Den Tiger reiten lernen

Die Heuschreckendebatte hat den Eindruck vermittelt, soziale Verantwortung von Unternehmen müsse durch staatliche Regulierung erzwungen werden. Doch wichtiger sind selbstbewusste Arbeitnehmer, Investoren und Konsumenten

Für Milton Friedman war die Sache klar: Die soziale Verantwortung des Unternehmens liege in der Steigerung des Profits, schrieb er 1970 im New York Times Magazine. In einer modernen Gesellschaft sei der Manager ein Angestellter seines Unternehmens. Wenn die soziale Verantwortung nicht rein rhetorisch gemeint sein solle und mehr als das umfasse, was Unternehmen auch im eigenen Interesse sowieso täten, dann müsse der Manager Entscheidungen treffen, die nicht im Interesse seines Arbeitgebers seien. Er würde beispielsweise besonders sozial schwache statt gut qualifizierte Arbeitnehmer einstellen oder mehr Beschäftigte als das Unternehmen braucht. In jedem Fall gebe er Geld aus, das ihm nicht gehöre, und schädige damit Eigentümer und Beschäftigte zugleich. Die soziale Verantwortung sei daher eine Frage allein der Politik, die dafür legitimiert und ausgerüstet sei, über Steuern und Regulierungen die soziale Balance der Gesellschaft zu wahren. Der Eigentümer eines Unternehmens hingegen müsse frei sein zu entscheiden, wie stark er soziale Aspekte in seiner Geschäftspolitik berücksichtigen wolle.

Milton Friedmans Position hat viel für sich. Anleger und Investoren haben ein Recht darauf, dass Manager ihr Geld in ihrem Interesse anlegen. Und wollen wir wirklich, dass Unternehmen aus sozialen Gründen Entscheidungen treffen, die ihre Wettbewerbsfähigkeit beeinträchtigen oder Anleger schädigen würden? Im Ernst wohl nicht.

Rechtlich ist dies zudem unbestritten. Henry Ford wurde im Jahr 1916 von zwei Anteilseignern, John und Horace Dodge, verklagt, weil er die Dividendenzahlung gestrichen und stattdessen den Preis des Model T weiter gesenkt hatte. Vor Gericht beschrieb er den Zweck seines Unternehmens als „to do as much good as we can, everywhere, for everybody concerned ... and incidentally to make money“. Er sah seinen Auftrag nicht darin, dass Vermögen seiner Investoren zu vergrößern. Damit erntete er jedoch nicht das Verständnis der Richter. Das Gericht befand, dass ein Unternehmen nicht nur „nebenbei“ Profit erwirtschaften solle, sondern in erster Linie für den Profit der Anteilseigner zuständig sei. Henry Ford musste die Dividende ausschütten.

Wer bezahlt, der bestellt auch

Auch bei der fehlgeschlagenen Übernahme der London Stock Exchange durch die Deutsche Börse AG haben die Anteilseigner ihren Willen gegen die Pläne des Vorstands und des Aufsichtsrats durchgesetzt. Die versammelten Investoren klagten nicht gegen die Pläne von Werner Seifert und Rolf Breuer, dem Vorsitzenden des Aufsichtsrates, sondern setzten beide kurzerhand ab und vereitelten nach dem Motto „Wer bezahlt, bestellt“ den Expansionskurs der Deutschen Börse. Nur in eng begrenzten Ausnahmefällen, etwa zum Zweck der Abwehr einer feindlichen Übernahme, können amerikanische Manager auch andere Interessen als die der Investoren in ihre Entscheidungen einbeziehen.

In Deutschland gilt dies ebenso wie in den Vereinigten Staaten – trotz deutlich anderer Verfassungstradition und abweichendem Unternehmensrecht. Auch die Mitbestimmung ändert an dem Prinzip des vorrangigen Interesses der Anteilseigner nichts. Zum einen sind die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat eines Unternehmens generell in der Minderheit und können gegen die Mehrheit keine Entscheidung durchsetzen. Zum anderen haben sie es auch nur in den seltensten Fällen versucht. In der Übernahmeschlacht von Mannesmann und in der Frage der umstrittenen Abfindungen an den Vorstand haben sich die Arbeitnehmervertreter neutral verhalten. Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat trauen es sich nur selten zu, gegen die Pläne des Vorstands und der Anteilseignerbank im Aufsichtsrat die Stimme zu erheben. Im Drama bei der Deutschen Börse haben sie keine Rolle gespielt.

