Das verwüstete Land
Christa Wolf, Der geteilte Himmel (1963)
Stille liegt über Zschornewitz an diesem grauen Vormittag. An der Imbissbude vor der Discount-Kaufhalle bekämpfen drei Männer in Trainingshosen und Halbschuhen die zähe Zeit. Nur ein paar Autos stehen auf der struppigen Freifläche, die zwischen der Abraumhalde und dem verlassenen "Clubhaus der Bergarbeiter" als Parkplatz dient. Ein Ehepaar verstaut seine Einkäufe im Kofferraum. Aus einem startenden Opel Corsa sind ein paar wummernde Technobeats zu hören. Matt blicken die drei Männer dem Kleinwagen nach. Als er um die Ecke gebogen ist, liegt alles so still da wie zuvor.
Beschaulich ging es auch früher zu in Zschornewitz, doch das liegt lange zurück. Noch in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts war der Ort bloß ein verträumtes Heidedorf von 250 Einwohnern fernab allen Verkehrs irgendwo zwischen Wittenberg, Bitterfeld und Dessau in der preußischen Provinz Sachsen. Wie ihre Vorfahren seit Jahrhunderten ernähren sich die Zschornewitzer vom Ackerbau, von der Viehzucht, von der Arbeit im Forst. Dann bricht das grundstürzende Jahr 1915 an, und mit einem Schlag wird alles anders in Zschornewitz. Innerhalb von neun Monaten lässt die AEG hier das größte und modernste Braunkohlekraftwerk der Welt aus dem Boden stampfen. Aus 15 je 100 Meter hohen Schornsteinen quillt nun ständig schwarzer Aschenrauch, über dem Ort hängen die Regenwolken von 21 mächtigen Kühltürmen. So wichtig ist das Werk, dass sich 1920 während des Generalstreiks gegen den Kapp-Putsch von hier aus die Berliner S-Bahn lahm legen lässt. Fast 1.200 Einwohner hat Zschornewitz schon 1915, über 5.200 werden es bis 1958 sein. "Die Menschen, die durch dieses Werk hier ansiedelten, sind aus den verschiedensten Teilen Deutschlands gekommen", schreibt ein Zschornewitzer Schulmann in den zwanziger Jahren. "Nichts wissen sie von den alten Bräuchen und von den alten Flurnamen der Zschornewitzer. Und doch ist Zschornewitz ihre Heimat geworden ... Ihr Heimatgefühl äußert sich in einem berechtigten Stolze auf ihr Zschornewitz, auf dessen Flur sich das über die Grenzen des Vaterlandes in Fachkreisen gut bekannte Großkraftwerk befindet."
Ein fundamental neuer Zustand war eingetreten. Das alte Heidedorf gab es nicht mehr, auch die Erinnerung daran verblasste. Während des "kurzen 20. Jahrhunderts" (Eric Hobsbawm) gehört Zschornewitz ganz der Industrie. Es ist der Pulsschlag des Kraftwerks, der nun viele Jahrzehnte lang Lebensweise und Mentalität der Menschen prägen wird. Für die Arbeiter und ihre Familien entsteht bis 1922 gleich vor den Werkstoren die "Kolonie", eine architektonisch ambitionierte Gartenstadt mit Siedlungshäusern und Grünanlagen, Kleintierställen und Nutzgärten. Von Anfang an verursacht der Kühlregen Hausschwamm, andauernd sind irgendwelche Reparaturen nötig. Doch die Bewohner helfen sich mit Improvisation über die Runden, bessern aus, reparieren, helfen einander. Auch das prägt die proletarische Identität der neuen Zschornewitzer, von der vorindustriellen Welt wissen schon ihre Kinder nicht mehr viel. Für die politische Integration der neuen Gesellschaft am Ort sorgen die sozialistischen Arbeitervereine, noch bei den Märzwahlen 1933 entscheiden sich fast zwei Drittel der Zschornewitzer für SPD oder KPD.
