Den Fortschritt neu denken und Versprechen einlösen
Damit keine Missverständnisse aufkommen: Ja natürlich, die SPD muss definieren, welche Themen, Werte und Begriffe für ihr Profil bedeutsam sind, welche Begriffe man verwenden will und welche Begriffe zu vermeiden sind, wenn es darum geht, Grundorientierungen, Konzepte und Maßnahmen unverwechselbar und unveräußerlich zu vermitteln. Ich stimme Leuten wie dem Parteienforscher Franz Walter, dem SPE-Vorsitzenden Poul Nyrup Rasmussen oder dem Neurolinguisten George Lakoff ausdrücklich zu, wenn sie darauf aufmerksam machen, dass der Verlust einer genuin sozialdemokratischen Sprache eine der Ursachen für den Machtverlust der Sozialdemokratie ist. Aber das kann doch nicht unsere einzige Antwort auf unsere Krise sein. Und auch die Sprachwissenschaft weiß, dass sich Bedeutung und Botschaft erst durch ein Zusammenspiel von Bedeutendem und Bedeuteten einstellt. Mit anderen Worten: Ohne Inhalt hängt die Form im Leeren, und von leeren Töpfen wird man nicht satt.
Aber vor allem muss gelten: Ein Begriff, ein Diskursrahmen braucht Penetration, muss also durchgesetzt werden, und zwar von den Führungsakteuren. Ständiges Changieren ist eine Verhinderungs-, aber keine Durchsetzungsstrategie. Daher: Mut zur Wiederholung, Mut zu Profilthemen!
Und noch entscheidender ist: Wir müssen liefern. Menschen, die danach fragen, wofür die SPD steht, sollten nicht nur davon hören, dass die SPD die älteste deutsche Partei mit einer ehrenwerten Geschichte ist; dass sie gegenüber allen Tendenzen gesellschaftlicher Spaltung die Partei des Ausgleichs und des gesellschaftlichen Zusammenhalts ist; dass sie die überzeugte, aber unideologische, die fürsorgende, aber illusionslose Partei der „sozialen Marktwirtschaft“ ist; dass sie als einzige Partei weiß, die Gesellschaft kann nur gedeihen, wenn der technische Fortschritt mit sozialem Fortschritt gekoppelt wird; dass sie die Partei der Gerechtigkeit ist, die Partei, die gerechte Verhältnisse mit fairen Verfahren herzustellen sucht; dass sie die Partei ist, die vor allem immer das Los der kleinen Leute, der Millionen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Blick hat; und dass sie es war, die den Atomausstieg eingeleitet hat.
Die Menschen dürfen dies nicht nur hören. Sie müssen erfahren, erleben und spüren, dass das sozialdemokratische Wirken einen realen positiven Einfluss auf ihre Lebenswirklichkeit hat. Dass die SPD ein größeres demografisches Problem als die Rentenversicherung hat, liegt doch vor allem daran, dass offenbar nur noch die Älteren in unserer Gesellschaft wissen, wie sich Sozialdemokratie eigentlich anfühlt und was sie bewirkt. Dabei ist es eine unserer Kernkompetenzen, Aufstieg und Chancen, Gerechtigkeit und Sicherheit zu ermöglichen. Wohlstand für die vielen und nicht nur für die wenigen ist nicht nur das Ideal der SPD, sondern auch das Fundament einer stabilen Gesellschaft und die Voraussetzung für Freiheit und Emanzipation.
2 Die Chancen sind da. Die jüngsten Landtagswahlen zeigen im Ergebnis, dass die SPD die Anzahl ihrer Regierungsbeteiligungen nicht nur stabilisieren, sondern sogar ausbauen konnte. Das ist die beste Voraussetzung, um Akzeptanz für die eigene Partei zu schaffen. Wir haben die Chance, Verantwortung zu übernehmen und die Menschen im Praxistest zu überzeugen. Es muss gelingen, über erfolgreiches Handeln und intellektuelle Führung die sozialdemokratischen Werte zum common sense zu machen und somit die Deutungshoheit über gesellschaftliche Fragen herzustellen. Dafür gibt es ganz konkrete Anknüpfungspunkte, die sich unter dem Bild von Fortschritt und Gerechtigkeit subsumieren lassen.
Die grundsätzliche Aufgabe lautet: Wir müssen Fortschritt neu denken. Der Fortschritt, den wir erleben, ist entkoppelt. Er ist entkoppelt von der Verbesserung von Lebensqualität und Einkommen sowie der Sicherung von Nachhaltigkeit und Mitsprache. Fortschritt wird wahrgenommen als Programm der Unsicherheit und der Verunsicherung, der Übermacht der Märkte und der Entdemokratisierung von Gesellschaft und Wirtschaft.
Wir müssen die Hoffnung wieder herstellen und unser historisches Versprechen einlösen. Das Versprechen lautet: Mehr Produktivität, Qualifikation und Leistungsbereitschaft von Arbeitnehmern und Arbeitgebern führen zu mehr Chancen, zu guter Arbeit und guten Einkommen, zu mehr biografischer Sicherheit und zu mehr Wohlstand. Diese Aufgabe, die gestaltende Politik durch gestaltungsfähige politische Akteure voraussetzt, hat drei Aspekte:
Erstens brauchen wir eine zukunftsorientierte Innovations- und Investitionspolitik. Ich sage es ganz unumwunden, denn ich verstehe Mittelständler nicht als Klassenfeinde, sondern als Partner: Wir müssen unsere Unternehmen besser unterstützen. Das macht man aber nicht, indem man sich in der Spitzengruppe eines Steuerdumpingwettbewerbs behauptet. Besser ist es, ausreichend Mittel für Forschung und Entwicklung zur Verfügung zu stellen, damit Zukunftstrends frühzeitig erkannt und genutzt werden können. Es geht darum, über Risikokapital, Bürgschaften und bessere Abschreibungsmöglichkeiten, Gründungen, Ansiedlungen und Wachstum zu generieren.
Zweitens müssen wir den Wert der Arbeit wieder herstellen. Es geht nicht um irgendwelche Arbeit, es geht um „Gute Arbeit“. Arbeitslosigkeit berührt Lebensschicksale. Persönliche Identität, gesellschaftliche Anerkennung und Würde des einzelnen Menschen sind nach wie vor wesentlich durch Arbeit definiert. Gute Arbeit und faire Löhne sind aber nicht nur sozialpolitische Fragen, sondern vor allem wachstums- und investitionspolitische Notwendigkeiten. Beschäftigte sind Innovationsträger, der Stellenwert von Qualifizierung, Fort- und Weiterbildung muss deshalb deutlich erhöht werden.
Drittens sind wir die Partei der sozialen Gerechtigkeit. Diese darf aber nicht bloß behauptet, sondern muss hergestellt werden. Und zwar am besten durch ein Zusammenspiel von aktiver makroökonomischer Politik mit Instrumenten der Beschäftigungspolitik. Nur so können wir einen Abbau der sozialen Spaltung unserer Gesellschaft verhindern und soziale Mindeststandards etablieren.
3 Über all dem steht eine Notwendigkeit: Ohne Richtungsfragen keine Richtungsmehrheiten – das Regierungsschisma überwinden! Und zwar in Partei und Fraktion. Die SPD muss wieder für Richtungsdebatten stehen. Nur so lässt sich Orientierung und Glaubwürdigkeit vermitteln. «