Ist die Frage der sozialen Verantwortung von Unternehmen damit geklärt? Nicht ganz. Friedmans Position hinsichtlich der prinzipiellen Zuordnung der Rechte von Investoren und Managern kann man durchaus teilen – und wird diese in modernen Marktwirtschaften akzeptieren müssen. Investoren – wenn sie sich denn koordinieren können – werden auch in Zukunft ihre Interessen im Unternehmen durchsetzen. Das eigentliche Problem liegt darin, dass die Wirklichkeit in der Regel komplizierter ist.

Das fängt damit an, dass Investoren unterschiedliche Interessen haben: langfristige und kurzfristige etwa, die sich unterschiedlich auf die Frage auswirken, wie soziale Verantwortung bewertet werden soll. So können manche Investitionen den kurzfristigen Erfolg schmälern, aber langfristig sinnvoll sein. Investitionen in die Qualifikation von Mitarbeitern oder in die Entwicklung eines Standorts sind Investitionen, die sich nicht schnell auszahlen.

Soziale Verantwortung zahlt sich aus

Unternehmen wissen heute, wie empfindlich ihre Markennamen und ihre weltweite Reputation sind. Schlechte Nachrichten über ausbeuterische Arbeitsbedingungen schädigen ihre Marktposition, machen sie angreifbar für Klagen und Kampagnen. In vielen Fällen ist eine sozial verantwortliche Unternehmenspolitik im langfristigen Interesse des Unternehmens. Ein Beispiel dafür sind die Sullivan-Principles. Im Jahr 1977 regte der amerikanische Prediger Leon Sullivan an, Bedingungen an die Investitionen von GM in Südafrika zu knüpfen. Sullivan, der zugleich Mitglied des Board von General Motors war, empfahl GM, einem Standard zu folgen, der das Unternehmen verpflichtete, gemischtrassige Arbeitsplätze einzurichten, Schwarze und Weiße gleich zu entlohnen und nach Möglichkeit schwarze Mitarbeiter ins Management einzustellen. Nach und nach wurden die so genannten Sullivan-Prinzipien von einem großen Teil amerikanischer Unternehmen unterstützt – vor allem, um der Kritik zu begegnen, ihre Investitionen stützten das Apartheid-System. Nach zehn Jahren fand eine Studie von Arthur D. Little heraus, dass insgesamt 179 Unternehmen etwa 33 Millionen Dollar für Bildung und soziale Einrichtungen in Südafrika ausgegeben hatten. Nachdem Nelson Mandela zum Ende des Boykotts aufgerufen hatte, wertete eine weitere Studie die Effekte der Sullivan-Prinzipien aus: Die Unternehmen, die sie angewandt hatten, hatten deutlich bessere Ergebnisse erzielt als die Unternehmen, die sich nicht beteiligt hatten. Soziale Verantwortung zahlt sich aus.

Nicht unbedingt sind es die kurzfristig orientierten Investoren, die auf Verlagerungen drängen und einen Unterbietungswettbewerb mit dem Ausland betreiben. Auslandsinvestitionen sind eine notwendige Voraussetzung für die Sicherung von Arbeitsplätzen im Inland. Diese Sicht wird auch von den Betriebsräten geteilt. Einer Studie des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung zufolge unterstützen 54 Prozent der Betriebsräte ausländische Direktinvestitionen ihrer Unternehmen „immer“, weitere 34 Prozent tun dies „meistens“.

Die globalen Verlagerungen von Arbeitsplätzen fördern zudem den Aufholprozess armer Länder, den die Regierungen reicher Länder sonst gerne in die Zuständigkeit der Entwicklungspolitik abschieben. Sieht man von der Verarmung der ärmsten Länder Afrikas ab, ist die Ungleichheit zwischen den Ländern in den letzten zwanzig Jahren zurückgegangen. Ein Teil dieser Entwicklung ist auf globale Wertschöpfungsketten und die Öffnung der Märkte zurückzuführen.

Wer gewinnt, wer verliert beim Offshoring?

Zugleich jedoch ist auch die soziale Ungleichheit innerhalb entwickelter Länder gestiegen. Damit haben zwar die ärmeren Länder von Verlagerungen und von der Teilnahme am Markt profitiert – aber sozusagen auf Kosten von Arbeitnehmern in den reicheren Ländern. Jede Verlagerung betrifft Arbeitnehmer in Deutschland, bei jeder Betriebsverlagerung verlieren Menschen ihren Arbeitsplatz. Ist der Arbeitsmarkt nicht in der Lage, sie wieder einzugliedern, öffnet sich in Deutschland die Schere weiter zwischen denen, deren Job gerade aufgrund der Verlagerung sicherer wird und denen, die ihren Job durch die Verlagerung verlieren.

