"Die Opposition muss die Regierung loben"
Berliner Republik: „Opposition ist Mist.“ Hat Franz Müntefering recht?
Wolfgang Zeh: Das hat er 2004 gesagt. Müntefering wollte der Sehnsucht seiner Partei nach der Opposition entgegenwirken. Er wollte sicher nicht sagen, dass wir keine Opposition brauchen.
Dennoch kommt hier zum Ausdruck, dass der Begriff „Opposition“ in Deutschland eher negativ besetzt ist. Er klingt für unsere Ohren etwas destruktiv und umstürzlerisch.
Zeh: Zumindest gibt es ein verbreitetes Unbehagen gegenüber Konflikten – und damit auch gegenüber der Oppositionsrolle. Ein Indiz dafür sind die fast hysterischen Forderungen nach innerparteilicher Geschlossenheit. Schon wenn eine Partei oder eine Regierung einige Tage über ein schwieriges Thema streitet, wird spekuliert, wann das Führungspersonal die eigenen Leute endlich wieder auf Linie bringt. Dazu gehört auch, dass kaum ein politischer Akteur seine wirklichen Interessen offenlegt. Lieber redet er vom Gemeinwohl und darüber, was die Experten raten – um ja nicht den Eindruck zu erwecken, kontrovers zu sein. Ich nenne das Interessenprüderie: Es fehlt an Verständnis dafür, dass der Streit dazu dient, die besten Entscheidungen herauszumendeln. Vor allem auch angesichts der Globalisierung und der Wirtschaftskrise werden Zweifel laut, ob das Gegeneinander und die langwierigen Kompromisse in der Demokratie nicht ein Wettbewerbsnachteil sind. In Wahrheit fahren Einheitsregime ihre Wirtschaft früher oder später an die Wand. Das sollten uns die sechziger und siebziger Jahre lehren: Südamerika, Spanien, Portugal, Griechenland. Der langsame demokratische Entscheidungsprozess ist am Ende effizienter, weil er Fehler vermeidet.
Wie ist diese Konfliktscheu historisch zu erklären?
Zeh: Ein Grund sind die Verhältnisse in der Weimarer Republik. Die heutige Interessenprüderie hat ihren Vorläufer in der damaligen Parteienprüderie. Die Parteien galten in Weimar gemeinhin als Elemente des Zerfalls, was unter anderem auf einen Systemfehler zurückgeht: Laut Reichsverfassung hatten die Parteien keinen wirklichen Einfluss auf die Regierungsbildung. Der Reichskanzler konnte nur vom Reichspräsidenten nominiert werden. Wenn das Parlament nicht institutionell dafür verantwortlich ist, wie das Land regiert wird, können die Parteien die Regierung natürlich ohne Hemmungen frontal angreifen. Die große Leistung des Grundgesetzes ist es, dass die Exekutive Fleisch vom Fleische des Parlaments ist. Die Abgeordneten sind in der Mehrheit verantwortlich für die Regierung.
Der Begriff „Opposition“ wird im Grundgesetz aber an keiner Stelle erwähnt.
Zeh: Das Grundgesetz geht implizit davon aus, dass die Opposition ein fester Bestandteil der parlamentarischen Demokratie ist. Wenn man eine Mehrheit haben muss, um den Kanzler zu wählen oder ein konstruktives Misstrauensvotum durchzuführen, dann muss es auch eine Minderheit geben. Auch der Satz in Artikel 21 des Grundgesetzes „Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit“ umfasst die Existenz einer Opposition. Außerdem sind die Rechte der parlamentarischen Minderheiten im internationalen Vergleich ziemlich einmalig: Ein Viertel der Mitglieder des Bundestages kann einen Untersuchungsausschuss einsetzen. Ein Drittel kann zu jeder Zeit eine Sondersitzung des Bundestages erzwingen oder eine abstrakte Normenkontrolle beim Bundesverfassungsgericht erwirken. Allerdings bringt unser Verhältniswahlrecht mit sich, dass die Opposition fragmentiert sein und aus mehreren Parteien bestehen kann. Deshalb gibt es anders als in England auch keinen einheitlichen Oppositionsführer – „her majesty’s opposition“. Aber selbst das muss kein Nachteil sein, wenn man die Oppositionsarbeit geschickt anstellt.
Viele Instrumente der Opposition im Bundestag wie Kleine Anfragen oder Fragestunden haben kaum Außenwirkung. Wie sollte die Opposition sie einsetzen?
