Demokratie vererbt sich nicht
Joseph Goebbels
Wenn wieder einmal Rechtsextremisten in ein Parlament einziehen oder die Wahlbeteiligung gerade krass gesunken ist, dann sind in der ersten öffentlichen Erregung hierzulande die Patentursachen wie die Patentlösungen schnell zur Hand: Schuld ist die soziale Lage der armen Rechtsaußen-Wähler und natürlich die Unfähigkeit von Regierung und Parteien. Dagegen muss dann endlich mit allen Mitteln angegangen werden: Sozialpolitik! NPD-Verbot! „Projekte“ muss es geben, die „Alternativen aufzeigen“! Daran mag nichts falsch sein, und dennoch wirken diese Reflexe auf eine hochanständige Weise hilflos.
Seit Ende der achtziger Jahre kommen und gehen diese Protestwahlergebnisse: 1989 in Berlin (REP 7,5 Prozent) und bei der Europawahl (REP 7,1 Prozent). 1991 in Bremen (DVU 6,2 Prozent), 1992 in Baden-Württemberg (REP 10,9 Prozent) und Schleswig-Holstein (DVU 6,3 Prozent), 1996 wieder in Baden-Württemberg (9,1 Prozent), 1998 in Sachsen-Anhalt (DVU 12,9 Prozent) 1999 und 2004 in Brandenburg (DVU 5,3 Prozent, dann 6,1), ebenfalls 2004 in Sachsen (NPD 9,2 Prozent), 2006 in Mecklenburg-Vorpommern (NPD 7,3 Prozent). Das ist gerade erst ein paar Wochen her.
Das Phänomen springt durch die Republik, ist nicht mit Ost-Frust, Ausländerphobie, Hartz IV oder Dreidrittelgesellschaft „sozial“ zu erklären. Wahlverhalten ist politisch, soll politisch sein und wirkt politisch. Man muss sich allerdings erst einmal vorstellen können, überhaupt rechtsextrem, das heißt: gegen „das System“ zu votieren. Aber das kann man lernen, sehr leicht. Parteien- und Politikverachtung gehören in Deutschland (wie in vielen anderen etablierten Demokratien) zum guten Ton. „Überparteilichkeit“ gilt allemal mehr als Parteilichkeit, Politik wird weithin als etwas Anrüchiges und eher Peinliches empfunden. Gustav Radbruch hat dies im Erfahrungshorizont der ersten deutschen Republik die „Lebenslüge des Obrigkeitsstaates“ genannt.
Starke Männer und einsame Beschlüsse
Positiv besetzt sind auch heute Klischees von außerhalb der demokratischen Sphäre: starke Männer, einsame Entschlüsse, Machtworte. Negativ dagegen: „Parteienstreit“, „Fraktionszwang“, „Parteipolitik“, „faule Kompromisse“. Das Kritikwürdigste an der Demokratie der Bundesrepublik schien dem Politikwissenschaftler Ernst Fraenkel schon in deren ersten Jahrzehnten „die landläufige Kritik, die an ihr geübt wird.“
1992 wurde zum Wort des Jahres in Deutschland „Politikverdrossenheit“ gekürt. Dabei hat diese verdrossene Haltung gegenüber demokratischer Politik keinen spezifischen Ort und keine besondere Zeit. Demokratie – weil sie als einzige Herrschaftsform Kritik und fundamentale Anfechtung ausdrücklich zulässt, erlaubt und fordert – steht immer unter „Verdrossenheits“-Druck.
Schon Platon kommentierte diese Haltung vor beinahe 2.400 Jahren ironisch: „Diejenigen, die zu klug sind, sich in der Politik zu engagieren, werden dadurch bestraft, dass sie von Leuten regiert werden, die dümmer sind als sie selbst.“ Benjamin Franklin klagte vor über 200 Jahren, am Beginn der amerikanischen Demokratie: „Es gibt keine Unehrenhaftigkeit, die ansonsten anständige Leute leichter und häufiger begehen, als die Beleidigung der Regierung.“ Und Winston Churchill ist das sarkastische Bonmot zu verdanken, die Demokratie sei die schlechteste Regierungsform – abgesehen von allen anderen, die schon ausprobiert worden seien.