In der Wirklichkeit lassen sich Politik und Geschäft weniger trennen, als es die ökonomische Theorie vorsieht. Einerseits sind Manager und Eigentümer Bestandteile der Gesellschaft. Sie leben in ihr, sind also gesellschaftliche wie politische Akteure. Unternehmen haben wirtschaftliche und politische Macht, nehmen Einfluss auf die Politik und versuchen, die allgemeinen Spielregeln in ihrem Interesse zu ändern. Sie sind nicht politisch neutral und überlassen die Umverteilung den Regierungen, wie es Friedmans Weltbild annimmt. Pharmazeutische Unternehmen haben massiv die Debatte in der WTO über den Schutz intellektueller Eigentumsrechte beeinflusst. Internationale Technische Standards, etwa auf dem Gebiet der Telekommunikation, wurden weitgehend von großen Unternehmen diktiert. Sie haben Einfluss auf die Architektur des Welthandels, die Regulierung von Märkten und nehmen gerne Subventionen in Empfang. Andererseits werden Unternehmen immer anfälliger gegen politische Kampagnen und Konsumentenboykott, abhängiger auch von ihrer Reputation in der Öffentlichkeit. Die Unternehmen brauchen die Politik mehr, als sie zugeben.

Heute wird die soziale Verantwortung von Unternehmen auf allen Ebenen und in allen Ländern diskutiert und zwar intensiver als jemals zuvor. Auch wenn die Wirtschaftspresse daraus schnell ein typisch deutsches Problem macht und die SPD mit ihrer Metapher von den „Heuschrecken“ eine eher ungewöhnliche Begrifflichkeit in die Debatte warf: Das Thema steht auf der globalen Tagesordnung.

Transparenz ermöglicht ethisches Investieren

Internationale NGOs haben in den vergangenen zehn Jahren die Diskussion über Globalisierung und die Architektur der Weltwirtschaft grundlegend beeinflusst, indem sie die Bürger auf ihre Seite brachten und selbst aktiv wurden. Zahllose Initiativen und zivilgesellschaftliche Gruppen haben es sich zur Aufgabe gemacht, alternative Formen einer sozial verantwortlichen Wirtschaft selbst zu schaffen. Zum Beispiel wurde 1989 CERES als Koalition von Investoren und Umweltschützern gegründet, um Formen des ethischen Investierens zu etablieren. Im November 2003 organisierte CERES einen Gipfel der institutionellen Investoren zum Thema Klimarisiko, auf dem Investoren mit einem Investitionsvolumen von über einer Billion Dollar vertreten waren.

Initiativen zum ethischen Investieren treten besonders dafür ein, dass Investoren bestehende Umwelt- und Sozialrisiken besser verstehen und in ihren Investitionsentscheidungen berücksichtigen. Zugleich kämpfen sie dafür, dass Unternehmen ihre Positionen zu Umwelt- und Sozialstandards und ihre eigenen Aktivitäten auf diesen Feldern für alle transparent und öffentlich machen. Transparenz ermöglicht den Investoren die Wahl, ob sie in ein Unternehmen investieren, das Umweltrisiken ernst nimmt oder nicht. Transparenz ermöglicht es auch, die Interessen institutioneller Investoren zu erkennen. Veröffentlichungspflichten – auch der institutionellen Investoren – stehen daher an erster Stelle der Forderungen ethischer Investoren. Um dieses voranzutreiben, hat CERES im Jahr 1997 die Global Reporting Initiative (GRI) gegründet, die internationale Standards der Berichterstattung über die wirtschaftliche, soziale und umweltpolitische Performanz von Unternehmen propagiert.

Wie Nike geläutert wurde

Proteste von NGOs gegen die amerikanische Bekleidungsindustrie, besonders gegen Nike und The Gap, haben zu einer nicht mehr überschaubaren Zahl von Verhaltenskodizes für multinationale Unternehmen geführt. In den Vereinigten Staaten wurde unter Präsident Clinton 1998 die Fair Labor Association (FLA) in der Bekleidungsindustrie gegründet, die Sozialstandards für Zuliefererunternehmen in Südostasien setzt und regelmäßige Überprüfungen der Betriebe vorsieht. Ähnliche Mechanismen gibt es entweder auf freiwilliger Basis einzelner Unternehmen oder auch im Rahmen von globalen Vereinbarungen zwischen Unternehmen und internationalen Gewerkschaftsbünden. Social Accountability International (SAI), eine weitere nordamerikanische Organisation, die sich auf Sozialstandards spezialisiert, hat seinen ersten freiwilligen Standard für Arbeitsplätze (SA 8000) im Jahr 1996 eingeführt. Er gibt Unternehmen eine Meßlatte für faire Arbeitsbedingungen. Dies sind Beispiele für die rapide ansteigende Zahl von NGOs, die ihre eigenen Unternehmen, Agenturen und Investitionsfonds gründen, um weltwirtschaftliches Handeln nach sozialen, ethischen und umweltbewussten Kriterien zu ermöglichen.

