Der Bundestag muss ankommen
Die Debatte über Parlament und Abgeordnete nimmt zurzeit Fahrt auf, und zwar in eine neue Richtung, weg vom pauschalen Verdrossenheitsgenörgel. Es geht um wichtige Fragen: Wo steht der Bundestag bei der Willensbildung der Regierung über Gesetze und finanzpolitische Schwerpunktsetzungen? Wo steht er in Bezug auf aktuelle Partizipationsforderungen aus der Gesellschaft? Wie kann das Parlament seine verfassungsmäßige Stellung behaupten in einem öffentlichen Diskurs, der dominiert wird von Massenmedien? Und wie kann es zeigen, dass es wegen des neuen Massenmediums Internet noch nie so wertvoll war wie heute?
Bundestagspräsident Norbert Lammert fordert von der Regierung mehr Beratungszeit und weniger Zeitdruck für die Debatten. Beharrlich bedrängt er, wie schon sein Amtsvorgänger Wolfgang Thierse, die öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten, ihren Auftrag der politischen Grundversorgung zu erfüllen. Dieser Auftrag allein rechtfertigt ihre Finanzierung mit mehr als acht Milliarden Euro aus Zwangsbeiträgen. Da liegt die Frage auf der Hand, wieso ARD und ZDF es nicht fertig bringen, anstelle der soundsovielten Seifenoper auch mal eine wichtige Bundestagsdebatte zu übertragen.
Junge Abgeordnete aus SPD und Grünen haben einen Gesprächskreis gebildet, der Vorschläge für Veränderungen der parlamentarischen Arbeit vorbereitet. Präsidium und Vorstand der SPD beraten derzeit ein umfangreiches Beschlusspapier „Mehr Demokratie leben“. Eine informelle Runde von Abgeordneten, Parlamentsbeamten und Wissenschaftlern trifft sich als „Netzwerk Parlamentarismus“ zu Diskussionen über Stellung und Ansehen des Parlamentarismus. Die Politische Akademie Tutzing veranstaltet in diesem Frühjahr zwei Tagungen über Parlamentsfragen.
Allen solchen Initiativen ist das Gefühl gemeinsam, dass es mit einem „Weiter so“ von Parlamentsroutine hier und Kritikroutine dort nicht weiter, sondern rückwärts und abwärts geht. Es hat sich da zwischen „innen“ und „außen“ ein ungutes Muster der Interaktion gebildet. Auf Seiten von Medien, Interessengruppen und Beobachtern gehört es zum guten Ton, die parlamentarische Arbeit als mangelhaft, umständlich, unehrlich, „abgehoben“, vom „Parteiengezänk“ und von „faulen Kompromissen“ geprägt oder – noch die mildeste Kritik – als schlecht vermittelt und schwer nachvollziehbar zu bewerten. Auf politisch-parlamentarischer Seite geht man damit unterschiedlich um, aber meist in einer Art, die bestätigend oder defensiv wirkt: Man greift populäre Vorwürfe auf, um sie dem politischen Gegner vorzuhalten – der argumentiert doch „nur parteipolitisch“, ihm geht es „nur um Machterhalt“ , er ist „völlig zerstritten“ und sein Verhalten „fördert die Politikverdrossenheit“. Oder man räumt ein, dass es manches zu verbessern gäbe, aber der Zeitdruck, die Komplexität, die bürokratischen Strukturen, die Zwänge der Europäisierung und Globalisierung … Und schließlich: Es gibt auf den unterschiedlichen Politikfeldern doch genug zu tun.
Von diesen Mustern wegzukommen wäre dringend notwendig. Mittlerweile sind die antidemokratischen Versuchungen nicht mehr zu übersehen, die in unserer Gesellschaft vagabundieren: Zeigt nicht die wirtschaftliche Dynamik ehemaliger Schwellenländer, dass man mit weniger Debatten schneller vorankommt? In Wirtschaftskreisen hat man eigentlich nichts gegen die parlamentarische Demokratie, vorausgesetzt, sie beeinträchtigt nicht „die Chancen im globalen Wettbewerb“. Und brauchen wir in der Politik nicht mehr „Führung“, am besten durch „charismatische Persönlichkeiten“, die „unser Vertrauen verdienen“? Nach sechzig Jahren Demokratie in Deutschland wächst offenbar nicht der Stolz über ihre Institutionen, sondern die Unlust, die Mühen der Ebene zu ertragen.
