Das Unbehagen im Föderalismus
Der Freiburger Kabarettist Matthias Deutschmann kommentierte die Verhandlungen der Föderalismuskommission jüngst bissig: “Hat das Saarland einen tieferen Sinn?” Sollten wir von Mecklenburg-Vorpommern nicht eher als einer “Bundeslandschaft” denn als Bundesland sprechen? Damit artikulierte Deutschmann eine in der politischen Klasse weit verbreitete Skepsis gegenüber dem deutschen Föderalismus. Die Ursache für die Unbeweglichkeit des föderalen Systems suchen viele bei den Ländern. Wegen ihrer Weigerung, dem Bund mehr Rechte in der Bildungspolitik zuzugestehen, ist der jüngste Anlauf zur Reform des Föderalismus fehlgeschlagen.
Doch kommen zu den kurzfristigen Gründen für das Scheitern der Föderalismuskommission im Dezember 2004 langfristige und strukturelle Ursachen hinzu. In der Föderalismusdebatte stießen nicht nur Interessen der Länder und des Bundes aufeinander, sondern der Konflikt wurde auch noch durch die Dispositionen der politischen Parteien für oder gegen eine Umgestaltung des bundesdeutschen Föderalismus verstärkt. In der Föderalismus-Kommission saß der von der SPD geführten Bundesregierung, die der Tradition des Unitarismus verpflichtet ist, eine Ländermehrheit der Union gegenüber, die den föderalen Staatsaufbau favorisiert. Die strukturell verschiedenen Interessen von Bundesregierung und Ländern wurden durch die Parteitraditionen weiter verstärkt. Waren es also einfach schlechte Zeiten für eine Föderalismusreform? Dagegen spricht, dass auch die vorangegangenen Reformanläufe während der Regierungszeit Helmut Kohls (die Föderalismuskommissionen, die Verfassungsrevision 1994 und die Enquete-Kommissionen der Länder) mit umgekehrten Mehrheitsverhältnissen in Bundestag und Bundesrat keine vorzeigbaren Ergebnisse erbrachten. Um das Scheitern der Föderalismuskommission zu verstehen, muss man die historischen Dispositionen der politischen Parteien und nicht nur diejenigen der Länder und des Bundes verstehen. Schließlich stehen die Parteien im Zentrum der politischen Entscheidungsfindung zwischen Bundesregierung und Bundesrat. In der Position der heutigen Sozialdemokratie gehen die Interessen der Bundesregierung und der Partei ganz zwanglos zusammen. Sie verdient einen näheren Blick.
Marx und Engels waren Zentralisten
Für die Sozialdemokratie war der Föderalismus nie nur eine Frage des Staatsaufbaus, sondern immer auch der Demokratie als Regierungssystem. Sozialdemokraten waren historisch gesehen demokratische Unitaristen, weil der Föderalismus im Deutschen Kaiserreich nach 1871 als Demokratiebremse wirkte. Ihr Unitarismus ergab sich für die frühen Sozialisten zum einen aus der marxistischen Tradition, zum anderen aus dem politischen System des Bismarckreiches. Karl Marx und Friedrich Engels favorisierten in der frühen Programmdiskussion der deutschen Sozialisten einen scharfen Zentralismus. Sicher mussten die Arbeiter ihren Kampf nun einmal in dem föderalen System führen, in dem sie lebten. Aber für einen substantiellen Föderalismus war im Theoriegebäude von Marx und Engels kein Platz. Jede noch so leichte Aufweichung des Unitarismus wurde von ihnen gegeißelt. Engels lehnte jede pragmatische Anerkennung der bundesstaatlichen Realitäten im Erfurter Programm von 1891 aufs Schärfste ab: “Auf Grundlage dieser Verfassung und der von ihr sanktionierten Kleinstaaten, auf Grundlage eines Bundes zwischen Preußen, Reuß-Greitz-Schleitz-Lobenstein, wovon das eine so viel Quadratmeilen hat als das andere Quadratzoll, auf solcher Grundlage die ‚Umwandlung aller Arbeitsmittel in Gemeineigentum‘ durchführen zu wollen, ist augenscheinlich sinnlos.”