Seinen Höhepunkt erreicht der extensiv betriebene Großindustrialismus in den Jahrzehnten der DDR. Allein seine mitteldeutsche Braunkohle kann der zweite deutsche Staat verfeuern, um seinen Energiebedarf zu decken. Immer größere Leistungen werden den Zschornewitzer Arbeitern abverlangt. Der Verschleiß an Kraftwerk und Kolonie nimmt ständig dramatischere Formen an, den "Winterkampf" bestehen die Kraftwerker nur noch mit größter Mühe. Auf den Kohlezügen gefriert die nasse Braunkohle und lässt sich nicht entladen. Technisch ist das Kraftwerk veraltet, die Arbeitsbedingungen sind so schlecht wie im Kaiserreich, und die Bausubstanz der Koloniehäuser droht endgültig zu zerbröseln. Vollständig umschlossen von ausgekohlten Tagebauflächen liegt der Ort unter immerwährendem Dunst. "Zschornewitz wurde erneut eine Legende", schreibt Herlind Reiß in ihrem Buch Kraftwerk und Kolonie Zschornewitz, "nur bezog sie dieses Mal ihren Ruhm nicht aus technischen Innovationen, sondern aus der Kreativität und Belastbarkeit menschlicher Arbeit."
Irgendwie halten die Zschornewitzer all die Jahre lang durch in ihrem Versuch, dem immer widrigeren Leben in der verseuchten und geschundenen mitteldeutschen Industrieprovinz ein Minimum an Zufriedenheit abzugewinnen. Kollektives Selbstbewusstsein verschafft immerhin die Gewissheit, gebraucht zu werden. In gewisser Weise stimmt die Rede vom "starken Arm" des Proletariats unter den Bedingungen sozialistischer Zentralverwaltungswirtschaft sogar. Die Energiewerker der Braunkohleprovinz verdienen gut und werden von der offiziellen Rhetorik gehätschelt. "Ich bin Bergmann, wer ist mehr", heißt die Beschwörungsformel, mit der man in der DDR die Misere des Alltags zu überspielen versucht. Denn in Wirklichkeit sind die Kraft- und Kohlewerker in ihrer verpesteten, zerschrundeten Region verraten und verloren. Was ihnen bleibt, sind die Feste und Trinkgelage im "Club der Bergarbeiter".
Nach der Revolution von 1989 halten sich die ausgepowerten Zschornewitzer einen Augenblick lang für Gewinner. Strom brauchen die Leute immer, glaubten sie. Es kommt ganz anders, und wie acht Jahrzehnte zuvor könnte der Umbruch nicht vollkommener sein. Schon 1992 wird das Kraftwerk abgeschaltet. Beendet ist damit auf einen Schlag die gesamte Zschornewitzer Industriegeschichte. Nur die Menschen sind noch da, die das industrielle 20. Jahrhundert hervorgebracht hat. Zum ersten Mal seit vielen Jahren strahlt der Himmel über Zschornewitz blau und klar, doch Arbeit für viele wird es hier nie mehr geben. Nur ein paar "Fremdfirmen" - wie die Leute hier sagen - werkeln noch auf dem riesigen Werksgelände. Was nun passiert, kommt deshalb überraschend. Ausgerechnet jetzt, da man die Menschen nicht mehr braucht, entdecken Architekten und Raumplaner die Zschornewitzer "Kolonie" als bedrohte städtebauliche Kostbarkeit. All die Jahrzehnte haben die Zschornewitzer Arbeiter mit ihren Familien in brikettschwarzen Häusern gelebt. Immer weiter war hier alles vermodert und verkeimt. Und keine Obrigkeit hatte sich je darum gekümmert. Nun wenigstens sollen die neuen Überflüssigen wenigstens schöner wohnen.