„Meinungsmacher“ sagen nicht gern Positives
Aber wie von solchen mentalen Tendenzen wegkommen? Grundsätzliche Debatten darüber sind richtig und wichtig, aber sie brauchen Zeit und wirken nicht unmittelbar. Auch über die politische Bildung in Schulen und in der Erwachsenenbildung mag gesprochen werden, besonders darüber, mit welchen Prämissen sie eigentlich operiert und was sie in sechzig Jahren bewirkt hat. Von den Medien der öffentlichen Meinung ist eher nichts zu erwarten, sie lassen ihr „Wächteramt“ hochleben und fühlen sich nicht weiter verantwortlich. Für die überall reichlich verfügbaren „Meinungsmacher“ ist es mehrheitlich nicht attraktiv, mal etwas Positives über Parlament, Parteien und Politik zu sagen. Das wäre ja ganz „unkritisch“ und würde womöglich „brav“ wirken – und das geht gar nicht!
Aber man könnte im Bundestag selbst pragmatisch ansetzen und versuchen, die konkrete parlamentarische Arbeit besser verstehbar zu machen. Wohlgemerkt: Nicht besser zu „erklären“, denn das gelingt nicht bei einem Publikum, das solche Erklärungen nicht mag, und es gelingt denen nicht, die authentisch darüber reden könnten. Das wären die Politiker, die Abgeordneten selbst, und die haben dazu weder die Zeit noch den pädagogischen Impetus. Es käme darauf an, dass die Arbeit sich selber besser erklärt durch die Art, wie sie gemacht wird. Das würde bedeuten, Instrumente und Prozeduren der parlamentarischen Arbeit so einzusetzen, anzuwenden und darzustellen, dass der Bürger und Wähler etwas davon hat – nicht inhaltlich und materiell, das hat er ohnehin, sondern etwas hat für eine verständigere Beurteilung von Sinn und Zweck der Veranstaltung.
Interessant ist, was man so noch nicht erlebt hat
Dabei muss man sich im Klaren darüber sein, dass dies nur über die Vermittlung durch die Medien gelingen kann. Wir alle beschäftigen uns nicht mit Dingen, die geschehen, sondern mit Dingen, von denen wir erfahren, dass sie geschehen. Parlamentarische Aktivitäten, die den Bürgern besser einleuchten sollen, können das nur, wenn sie den Medien so einleuchtend erscheinen, dass man darüber berichten kann und muss. Deshalb kommt es beispielsweise nicht, wie in früheren „Parlamentsreform“-Vorhaben öfter angekündigt, auf eine „Verlebendigung der Bundestagsdebatten“ an – ein Ausdruck von bemerkenswerter Leblosigkeit –, sondern darauf, dass das Gebotene interessant ist. Interessant sind Sachen und Vorgänge, die man noch nicht oder so noch nicht erlebt hat. Hier gibt es einiges, wo sich ansetzen ließe.
Der Bundestag hält zum Beispiel seit seinem Bestehen Fragestunden ab, in denen Abgeordnete Fragen an die Regierung richten, die die Minister oder (meistens) Parlamentarischen Staatssekretäre beantworten. Das ist ein ehrwürdiges und unverzichtbares Instrument, bei uns wie in allen demokratischen Parlamenten. Es geht nur niemand hin – kein Journalist, kein Kameramann, und von den Abgeordneten meist nur die, die gerade eine Frage stellen möchten.
Das ist aber nicht etwa unerhört, sondern ganz logisch, aus mehreren Gründen, die ineinander greifen. Erstens werden die Fragen bis zum Freitag der Vorwoche schriftlich eingereicht, so dass die Beamten der Ministerien die Antworten nach allen Richtungen wasserdicht vorbereiten können, einschließlich der sehr kalkulierbaren zwei „Zusatzfragen“, die jedem Abgeordneten nach der im Plenarsaal vorgelesenen Antwort zustehen. Zweitens sind die Fragen in der Mehrzahl spezialisiert und kleinteilig, betreffen fachpolitische Interessen der Fragesteller oder sollen dem zuständigen Minister allenfalls ein wenig am Zeug flicken. Diesem gelingt es meist, das ins Leere laufen zu lassen, worauf der Abgeordnete und seine Fraktionskollegen die unerträgliche Arroganz des Antwortverhaltens beklagen. Drittens werden die Fragen in der Regel von den Fraktionen nicht aktuell konzentriert, koordiniert und vorbereitet, so dass wirklich politischer Druck aufgebaut werden könnte. Vielmehr kommen die unterschiedlichen Themen aus allen möglichen Ressorts mit immer wieder anderen Antwortgebern nacheinander vor – davor muss sich wirklich keine Regierung fürchten, und niemand braucht sich davon etwas Spannendes zu versprechen.
