalen und Andersdenkenden, wird es nicht gehen. Sie in diesem Prozess auszuschließen, ist kurzsichtig.
Warum? Manchmal lohnt die Erinnerung an die eine oder andere politikwissenschaftliche Theorie. Etwa das „Konzept der strategischen und konfliktfähigen Gruppen“, entwickelt vor etwa 20 Jahren von den Politikwissenschaftlern Gunter Schubert, Rainer Tetzlaff und Werner Vennewald. Die strategischen Gruppen tragen das Regime und das Gewaltmonopol, sie sitzen an wichtigen Schaltstellen des Staates, während die konfliktfähigen (oder konfliktbereiten) Gruppen von Herrschaft und Ressourcen ausgeschlossen sind. Im Grunde besagt die Theorie, dass politischer Wandel in Schwellenländern oder sich entwickelnden Demokratien ein Resultat sich verändernder Kräfteverhältnisse zwischen diesen beiden Gruppen ist. Um den Wandel herbeizuführen, wenden sich die Konfliktfähigen gegen die bestehenden Macht- und Verteilungsverhältnisse und versuchen, die Interessen der benachteiligten Gruppen durchzusetzen. Im Grunde sind die Konfliktfähigen noch nicht „fertig entwickelte“ strategische Gruppen.
Kampf um den politischen Wandel
Auf die Türkei bezogen hieße das: Auch Vertreter der heutigen Regierungspartei zählten einmal zu den konfliktfähigen Gruppen, eine islamisch-konservative, wirtschaftlich neoliberale Bewegung, die Ende der neunziger Jahre die alten säkularen und etatistischen Eliten herausforderte, bis hin zu einem kalten Putsch des Militärs. Auch dieser Prozess war ein demokratischer Wandel. Inzwischen ist die AKP eine Art Symbiose mit dem Staat eingegangen und hat sich zur strategischen Gruppe fortentwickelt. Erfolg und Misserfolg demokratischen Wandels, soweit die Theorie, hängt auch von Allianzen beider Gruppen ab.
Diesen Kampf um den politischen Wandel kann man derzeit in der Türkei sehr gut beobachten. Allianzen zwischen den beiden genannten Gruppen gibt es derzeit nicht, zumindest wissen wir nichts von ihnen. Nicht einmal zwischen den einzelnen Oppositionsgruppen oder -parteien existieren entsprechende Bündnisse. Aber dass dieser Kampf für alle sichtbar stattfindet, ist ein gutes Zeichen.
Europas Werte müssen gültig bleiben
Was bedeutet das alles für Brüssel und für Berlin? Es bedeutet, dass eine zu Recht an einer stabilen, demokratischeren Türkei interessierte EU und Bundesregierung Vertreter der konfliktfähigen Gruppen nicht ignorieren kann (übrigens auch um des Friedens willen zwischen den Türkeistämmigen in Deutschland und Europa). Genau dies haben Vertreter der Bundesregierung bei den jüngsten Besuchen in der Türkei getan. Mittlerweile verfluchen viele Regierungskritiker, Liberale, Intellektuelle und Wissenschaftler die Haltung der Europäer und der Deutschen als heuchlerisch. Es wäre wichtig, ihnen zuzuhören. Sie erinnern sich noch gut an Angela Merkels Mahnung nach der Niederschlagung der Gezi-Park-Proteste 2013, die „europäischen Werte“ seien nicht verhandelbar.
Diese Streitenden, egal welcher politischen Richtung sie innerhalb des demokratischen Spektrums angehören, sind eben jene, ohne die eine demokratische Entwicklung der Türkei nicht vorankommen kann. Sollten sie aufhören, an das Versprechen Europas zu glauben, sollten sie womöglich gar Gesellschaft und Politik ganz den Rücken kehren, so wäre dies ein heftiger Rückschlag für die weitere Demokratisierung der Türkei. Und ohne Demokratie gibt es auf Dauer keine Stabilität. Aber das weiß sicherlich auch eine Bundeskanzlerin, die keine politischen Theorien studiert hat.