Ästhetischer Anspruch und symbolische Enteignung
Unter dem Motto "Verwandlungen" wird die Werkskolonie Zschornewitz zu einem Projekt der EXPO 2000 gemacht. Das Ergebnis des Sanierungsvorhabens ist sehenswert. Als beispiellos sorgfältig herausgeputzte Insel properster Wohnqualität steht die Siedlung heute fremd und erhaben inmitten der namenlosen Ödnis überall ringsum. Ein ästhetischer Gewinn ist das gewiss. Die Architekten und Bauherren aus den großen Städten haben sich sogar bemüht, auf die Wünsche der Mieter einzugehen. Irgendetwas ist trotzdem schiefgegangen. Gerade erst aus sämtlichen Bezügen ihrer Arbeitswelt gefallen, hingen die Bewohner - paradoxerweise, aber im Grunde kaum verblüffend - umso mehr an ihrer maroden Lebenswelt. Gerade so wie sie in langen Jahren gelebten Lebens geworden war, hatten die Menschen ihre Kolonie geliebt. Bei aller Unvollkommenheit war sie ein letzter vertrauter Rückzugsraum gewesen.
Den Planern hingegen ging es um das städtebauliche Kleinod: "Die über Jahre "wild" selbst errichteten Anbauten und Garagen wurden abgerissen", heißt es forsch in ihrer Broschüre. Von den Bewohnern der Kolonie erwartete man das "Abschiednehmen von lieb gewonnenen Einrichtungen, die unter Mühen und auf eigene Kosten selbst geschaffen worden waren". Asymmetrisch standen sich ästhetischer Anspruch und lebensweltlicher Eigensinn gegenüber, weshalb die gut gemeinte Sanierung ihrer Siedlung für manche Zschornewitzer vor allem eine symbolische Enteignung bedeutete. Etliche sind weggezogen, die Jüngeren sowieso. Die geblieben sind, wissen die objektiven Vorzüge der neuen Wohnqualität ihrer Häuser durchaus zu schätzen. Doch weil diese Modernisierung den Umbruch aller Lebensverhältnisse eher noch verschärft, bedeutet sie für die Menschen hier zugleich weitere Entfremdung. "Früher wusstest du, du hast Arbeit, da konntest du am nächsten Morgen wieder hingehen", sagt eine Frührentnerin aus der Kolonie. Heute weiß sie nicht mehr, wohin sie sich wenden soll. Die alte Arbeitsgesellschaft ist in Zschornewitz Geschichte, zum Guten wie zum Schlechten. "Die schmucke Siedlung zeigt nunmehr ein idyllisches Gesicht", haben die Siedlungssanierer in ihrer Broschüre aufgeschrieben. "Der Betrachter könnte meinen, der Kreis zum alten Heidedorf Zschornewitz schließe sich hier wieder." Das ist so gedankenlos wie gut gemeint. Tatsächlich, das Zeitalter von Bergbau und großer Industrie ist in Zschornewitz vorüber. Aber die Überlebenden des 20. Jahrhunderts sind noch da. Genau das ist das Problem - nicht nur in Zschornewitz, nicht nur in Sachsen-Anhalt. Aber gerade hier mehr als anderswo.
Gewiss, Zschornewitz ist nicht Sachsen-Anhalt. Aber wie ist denn Sachsen-Anhalt dann? Wer heute auf den Autobahnen von und nach Berlin unterwegs ist, der mag das Land ziemlich unbeachtlich finden - flach, hier und da ein bisschen hügelig, und flächendeckend zugestellt mit riesigen Windrädern sonder Zahl. Irgendwo überquert man die Elbe, und bald liegt das merkwürdig gesichtslose Land schon wieder hinter einem. Man muss sich schon ein bisschen einlassen auf dieses Sachsen-Anhalt, um überhaupt etwas davon zu begreifen. Dann aber erweist sich das unscheinbare Bundesland als landschaftlich, kulturell und architektonisch überraschend vielfältige Region. So gegensätzlich ist dieses Land, dass es ein Sachsen-Anhalt eigentlich gar nicht gibt. Zu Sachsen-Anhalt gehören die weiten, menschenleeren Great Plains der Altmark im Norden und die Weinbaustädtchen zwischen lieblichen Hügeln wie Freyburg und Bad Kösen ganz im Süden. Sachsen-Anhalt, das sind die dunklen Höhenzüge des Harzgebirges, die fetten Äcker der Magdeburger Börde, die unzerstörte Stromlandschaften der Elbe. Zahllos sind die - überall sorgfältig restaurierten - kleinen Städte mit je verschiedener Geschichte und Kultur: Wittenberg und Quedlinburg, Salzwedel und Halberstadt, Stendal und Zeitz, Naumburg an der Saale und Tangermünde an der Elbe. Nicht bloß geografisch sind Sachsen-Anhalts Landschaften ein Herzland deutscher Geschichte. Luthers Reformation begann in Wittenberg, Händel musizierte in Halle, Bismarck startete seine Karriere in dem Dorf Schönhausen in der Altmark, Friedrich Ludwig Jahn turnte in Freyburg an der Unstrut herum, Walter Gropius errichtete in Dessau das Bauhaus, und ein Dessauer von Weltruhm war auch Kurt Weill. Das alles ist Sachsen-Anhalt eben auch.