Aber auch die Wirkung des deutschen Föderalismus im politischen Alltag bestärkte die Sozialdemokraten in ihrem Anti-Föderalismus. Die Verfassung von 1871 etablierte den Bundesrat. Der Reichskanzler war dem Deutschen Kaiser, nicht aber dem Reichstag verantwortlich. Wenn heute im bundesdeutschen Föderalismus mangelnde Transparenz und unklare Zumessungen von Verantwortung gesehen werden, dann war das auch im Kaiserreich der Fall. Hinter dieser undurchsichtigen Verfassungskonstruktion machte sich Preußen unangreifbar. Der Föderalismus des Kaiserreiches und die Prärogativen der preußischen Militärmonarchie standen einer Demokratisierung des Reiches entgegen. Die sächsische und die preußische Regierung wetteiferten darum, wer das Sozialistengesetz härter anwandte. Das föderale System des Reiches verhinderte strukturell, dass die sozialdemokratischen Wahlerfolge bei den Reichstagswahlen in politische Gestaltungskraft umgesetzt werden konnten.
Die unitarische Partei von Weimar
Vor 1914 galten Fragen des Staatsaufbaus in der marxistischen Arbeiterbewegung als Epiphänomene sozialer Klassenkämpfe. War vor 1914 der Gesichtspunkt der Einheit der Arbeiterklasse für die Haltung zum Föderalismus entscheidend, so war es nach 1918 die Einheit der Partei. Der Unitarismus des Verfassungsentwurfes von Hugo Preuß stieß auf Widerstand auch in von der MSPD und der USPD regierten Ländern wie Preußen (Paul Hirsch) und Bayern (Kurt Eisner). Die staatspolitische Verantwortung zwang die MSPD-Führung dazu, einen Bundesstaat und die Fortexistenz der deutschen Länder zu akzeptieren. Der Weimarer Verfassungskompromiss schuf zwar keinen dezentralisierten Einheitsstaat, wie ihn die sozialdemokratische Parteiführung anstrebte. Weimar war aber sehr viel unitarischer als das Kaiserreich – und als die Bundesrepublik.
Gegen Föderalismus und Rätegedanken
Den Unitarismus teilten die gemäßigte MSPD und die radikalere USPD. Große Teile der von der MSPD abgespaltenen Unabhängigen Sozialdemokraten (USPD) liebäugelten mit dem Rätemodell. Friedrich Ebert und die MSPD-Führung verteidigten die repräsentative Demokratie gegen die Schwesterpartei. Die Mehrheitssozialdemokraten beharrten darauf, dass das Bekenntnis zum Sozialismus von der repräsentativen Demokratie nicht zu trennen sei. Die MSPD setzte eine aus demokratischen Wahlen hervorgegangene Konstituante durch. Der demokratische Unitarismus der Weimarer SPD war ein doppelter Abwehrkompromiss: gegen die Föderalisten im Reich und in den eigenen Reihen hielt man ideologisch am Unitarismus fest, gegen den Rätegedanken der Unabhängigen an der Demokratie. Doch waren sich die Weimarer Republikaner nie sicher in ihrem demokratischen Haus. Die Entmachtung des Reichstages in den Präsidialkabinetten seit 1930 bereitete den Untergang der Republik vor.
1949 bestimmte dann die nationale Einheit die Haltung der SPD zum Föderalismus. Unter den Bedingungen der deutschen Teilung war aus der Sicht der SPD die demokratische Frage nicht von der nationalen Frage zu trennen. Daher verstand sich die SPD nun als eine betont nationale Partei. Kurt Schumacher sah kein Problem darin, dies mit dem Internationalismus der Tradition zu verbinden: “Die Sozialdemokratische Partei sieht ihre Aufgabe darin, die Partei der deutschen Patrioten und der internationalen Sozialisten zu sein.” In dem bundesstaatlichen Föderalismus der süddeutschen CDU und CSU erblickte die SPD-Parteiführung schlicht die Spaltung der Nation. Mit der gleichen Verve, mit der die Nationalliberalen 1871 gegen die Reservatrechte Bayerns und Württembergs vorgegangen waren, argumentierte die SPD 1949 gegen den Föderalismus ihrer politischen Gegner. Dass der neue Staat starke Kompetenzen des Bundes kannte, schrieb sie sich zu. Im Rückblick auf die Verhandlungen im Parlamentarischen Rat meinte Kurt Schumacher 1952: “Nur durch die Sozialdemokratie ist ein Grundgesetz zustande gekommen, das diese Bundesregierung überhaupt erst funktionsfähig macht.” Schumacher setzte 1952 auf “nationales Selbstbewusstsein”: “Nur ein Volk, das sich selbst behauptet, kann ein wertvolles Glied einer größeren Gemeinschaft sein.”