„Prime Minister’s Question Time“ als Vorbild
Eine ebenfalls gut gemeinte und schlecht gemachte Einrichtung ist der Diskurs zwischen Parlament und Regierung, der mittwochs nach Kabinettssitzungen stattfindet. Die Idee war an sich bestechend: Die Regierung hat nach ihren Sitzungen nicht zuerst die Pressekonferenz, sondern zunächst den Bundestag zu unterrichten und ihm Rede zu stehen. Was wirklich geschieht, sieht so aus: Das Kanzleramt teilt vorab schriftlich mit, zu welchem Thema die Regierung überhaupt berichten will; in der Sitzung hält der Kanzleramtschef ein zehnminütiges Referat von ausgesuchter Sachlichkeit; dazu darf nachgefragt werden; und dann werden noch zwei oder drei „freie“ Fragen zugelassen, nämlich solche, auf die der Referierende nicht eingegangen ist – für das Ganze stehen 35 Minuten zur Verfügung. Die Veranstaltung ist so unergiebig, dass oft nicht einmal „freie“ Fragen gestellt werden und die „Regierungsbefragung“ vorzeitig endet.
Mancher meint, diese Leerform parlamentarischer Kontrolle sei dem Regierungssystem geschuldet, bei dem die Parlamentsmehrheit die Regierung hervorbringt und mitträgt. Daran liegt es aber nicht. Die Erfinder dieser Regierungsweise, die Briten, praktizieren sie noch strikter als wir und haben trotzdem keine Schwierigkeiten mit einer Form der Befragung im Unterhaus, die für Abgeordnete und Journalisten an- und aufregend ist. In der „Prime Minister’s Question Time“ am Donnerstag wird der persönlich anwesende Regierungschef mit nicht vorangemeldeten Fragen zu beliebigen Themen konfrontiert. Das Spiel wird moderiert vom Speaker, der die Wortmeldungen aufruft, und zugleich vom Premier selbst, der einige Fragen sammeln und dann mehr oder weniger geschickt versuchen kann, in der Reihenfolge und Ausführlichkeit seiner Antworten Akzente zu setzen. Es ist immer spannend zu sehen, wo er sich gut schlägt, wo er in Bedrängnis kommt, wo er überzeugen kann und wo nicht. Die Briten in ihrer etwas sportlicheren Politikauffassung gehen offenbar davon aus, dass ein Regierungschef das können muss – und wenn nicht, ist das ebenfalls aufschlussreich.
Im Bundestag wäre derartiges möglich, wenn man sich auf allen Seiten ein Herz fassen würde. Die Kanzlerin müsste sich persönlich diese Zeit für den Bundestag reservieren. Sie müsste sich zutrauen, ohne bürokratische Vorbereitung und koalitionäre Vorabstimmung auf die Fragen reagieren zu können. Die Bundestagsmehrheit müsste das verlangen, aus ihrem eigenen Interesse heraus – wenn nur die Opposition es fordert, greift der Automatismus der Ablehnung. Die Abgeordneten müssten sich auf diese Gelegenheiten substanziell vorbereiten, Strategie und Schwerpunkte für jede Befragung entwickeln. Die Befragung müsste gar nicht zwanghaft jede Woche abgespult werden, was nur dazu führt, beim Fehlen spannender
politischer Vorgänge anderes künstlich aufzublasen und in allseitiger Langeweile zu enden. Das wären die Mindestvoraussetzungen dafür, dass den Bürgern so etwas im Fernsehen gezeigt würde, wenigstens bei Phoenix.
Für die herkömmliche Fragestunde wäre Ähnliches denkbar. Die Fachfragen könnte man schriftlich beantworten lassen, dafür aber den Fraktionen den Anspruch geben, reihum das Schwerpunktthema für jede Fragestunde zu bestimmen und die Anwesenheit der zuständigen Minister zu verlangen. Wenn dann thematisch zusammenhängende Fragen gut vorbereitet und aufeinander abgestimmt würden, könnte die Veranstaltung eine Herausforderung für die fragenden Abgeordneten ebenso wie für die „gefragten“ Minister werden. Auch würde die Öffentlichkeit erstmals begreifen, worüber die da überhaupt reden – derzeit ist es ja so, dass nur die Antworten der Regierung verlesen werden, nicht die eingereichten Fragen, auf die sie eingehen.