Land aus einem Guss? Dazu hatte Sachsen-Anhalt nie die Chance
Man könnte eine Weile weitermachen damit, auf diese Weise Namen, Ereignisse, Symbol- und Erinnerungsorte aufzuzählen. Das wird in Sachsen-Anhalt auch ausgiebig getan, das Legitimationsbedürfnis ist hier groß, aus identitätspolitischen Gründen. Man will mehr sein als das unscheinbare Bindestrich-Land mit der ewigen roten Laterne. Doch irgendetwas fehlt. Aus irgendwelchen Gründen schlägt die historische Quantität nicht in identitätsstiftende Qualität um. Geschichtlichkeit und Überlieferung fügen sich in Sachsen-Anhalt nicht zu einem Gesamtbild, an dem sich die Menschen emotional warm halten könnten. Die Chance freilich, in Jahrzehnten wirtschaftlicher Prosperität zu einem Land aus einem Guss zusammenzuwachsen, hat Sachsen-Anhalt nie gehabt. Auf irgendwelche historischen Perioden innerer Einheit kann das Land nicht zurückblicken. Nach dem Zweiten Weltkrieg aus dem kleinen Anhalt und der weitaus größeren preußischen Provinz Sachsen zusammengesetzt, existierte Sachsen-Anhalt überhaupt nur in den Jahren 1947 bis 1952 als staatsrechtliche Einheit, bevor man es schon wieder auf die neu erfundenen DDR-Bezirke Halle, Magdeburg, Cottbus und Leipzig verteilte. Bereits die Provinz Sachsen freilich war ihrerseits kaum mehr als ein "wunderliches Gewirr" (Treitschke) ohne einheitlichen Charakter gewesen.
Auf eine Landesgeschichte kann also kaum zurückgreifen, wer sachsen-anhaltinische Identität zu stiften hofft. "Unhistorisch" und "künstlich" sei das 1990 begründete Bundesland zwar keineswegs, versichert der Historiker Mathias Tullner, Autor einer offizösen Geschichte Sachsen-Anhalts - und verweist zum Beleg auf die "reiche und vielfältigen Geschichte seines Raumes, den das Land einnimmt". Doch wahr sei eben auch, so Tullner weiter, dass die Traditionen und Besonderheiten Sachsen-Anhalts "nach wie vor nur wenig im Bewusstsein der Öffentlichkeit verankert" seien. Selbst das Interesse "der politisch und historisch interessierteren Kreise" müsse oft erst dafür geweckt werden.