Die lauwarmen Föderalisten von Godesberg
Erst in den 1950er Jahren machte die SPD im politischen Alltag mit dem Föderalismus ihren Frieden. Die Dortmunder und Berliner Aktionsprogramme von 1952 und 1954 stellten sich auf den Boden der gegebenen Tatsachen. “Die deutsche Republik muss ein Bundesstaat mit einheitlicher Regierungsgewalt sein” (Dortmund 1952). Ein in Freiheit wiedervereinigtes Deutschland sollte ein “Bundesstaat auf der Grundlage leistungsfähiger Länder” sein (Berlin 1954). Das Godesberger Parteiprogramm von 1959 hielt freilich immer noch Distanz zum Föderalismus. Ganz lauwarm und mit einem Schuss Sophistik wies die SPD darauf hin, dass sie den Bundesstaat akzeptierte. Das tat sie indessen nur indirekt: Die SPD “steht zum Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland”. Auf die Staatsform eines wiedervereinigten Deutschlands wollte sich die SPD auch 1959 noch nicht festlegen. Ähnlich wie ein Ebert bei seinen Reserven gegenüber den Entscheidungen der Räte vor den Nationalversammlungswahlen 1919 argumentierte die SPD im Godesberger Programm, dass es dem ganzen Volk nach der Wiedervereinigung vorbehalten bleiben müsse, “Inhalt und Form von Staat und Gesellschaft” zu gestalten. Diese Unterordnung des Föderalismus unter die Demokratie zeigt noch das Berliner Programm von 1989. Den Bundesstaat sucht man dort vergeblich. Der Föderalismus wird im Demokratiekapitel mit der Pointe behandelt, dass er das Gestaltungsprinzip der Europäischen Gemeinschaft werden soll.
Gefangene der eigenen Parteigeschichte
Die Sozialdemokratie blieb mit Blick auf den Föderalismus die Gefangene ihrer Geschichte. Eine entwickelte sozialdemokratische Föderalismusdebatte wird man daher in der Bundesrepublik vergebens suchen. Der Bundesstaat gehörte nicht gerade zu den Eidesformeln der Genossen. Die Ursache dafür lag zum einen in der historischen Konfrontation mit dem zutiefst undemokratischen preußischen Obrigkeitsstaat, zum anderen aber in der Verteidigung des Demokratieprinzips gegenüber dem Rätegedanken. Beides ließ eine Aneignung des Föderalismus nicht zu. Die historischen Frontstellungen gegen den preußischen Obrigkeitsstaat und die Klassengesellschaft brannten sich in das Gedächtnis und die Programmatik der Sozialdemokratie ein. Sozialdemokraten kämpften für die Demokratie. Das bedeutete in der Praxis den Auf- und Ausbau demokratischer Institutionen, das Frauenwahlrecht, die Stärkung der Parlamentsrechte, gleiche Chancen im Wahlkampf und das Ende des Bündnisses der Obrigkeit mit den antidemokratischen Eliten.
In der Bundesrepublik gelang der Aufbau demokratischer Institutionen. Nach 1945 wurden wesentliche Bastionen des antidemokratischen Denkens geschleift. Auch die Kirchen entdeckten allmählich, dass die Demokratie nicht eine fremde Angelegenheit war, die sie zur Not tolerierten, sondern dass sie einen ureigenen Wert darstellte. Die Demokratie erhielt jetzt den kirchlichen Segen. Dass die Demokratie jetzt breit akzeptiert wurde, lasen Liberale und Sozialdemokraten an der Durchsetzung des Parlamentarismus ab. Das stärkte ihr unitarisches Selbstbewusstsein. 1961 erklärte die FDP im Deutschen Bundestag unter dem Beifall der Sozialdemokraten: “Die Länder können sich dagegen wehren; entscheidend ist schließlich die Meinung des Parlaments.”