Diese Organisationen für Sozialstandards und Berichterstattung erwuchsen aus Entwicklungs- und Umweltkampagnen, die ihrer Lobbyarbeit und der mangelnden Effektivität bestehender Normen überdrüssig geworden waren. Kodizes und Sozialstandards (wie zum Beispiel die Kernarbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorganisation IAO) oder der Verhaltenskodex für multinationale Unternehmen der OECD bestehen bereits seit langer Zeit. Es ging jedoch darum, Formen der Regulierungen von Unternehmen zu finden, ohne weiter auf die Durchsetzung von Normen durch die staatliche Politik warten zu müssen.

Damit haben es diese Organisationen geschafft, ihre Themen auf die Tagesordnung zu bringen sowie Politik und Unternehmen unter Handlungsdruck zu setzen. Nike muss heute Verantwortung für seine Zulieferer in Südostasien übernehmen und fordert mittlerweile NGOs aktiv dazu auf, seine Operationen zu überwachen. Das Volumen von ethisch überprüften Investmentfonds in Großbritannien ist zwischen 1989 und 2003 von 199 Millionen auf 4,2 Milliarden Pfund angewachsen. Kurzum, das soziale und umweltbezogene Bewusstsein der Konsumenten und Investoren hat sich in den letzten Jahren deutlich verstärkt.

Marken sind verwundbar – und sie wissen es

Dem Trend zugrunde liegen Unternehmensskandale wie der bei Enron in den Vereinigten Staaten, Antiglobalisierungsproteste sowie Konsumentenboykotte gegen ausbeuterische Arbeitsverhältnisse in der Bekleidungsindustrie. Unternehmen mit Markennamen wissen, wie verwundbar ihre brands bei negativer Berichterstattung sind. Zudem haben große Unternehmen mit Vertrauensverlusten zu kämpfen. Eine weltweite Gallup-Umfrage unter 36.000 Bürgern in 47 Ländern im Auftrag des World Economic Forum hat 2003 ergeben, dass das Vertrauen der Menschen in politische Institutionen und Unternehmen sinkt. Danach gefragt, welche Führungspersönlichkeiten am besten in der Lage sind, die Herausforderungen der nächsten Jahre in ihrem Interesse zu bewältigen, hatten 56 Prozent der Befragten großes Vertrauen in NGOs und nur 33 Prozent nannten Manager multinationaler Konzerne. Nur die politische Führung der Vereinigten Staaten schnitt mit 27 Prozent noch schlechter ab.

Adidas wünscht sich stärkere Regulierung

Die Debatte über soziale Verantwortung von Unternehmen ist damit heute stärker in das Bewusstsein der Menschen gedrungen, als es Milton Friedman gefallen hätte. Transparenz und Öffentlichkeit stehen dabei an erster Stelle. Transparenz und Öffentlichkeit sind auch im Interesse derjenigen Unternehmen, die sich bereits heute um hohe Sozialstandards bemühen. Bei den Reaktionen der Firmen zum Grünbuch der EU-Kommission zur Corporate Social Responsibility wird dies deutlich: Vor allem die konsumentennahen Firmen wie Adidas und Levi Strauss wünschen sich eine stärkere Regulierung und Überwachung von Sozialstandards. Die Debatte über soziale und umweltorientierte Berichtspflichten von Unternehmen ist noch nicht vom Tisch.

Um Transparenz und Öffentlichkeit wirklich nutzen zu können, müssen auch in Deutschland Institutionen geschaffen werden, die sich professionell dafür einsetzen und den Unternehmen auf die Finger schauen. „Heuschrecken“ zu vermeiden und zurückzudrängen ist nur zum Teil ein Regulierungsproblem. Es ist zum größeren Teil eine Aufgabe der Interessenvertretung selbstbewusster Arbeitnehmer, Investoren und Konsumenten. Wir sollten wissen, welches Unternehmen Gewerkschaften auch in seinen Betrieben in China anerkennt und welcher Konzern Arbeitsschutzvorschriften umgeht. Und wir sollten in der Lage sein, die Spreu vom Weizen zu trennen.

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