Das klingt deprimiert genug. Man wird es noch drastischer formulieren müssen. Nirgendwo in Deutschland ist von symbolischer Vergemeinschaftung so wenig zu sehen und zu spüren wie in Sachsen-Anhalt, nirgendwo in den neuen Ländern ist im zwölften Jahr der deutschen Einheit so wenig Landesstolz - oder auch nur Landestrotz - zu erkennen. "Irgendwas läuft hier schief", sagen die Leute überall zwischen Salzwedel und Zeitz, "wir sind sowieso immer das Schlusslicht". Warum das so sei, das wissen die meisten dann aber schon nicht mehr zu benennen. Natürlich, irgendwie sei "die Politik" in Sachsen-Anhalt schlechter als anderswo, sagen die Leute, und dass "drüben beim Biedenkopf" mehr Investoren kämen. Den Regierenden in Magdeburg traut man nicht viel zu, aber die anderen seien auch nicht besser. Erklärungen sind das nicht, aber Erklärungen suchen die meisten hier auch gar keine mehr. Die Jungen gehen, die Alten sterben - so ist es eben, das hört man überall. Viele in Sachsen-Anhalt haben aufgehört, sich für ihr Gemeinwesen zu interessieren. Sie halten ihr Land für gescheitert. "Der Letzte macht das Licht aus, wie damals beim Erich", sagt die Bäckersfrau am Markt von Lützen und blickt durchs Fenster über den leeren Platz hinweg.
Tatsächlich drängt sich vor der Wahl zum vierten Landtag von Sachsen-Anhalt seit 1990 der Eindruck auf, in diesem Land komme gegenwärtig ein politischer Zyklus an sein Ende. Kein anderes Bundesland hat seit der Revolution von 1989 so viel Wirrsal erlebt wie Sachsen-Anhalt. Als "schwierig, langwierig, skandalbehaftet", ja sogar als "verkorkst" kennzeichnet der Politologe Alexander Thumfart den politisch-institutionellen Transformationsprozess des Landes. Es fiele schwer zu widersprechen. Gezänk, Flickwerk und Irrwege kennzeichnen die jüngste politische Geschichte Sachsen-Anhalts. Hitzig gestritten wurde bereits in der Gründungsphase des Landes über den Sitz der künftigen Hauptstadt. Ein allseits anerkanntes Zentrum besitzt Sachsen-Anhalt nicht; historisch irgendwie begründbare Ansprüche konnten die beiden großen Städte Halle und Magdeburg gleichermaßen geltend machen, als ehemalige Hauptstadt von Anhalt sogar Dessau. Am Ende entschied sich der erste Landtag für Magdeburg, und die Verbitterung der Unterlegenen rumort bis heute.
"Nie wieder kehre ich nach Sachsen-Anhalt zurück"
Und der Hauptstadtstreit war nur der Anfang der Misere. Nicht weniger als drei christdemokratische Ministerpräsidenten regierten das Land in seinen ersten vier Jahren: Der erste, Gerd Gies, hatte gerade genug Zeit, die (nie gespielte) Landeshymne "Sachsen-Anhalt, stolz und kühn" in Auftrag zu geben, bevor ihm bereits nach acht Monaten die eigene Fraktion das Vertrauen entzog. Auf Gies folgte der ehemalige Fachhochschulprofessor Werner Münch aus Vechta, der sich als legendär unfähig erwies, auch nur irgendeine Sensibilität für die Menschen in seinem Herrschaftsbereich aufzubringen. Münch stürzte 1993 über die so genannte Gehälteraffäre und verabschiedete sich mit dem famosen Satz: "Nie wieder kehre ich nach Sachsen-Anhalt zurück." Abgelöst wurde er durch Christoph Bergner, in dessen kurzer Amtszeit bis zur Landtagswahl 1994 sich der Eindruck kompletter christdemokratischer Inkompetenz nochmals verstärkte.
Jetzt hätte die große Zeit der SPD in Sachsen-Anhalt anbrechen sollen, doch die Begeisterung für den Wechsel hielt sich in sehr engen Grenzen. Was tatsächlich begann, war die Ära der sachsen-anhaltinischen Sonderwege in der Politik. Bei der geringsten jemals verzeichneten Wahlbeteiligung auf Landesebene (54,8 Prozent) blieben die Sozialdemokraten 1994 immer noch mit 34,0 Prozent der Stimmen hinter der CDU mit ihren 34,4 Prozent zurück. Statt den naheliegenden Weg in die Große Koalition zu beschreiten, bildete die SPD unter Führung von Reinhard Höppner - erstmals in der bundesdeutschen Verfassungsgeschichte - eine Minderheitsregierung. Fortan regierte in Sachsen-Anhalt eine rot-grüne Koalition, die auf die systematische Tolerierung durch die PDS angewiesen war. Mit dem "Magdeburger Modell" verband Ministerpräsident Höppner die - schon damals durchaus erstaunliche - Erwartung, "die PDS im Osten langfristig überflüssig zu machen".