Von Carlo Schmid zu Brigitte Zypries
Der Unitarismus der SPD fand in der Bundesrepublik eine neue programmatische Grundlage. An die Stelle des älteren demokratischen trat jetzt der soziale Unitarismus: die Angleichung der Lebensverhältnisse und später die Chancengleichheit in der Bildungspolitik. Bereits auf dem Parteitag 1948 sah Carlo Schmid die Funktion eines Bundesrates weniger in der Interessenvertretung der Länder, als vielmehr darin, vergleichbare Lebensverhältnisse zu schaffen. Dieses Argument findet sich auch in der heutigen Haltung der Bundesjustizministerin Zypries. Ihre Optik auf das Föderalismusproblem ist das soziale Interesse an gleichen Lebensverhältnissen. Sie wirbt für bundesweit gleiche Gesetze im Mietrecht, im Wirtschaftsrecht, für gleiche Bildungsstandards et cetera. Die Ministerin steht für eine Mehrheit von Sozialdemokraten, die die Föderalismusdiskussion auf den Satz verkürzen: “Studieren zu können darf nicht abhängig vom Geldbeutel der Eltern sein” (Die Zeit vom 21.10.2004). Wer wollte dem widersprechen? So beendet man eine Diskussion durch eine rhetorische Frage. Wenn Föderalismus die Wiedereinführung des Besitzprivilegs auf Bildung bedeutet, wer wollte da nicht für den Unitarismus bundesweit gleicher Zugangschancen zu höheren Schulen und Universitäten sein? Handelt es sich hier um ein Argument oder um eine Schutzbehauptung?
Die weiterhin vorhandenen Ungleichheiten zwischen Ost und West, aber auch zwischen den sozialen Gruppen im ganzen Land bilden für den sozialen Unitarismus der SPD den Sitz im Leben. Die sozial-unitarische Sicht auf den Föderalismus kann sich auf einen Demokratiebegriff stützen, der soziale Gleichheit stark macht. Auf der Strecke bleibt dabei die bürgerliche Partizipation und die zivile Trägerschaft politischer Demokratie. Die ältere Aufgabe der SPD, die Demokratie gegen die Verweigerung der Teilhabe zu sichern, ist nämlich im letzten Jahrzehnt in erneuerter Gestalt zurückgekehrt. Feste demokratische Institutionen garantierten noch keine Verankerung der Demokratie in der Gesellschaft. Die Demokratie- und Politikverdrossenheit wuchsen mit der Durchsetzung der Demokratie im Bundesstaat. Die Entwicklung von Föderalismus und Demokratie in der Bundesrepublik haben die Gesetzgebung in die Hand des Bundestages und des Bundesrates gelegt. Entstanden ist ein weitgehend immobiles System, bei dem die regierende Partei ständig auf die Zustimmung der Opposition angewiesen ist. Die oft zitierte “Verflechtungsfalle” (Fritz Scharpf) des demokratischen Prozesses begründet die “Kartellisierung von Entscheidungsprozessen” im politischen Raum. Die Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern reduzieren sich auf ein unterschiedliches Gewicht bei der Bundesgesetzgebung. Für diesen “Föderalismus ohne Vielfalt” hat sich der Begriff “Verhandlungsdemokratie” unter der immer gleichen politischen Klasse eingebürgert. Aus dem Blickfeld geraten dabei diejenigen, die im Vermittlungsausschuss nicht mit am Tisch sitzen, etwa die Länderparlamente.
Keine Transparenz, massive Entfremdung
Die Kosten der Entwicklung demokratischer Institutionen, wie sie sich im Jahr 2005 darstellen, sind hoch. Die Transparenz politischer Entscheidungen ist im Alltag aufgehoben, weil die Zuordnung der Zuständigkeiten von Fall zu Fall variiert und nur schwer kommuniziert werden kann. Das Ergebnis ist eine massive Entfremdung des Wahlvolkes von Demokratie und Politik, ablesbar an Mitgliedschaften und Wahlbeteiligung. Das demokratische Prinzip, das schon institutionell gesichert erschien, kehrt als Problem auf die Tagesordnung zurück. Die ältere Antwort der SPD, aus genuin demokratietheoretischen Gründen den Föderalismus ganz zu beseitigen, würde genau dieses Problem nicht lösen, sondern eher verstärken. Einen besseren Zugang zu demokratischen Institutionen würde die Abschaffung des Föderalismus nicht bieten.