So „normal“ Politikverdrossenheit im internationalen und historischen Vergleich sein mag, wir kommen nicht umhin, die Geschichte in Deutschland als einen Sonderfall zu betrachten: Am Ende der Weimarer Republik stand ja nicht der Übergang zu einer besseren zweiten Republik, sondern die Diktatur der Nazis: Parteiverbote, Ermordung Andersdenkender, Staatsterror, Verfolgung, KZs, Weltkrieg, Vernichtungslager. Auf dieser extremen Erfahrung des antidemokratischen Grauens errichteten die Überlebenden und die Nachgeborenen im Westen die Bundesrepublik Deutschland. Unsere deutsche Erfahrung, auch die der Ostdeutschen, sollte lauten: Demokratie ist kostbar, musste erkämpft werden, muss wehrhaft sein, ist nicht von selbst da. Auch andere Länder haben Rückfälle in die Diktatur erlebt, Italien, Griechenland, Spanien, Portugal, aber nirgendwo war der Zivilisationsbruch so brutal wie in Deutschland.
Verdrossen sind die Ahnungslosen
Dafür allerdings gehen wir heute sehr sorglos mit diesem erkämpften Kostbaren um. Die gute Gesellschaft verabscheut Rechtsextremismus und tut manches, um sich gegen ihn zu wehren. Doch gleichzeitig distanzieren sich viele vom Gang der Dinge in ihren demokratischen Institutionen und geben damit in einem fundamentalen Punkt den Feinden der Freiheit recht: Es ist zwar unfein, sich pöbelhaft aufzuführen – aber Politikverachtung ist fein oder jedenfalls ganz okay. Der Politikwissenschaftler Manfred Funke spricht in diesem Zusammenhang, skeptisch wie Radbruch und Fraenkel, von einem „Extremismus der Mitte“.
Einen richtungweisenden, wenn auch völlig folgenlosen Essay hat der Politologe Werner Patzelt 2001 in der Zeit veröffentlicht. Seine These: Viele Deutsche verachten Politik und Politiker, weil sie ihr Regierungssystem nicht verstehen. Die Zeit überschrieb den Patzelt-Aufsatz: „Verdrossen sind die Ahnungslosen“. Patzelts Zahlen sind eindrucksvoll: „So glaubt gerade die Hälfte der Bevölkerung, schon etwas von Gewaltenteilung gehört zu haben. Was Föderalismus sei, wissen 59 Prozent nicht; vom Rest machen 14 Prozent falsche Angaben. 40 Prozent der Deutschen können nichts oder nur Unrichtiges über den Bundesrat äußern. Vom Bundestag, den die Bürger doch alle vier Jahre wählen, sagen gut 60 Prozent der Deutschen, über seine Arbeitsweise erführen sie zu wenig. 58 Prozent können keine Angaben machen, wo – außer im fernsehbekannten Plenarsaal – die Arbeit des Bundestages stattfinde. ... Die Bürger verkennen weithin, dass es die zentrale Aufgabe der regierungstragenden Fraktionen ist, die Regierung gemäß parlamentarischem Mehrheitswillen auf Kurs und insgesamt im Amt zu halten. Ganze 30 Prozent kennen diese Parlamentsaufgabe. Und während der Opposition in Wirklichkeit keineswegs die Pflicht zukommt, der gegnerischen Regierung bei der Arbeit zu helfen, meinen das seit Jahrzehnten zwei Drittel der Deutschen. Hingegen hält nur jeder zweite die – völlig systemkonforme – öffentliche Kritik an der Regierungspolitik für eine Aufgabe der Opposition.“
Die politikverdrossene Sprache ist überall
Dass das so ist, daran tragen viele Schuld: die politische Bildung in der Schule, Elternhäuser, Medien, Politik. Der ehemalige Direktor des Deutschen Bundestages, Wolfgang Zeh, hat 1992 in einem Beitrag für die Frankfurter Allgemeine einmal die politikverdrossenen Stereotype aufgelistet, die oft von Abgeordneten selbst dem jeweiligen politischen Gegner populistisch um die Ohren gehauen werden. Zeh warnt: „Sagt nie, es sei ja ‚nur parteipolitisch‘. ... Hört damit auf, jede Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts als ‚schallende Ohrfeige‘ für die im Rechtsstreit unterlegene Seite zu bezeichnen. ... Missbraucht die Befürchtung, etwas ‚fördere die Politikverdrossenheit‘, nicht in der politischen Auseinandersetzung. ... Erzählt auch nicht zu oft die alte Sage, früher sei es im Bundestag viel besser gewesen, es habe gewaltigere Redner, bedeutendere Persönlichkeiten und knorrigere Charaktere gegeben. Es ist nur eine Altersentscheidung, so zu reden.“
Die Rolle der Medien hat der ehemalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse vor einigen Wochen in einer Grundsatzrede scharf analysiert: Politik werde in vielen Medien auf inszenierte Widersprüche, Sensationen und Katastrophen reduziert, während die wirklichen Interessenzusammenhänge sowie die tatsächliche Arbeit der Parlamentarier ausgeblendet blieben. Typisch sei die „Skandalisierung des Streits“, der ja eigentlich „das Wesen der Demokratie“ sei, eine „alltägliche und unausweichliche Normalität“.