Daraus ist nicht viel geworden, was der SPD freilich zunächst nicht schadete. Zwar blieb Sachsen-Anhalt auch in den folgenden Jahren das Bundesland mit der höchsten Arbeitslosenrate, dem geringsten Pro-Kopf-Einkommen und der niedrigsten Investitionsrate. Dennoch wurde das rot-rote Magdeburger Tolerierungsmodell 1998 von den Wählern im Amt bestätigt. Während die Grünen auf der Strecke blieben, verzeichneten SPD und PDS deutliche Stimmenzuwächse und setzten ihre eigenwillige Zusammenarbeit fort. Beunruhigend steil allerdings stieg bei jener Landtagswahl der Stern der rechtsextremistischen DVU auf. Völlig ohne regionale Verwurzelung mobilisierte die Phantompartei aus dem Stand fast 200.000 Wähler im Land (12,9 Prozent). Etwas Vergleichbares war in der Geschichte der bundesrepublikanischen Landtagswahlen noch nicht vorgekommen.
Jetzt sehen die Parteien in Sachsen-Anhalt dem nächsten Wahltag entgegen, irgendwie bänglich alle zusammen. Am meisten zu verlieren hat die SPD, aber auch die anderen können sich ihrer Sache nicht recht sicher sein. Das Volk hat sich auf sich selbst zurückgezogen und will von der ganzen Politik nichts mehr wissen. Die DVU tritt nicht noch einmal an, und ob die populistische Schill-Partei mit ihrem sehr zweifelhaft beleumundeten Spitzenmann, dem Hamburger Klinikbetreiber Ulrich Marseille in Sachsen-Anhalt Fuß fassen kann, ist sehr fraglich. Einen knallharten Manager, der "denen in Magdeburg" endlich mal Beine mache, den würden sie vielleicht wählen, sagen nicht wenige. Aber im Ernst glauben sie auch nicht an den Erlöser von außen. Und sowieso, dieser Marseille sei nicht der Richtige, der wolle das Land bloß kaufen, da werde man eben überhaupt nicht mehr wählen.
Viel spricht in der Tat dafür, dass die Wahlbeteiligung bei der kommenden Wahl erneut beispiellos niedrig ausfallen wird. Wirklich mobilisieren könnten in Sachsen-Anhalt nach mehr als zwölf Jahren freiheitlicher Demokratie wohl nur noch solche Parteien, die aus der namenlosen Desillusionierung der Menschen mit eben dieser Ordnung Funken zu schlagen verstünden. Dass diese Parteien derzeit nicht zu erkennen sind, ist ein schwacher Trost. Er täuscht nicht darüber hinweg, dass die demokratische Institutionenordnung bundesrepublikanischer Herkunft in Sachsen-Anhalt heute auf tektonisch besonders unsicherem gesellschaftlichem Grunde steht. Irgendetwas ist sehr gründlich schiefgegangen. Die Frage ist, warum.
Tausend Jahre Weinbau und Deutschlands bester Spargel
Das Massenphänomen der Arbeitslosigkeit ist das eine, natürlich. Nirgendwo in Deutschland liegt die Erwerbslosenquote höher als in Sachsen-Anhalt. Doch die spezifische Depression des Landes kann man mit den Zahlen allein nicht erklären. Sie liegen unter dem ostdeutschen Durchschnitt in einigen westlichen Gebieten von Sachsen-Anhalt, nicht nennenswert darüber in etlichen anderen. Auch das Fehlen einer sachsen-anhaltinischen Gesamtidentität erklärt letztlich nicht viel. In den dünn besiedelten Regionen im Norden oder Osten des Landes, in der Altmark etwa, im Jerichoer oder Jessener Land, ist von einer besonders tiefen Krise nicht viel zu spüren. Dasselbe gilt für die all die vielen alten Städte und Dörfer im Harzvorland und in der Börde, an der Unstrut oder im unteren Saaletal. Gewiss ist auch in diesen Gegenden nicht alles in bester Ordnung, gewiss verlassen auch hier die Jungen das Land, weil es an Arbeit mangelt.