Wenn alles immer schon „verabschiedet“ erscheint
Wegen der Menge der Gesetze erscheint der Bundestag als ein Getriebener (und die Abgeordneten fühlen sich auch so), der dauernd Dinge zu Ende bringen muss, über die seit vielen Monaten immer wieder öffentlich diskutiert wurde. Da ist das betreffende Gesetz immer schon „von der Koalition beschlossen“, später ist es durch „Kabinettsbeschluss verabschiedet“ worden, und wenn das Bundestagsplenum zur abschließenden „Beratung“ kommt, erscheint das dann als bloßer Nachvollzug eines bis zum Überdruss diskutierten und längst überfälligen Vorhabens.
Das stimmt zwar nicht, aber die Beiträge, die im Bundestag auf dem gesamten Weg geleistet werden, vom politischen Start über die Begleitung des Regierungsentwurfs und die Bearbeitung in Koalitionsrunden, Fraktionen, Arbeitskreisen, Ausschüssen und Anhörungen bis kurz vor dem Gesetzesbeschluss, sind für die allgemeine Öffentlichkeit unsichtbar. Die sichtbare Arbeit im Plenum macht vielleicht 10 Prozent der Mandatsaufgaben aus, die anderen 90 Prozent sind für den Bürger unvorstellbar. An diesem Punkt wäre manches zu verbessern, zum Beispiel durch gelegentliche öffentliche Sitzungen von Ausschüssen oder auch Fachtagungen von Fraktionen, nicht nur mit „Experten“, sondern auch mit Bürgern, die Petitionen und Vorschläge eingesandt haben. Dadurch würde sich einiges herumsprechen über die schwierige und sachorientierte Arbeit in den Gremien. Auch durch die Intransparenz hat sich ein fundamentales Fehlverständnis über die Aufgaben des Bundestages festgesetzt.
Der Bundestag muss das Gras wachsen hören
Vieles davon ist unvermeidlich, aber nicht alles. Der Bundestag müsste versuchen, thematisch wieder mehr nach vorn zu kommen. Das geht nur, wenn er sich zu perspektivischen Grundsatzdebatten ohne „Vorlagen“ entschließt, nämlich dazu, ab und zu ein Thema ins Parlament zu holen, das gerade erst spürbar und gesellschaftlich brisant wird, zu dem aber (noch) nicht immer Gesetzentwürfe, europäische Initiativen, Kommissionsberichte und dergleichen vorliegen. Leider kann man nachgerade schon die Themen, die die Leute beunruhigen und umtreiben, danach definieren, dass sie im Bundestag nicht grundlegend oder nicht rechtzeitig vorkommen. Man wartet mit der Debatte, bis es einen Gesetzentwurf gibt, eine Regierungserklärung, die Antwort auf eine Große Anfrage – inzwischen können sich die Talkshows darüber hermachen.
Deshalb funktioniert auch die „Kernzeit-Debatte“ am Donnerstag nicht wie ursprünglich erhofft. Sie war 1995 aus dem soeben skizzierten Gedanken hervorgegangen. Unter dem Dauerdruck abzuschließender Vorlagen hat es sich dahin entwickelt, dass dann eben diese zu „Kernthemen“ erklärt werden. Nach dem ursprünglichen Konzept hätte der Bundestag aufkeimende Besorgnis um Apparatemedizin und Sterbehilfe, Energiekosten und Klimawandel oder Jugendkriminalität und Parallelgesellschaften früher als andere aufgreifen können – und alle Augen wären auf ihn gerichtet gewesen.
Noch immer dominiert die traditionelle Auffassung, das Parlament sei vor allem „der Gesetzgeber“. So wichtig der Gesetzesbeschluss für die Stellung des Bundestages ist – die Gesetzeserarbeitung ist es nicht. Der Bundestag muss sich unter den heutigen Bedingungen noch viel mehr als Vermittler, als Kommunikator zwischen gesellschaftlicher und staatlicher Willensbildung begreifen. Er ist offener Markt, nicht erste oder zweite „Kammer“ der Gesetzgebung, wie der überholte Begriff aus der Monarchie lautet. Für die Zukunft des Parlaments ist es nicht so wichtig, wie viel fachliches Wissen in einem Gesetz von ihm stammt. Aber alles hängt davon ab, dass es unter sich wandelnden Informations- und Mitwirkungsbedingungen den geistigen Verkehr und die grundsätzliche Übereinstimmung zwischen Gesellschaft und Staat vermitteln kann. Da muss der Bundestag ankommen. «