Wer lehrt das demokratische Einmaleins?
Was Bürgerinnen und Bürger über ihren eigenen Staat und die parlamentarische Demokratie wissen, hängt nicht zuletzt davon ab, welche Grundlagen in der Schule gelegt werden. Freiheits- und Gerechtigkeitskonzepte, Solidaritätserfahrungen, Parteibildungen, Wahlen, Pluralismus, Konflikt und Konsens – das demokratische Wissen könnte vermittelt werden wie das ABC und das Kleine Einmaleins.
Jeder muss dieses Wissen haben und anwenden können. So viele Jahre mit so vielen Unterrichtseinheiten Mathematik, Physik, Musik, Biologie und Chemie! Und wie viel Demokratie? Es ist unsere Lebensform. Aber vielen bleibt sie fremd, viele „wissen“ zu viel Falsches und Halbgares, viele trauen sich politisches Engagement nicht zu. Das ist ein unhaltbarer und ein nicht ungefährlicher Zustand! Die Republik lebt von der Beteiligung, der Teilhabe, von konstruktiver Kritik und Verbesserung. Dulden und Hinnehmen reichen nicht aus.
Demokratie, einmal erkämpft, vererbt sich nicht. Sie muss von jeder Generation neu gelernt werden. Vielleicht muss politische Grundbildung heute stärker an den Vorurteilen, an den Ressentiments und pseudoplausiblen Parolen des verdrossenen Mainstreams ansetzen. Es gibt, und sei es durch „Explosiv“-Nachrichten-Schauen im Privatfernsehen, immer schon ein Vorverständnis, das oft nicht unproblematisch ist. Und auch vorbildhaft verdrossene Lehrer (und Eltern und Journalisten und Abgeordnete) soll es geben.
Wir brauchen, dringender als die Aufregungskonjunkturen über rechtsextreme Wahlerfolge, einen neuen Anlauf zu einer systematischen, verbindlichen Bildung und Erziehung zur Demokratie als Lebensform. Das können wir uns leisten. Das müssen wir leisten. In meinem Wahlkreis gibt es lange schon eine große Einrichtung für anwendungsorientierte Wissenschaft, die auf diskrete Weise gewiss zur Bildung und zum Erfolg des Exportweltmeisters Deutschland beigetragen hat: das Leibnitz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften in Kiel mit 143 Mitarbeitern. Sie schöpfen keine neue naturwissenschaftliche Erkenntnis, sondern kümmern sich um die Frage, wie all das wichtige Wissen von der Natur unserer Welt in das Bewusstsein der Menschen von heute kommen kann, vom Kindergarten über Schule und Medien bis zur Hochschuldidaktik.
Nichts kommt von selbst
Nicht weniger wichtig sollte uns im größten Land Europas, in der drittgrößten Volkswirtschaft der Welt die Vermittlung, Festigung und Weiterentwicklung unserer Demokratie sein. Das tut sich nicht von selbst. Und mit dem Zustand, den wir heute haben, können wir nicht zufrieden sein. Institutionalisierung kann helfen. Deshalb sollten wir uns ein Institut für die Didaktik der Demokratie leisten. Es könnte seine Heimat in Berlin finden. Es gilt, in einer sich wandelnden Welt immer wieder neu die Grundlagen zu legen.