Und doch sind diese Regionen im Kern intakt. Sie sind intakt in dem Maße, wie sich Identität und Selbstwertgefühl ihrer Bewohner nicht ausschließlich aus der industriellen Erfahrungswelt des 20. Jahrhunderts speisen. Weil diese Welt für alle Zeit untergegangen ist, werden jene regionalen Bezugspunkte wichtiger, die historisch gleichsam hinter die Ära der Industrie zurückreichen, das Loch des vorigen Jahrhunderts gleichsam überbrücken. Wo immer man symbolisch oder tatsächlich anknüpfen kann an "tausendjährige Weinbautradition" oder Bismarckverehrung, wo immer man "Deutschlands besten Spargel" zieht oder eine Altstadt mit Dom besitzt, wo immer man ein Nietzsche-Haus zum Renovieren hat oder sich besinnen kann auf Bürgervereinstraditionen bis zurück ins 19. Jahrhundert - da bleibt den Menschen etwas übrig, auch noch nachdem die Ära der industriellen Erwerbsarbeit für alle Zeit vorüber ist.
Die Industrie gestorben, die Landschaft umgepflügt
In Sachsen-Anhalt ist, so gesehen, besonders vielen Menschen besonders wenig geblieben. Zschornewitz ist nur eines von vielen möglichen Beispielen, genau darin liegt das dramatische Problem dieses Bundeslandes. Die wichtigen Industrien kamen spät in diese Region, dafür aber umso gewaltiger. Zumeist erst nach 1900 ließen sie sich nieder, wo vorher nur Felder gewesen waren, in Bitterfeld, Wolfen oder Schkopau, in Leuna und im Geiseltal bei Merseburg. Braunkohle und Chemie, Schwermaschinen und Rüstung waren die großen industriellen Erfolgsgeschichten des 20. Jahrhunderts. Sie fraßen und vergifteten das Land, gaben aber auch Hunderttausenden Arbeit, die von überall herbeiströmten, um an dem Boom der Region teilzuhaben. Heute ist das alles vorbei. Die alte Industrie ist gestorben, die Landschaft für immer umgepflügt und ausgekohlt, die Kühltürme sind abgerissen, die Scheiben der Kulturhäuser längst eingeschmissen. Nur die Menschen des 20. Jahrhunderts, die sind überall noch da. Viel zu viele haben nichts mehr zu tun, und ihre Gemeinschaften zerfallen. "Sie, die sich nicht mehr beeilen müssen, beginnen auch nichts mehr und gleiten allmählich ab aus einer geregelten Existenz ins Ungebundene und Leere", schrieben Marie Jahoda und Paul Lazarsfeld über die Einwohner eines österreichischen Arbeiterdorfes in der Depression der dreißiger Jahre. Für die Menschen in Wolfen-Nord oder Bitterfeld gilt heute nichts anderes. Über 17 Prozent von ihnen haben 1998 die DVU gewählt.
Das Problem ist größer als Zschornewitz und Sachsen-Anhalt. Wie sich in sterbenden Industrielandschaften gegen alle Wahrscheinlichkeit dennoch das demokratische Leben selbstbewusster Staatsbürger organisieren lässt, das wird sich im 21. Jahrhundert als politische Aufgabe von geradezu titanischer Dimension erweisen. Wo vormalige Industriegesellschaften wie Deutschland diesen Umbruch nicht bewältigen, da werden sie als demokratische Gemeinwesen insgesamt in schwere See geraten. Wo man in der Politik vorwitzig meint, es könne alles noch einmal werden, wie es war, da liegt das Scheitern schon heute in der Luft. Und wer glaubt, das gähnende Loch des 20. Jahrhunderts lasse sich mit etwas mehr gutem Willen füllen, hat nur noch nicht begriffen, wie tief es tatsächlich ist.