Die unterschätzten Vorzüge des Föderalismus
Die Demokratie lebt von der Durchsichtigkeit der Verantwortungsstrukturen. Der Föderalismus hat demokratietheoretische Wurzeln. Darauf wiesen in den 1950er Jahren bereits hessische und bayerische Sozialdemokraten hin. Für den hessischen SPD-Vertriebenenpolitiker Wenzel Jaksch und den bayerischen SPD-Vorsitzenden Waldemar von Knoeringen bildeten Demokratie und Föderalismus keine Gegensätze. Knoeringen hatte aus den Erfahrungen der Diktatur heraus die Sicherungen des Föderalismus gegen den Machtmissbrauch im Blick. 1956 bekannte er sich zu einem “Föderalismus nicht im Sinne überlebter Reservate, sondern als System der Gewichtsverteilung von zentraler Macht und demokratischer Kontrolle”. Die mitbestimmende und kontrollierende Funktion der Länder sollte seiner Ansicht nach um der Demokratie willen mit der zentralisierenden Tendenz des Gesamtstaates Schritt halten. Der Föderalismus sollte die “Vielfältigkeit eines freien kulturellen Wachstums mit der Notwendigkeit nationaler Einheit” verbinden. Knoeringen wertete die Gemeinden und Städte in einem gegliederten Staatswesen neben den Ländern auf. Das Godesberger Programm nahm diesen Akzent auf. Die Gemeinden, Länder und der Bund boten die Garantie dafür, dem “Bürger durch Mitbestimmung und Mitverantwortung vielfach Zugang zu den Institutionen der Demokratie zu geben”.
Dass der Föderalismus den Bürgern den Zugang zu demokratischen Entscheidungsebenen erleichtert, ist ein Gesichtspunkt, der in der SPD hinter dem sozialen Unitarismus zurücktritt. Der soziale Gegensatz ist die vorherrschende Polarität, die das Raster für die Interpretation des Föderalismus vorgibt. Damit werden jedoch Chancen einer bürgernahen Politik der Teilnahme und Akzeptanz verkannt. Der Ansatz der Subsidiarität zielt darauf ab, Entscheidungen bürgernäher und damit nachvollziehbarer zu machen. Er bereichert die föderale Diskussion. Entscheidend bleibt, dass die unteren Entscheidungsebenen politische und gesellschaftliche Relevanz behalten, damit der Bürger Zugang zu Inhalten und Begründungen der Politik erhält. Erst die echte Bürgerbeteiligung verhindert die Austrocknung der demokratischen Substanz unseres politischen Systems. Effizienzgesichtspunkte, die gegen die Subsidiarität angeführt werden, stellen eher Scheinargumente dar. Während die Beschlüsse der Kultusministerkonferenz von den Landtagen nur noch durchgewinkt und durch Schulden finanziert werden, fördert eine bürgernahe Schulpolitik die Bereitschaft des Bürgers zum finanziellen Engagement (Roland Sturm).
Es droht die innere Auszehrung der Demokratie
Das berechtigte Anliegen der Angleichung der Lebensverhältnisse darf daher nicht der einzige sozialdemokratische Blickwinkel auf den Föderalismus sein. Was man auf der einen Seite an sozialer Substanz gewinnt, könnte man auf der anderen an demokratischem Gehalt verlieren. Die demokratische Frage stellt sich heute für die Sozialdemokratie neu. Sie ist mit dem Abtritt von Junkern und Schlotbaronen und der gestiegenen Durchlässigkeit sozialer Schranken nicht verschwunden. Im Gegenteil: Es droht die innere Auszehrung der Demokratie. Eine Verkürzung der Föderalismusdiskussion auf den sozialen Unitarismus entspräche gerade nicht den programmatischen Ursprüngen der Partei, die als urdemokratische Protestbewegung gegen die strukturelle Verweigerung von Teilhaberechten entstanden ist.