Zeh: Kleine Anfragen zu Fachthemen sind tatsächlich meistens nur für die politische Szenerie von Bedeutung. Wenn die Regierung dann Fragen unzureichend beantwortet, kann die Opposition über deren Arroganz jammern – aber das interessiert niemanden. Ich verstehe das ja, man ist Sprecher für irgendetwas und lässt dann von Mitarbeitern eine fulminante Liste von 60 Fragen ausarbeiten. Aber ich würde lieber Schwerpunkte setzen und ein paar ganz große Brocken für Große Anfragen vorbereiten, darauf erfolgt wenigstens eine Debatte im Plenum. Außerdem würde ich mir als SPD ein weiteres Instrument noch einmal anschauen: Seit den siebziger Jahren gibt es immer mittwochs nach der Kabinettssitzung und vor der Fragestunde die so genannte Regierungsbefragung – eine Erfindung der CDU. Die Grundidee war, dass die Regierung nicht nach der Kabinettssitzung einfach in die Pressekonferenz geht, und im Parlament läuft nebenher eine Fragestunde, die keinen Menschen interessiert. Die Fragen werden nicht vorher eingereicht, sondern müssen spontan beantwortet werden, wie bei der „Prime Minister’s Question Time“ in Großbritannien. Auf diese Weise hat die Opposition damals versucht, Bundeskanzler Helmut Schmidt vorzuführen. Er ist auch persönlich erschienen – und hat sie jedes Mal belehrt, was in der Weltökonomie so los ist, der hat sie richtig abgebürstet. Heute läuft die Regierungsbefragung domestiziert ab: Der Kanzleramtsminister berichtet langatmig über formelle Punkte aus der Kabinettssitzung. Nach zehn Minuten sind alle gelangweilt und es gibt keine Frage mehr. Die eigentliche Idee war aber, dass der Kanzler selbst kommt. Dieses medienwirksame Instrument liegt brach. Man sollte Angela Merkel einladen. Wenn sie nicht erscheinen will, kann man das thematisieren. Damit könnte man zeigen: Wir machen etwas Neues in der Opposition. Außerdem könnte die SPD so verdeutlichen, dass sie die stärkste Oppositionspartei ist und nicht mit den anderen im Wettbewerb um Kleine Anfragen steht.
Wie profiliert sich eine Oppositionspartei, ohne als bloße Meckertruppe wahrgenommen zu werden?
Zeh: Indem sie, wo immer möglich, die Regierung nachsichtig lobt – um dann den wirklich wichtigen Kritikpunkten zusätzliches Gewicht zu geben. Es nimmt einem doch kein Mensch ab, dass das Regierungshandeln immer großer Mist ist und man selbst für alles tolle Konzepte hat. Wenn Sozialdemokraten zum Beispiel behaupten, die überaus populäre Ursula von der Leyen würde die deutsche Familienpolitik ins Chaos führen und die Kinderarmut steigern – das bringt doch nichts. Natürlich muss man das Betreuungsgeld pointiert kritisieren, so wie Heinz Buschkowsky das getan hat. Aber die Oppositionsführung sollte verhindern, dass jeder Fachpolitiker blindlings auf die Regierung eindrischt. Insgesamt kommt es auf die Mischung an. Die Ingredienzien der Oppositionspolitik müssen eine schmackhafte Suppe ergeben – nicht fade, aber auch nicht überwürzt.
Sollten sich die drei Oppositionsparteien im Bundestag untereinander abstimmen?
Zeh: Von einer Koalition in der Opposition halte ich nichts. Das würde innerhalb der Fraktionen zu unglaublich schwierigen Diskussionen über einzelne Positionen führen. Sollen so künftige Regierungskoalitionen vorbereitet werden? Ich halte generell nichts davon, andauernd über Koalitionen zu reden. Stattdessen sollte die SPD eine eigenständige Linie fahren und sich über die anderen Oppositionsparteien stellen, die nicht ihren historischen Hintergrund haben. Es wäre ganz schlecht, wenn die SPD sich zu einem von drei mental als gleich stark empfundenen Grüppchen machen würde. Sie sollte sich psychologisch in der Nähe der größeren Regierungspartei aufhalten.
Gibt es Beispiele für erfolgreiche Oppositionsarbeit, von denen die SPD lernen kann?
Zeh: Vielleicht sollte man sich die Oppositionsarbeit der SPD in den zehn Jahren bis zur ersten Großen Koalition noch einmal anschauen. In diese Zeit fällt ja nicht nur das Godesberger Programm. Ebenso wichtig für die guten Wahlergebnisse in den sechziger Jahren war es, dass wir in den Ländern und Großstädten interessante und tüchtige Politiker hervorgebracht hatten. Gute Ideen kann man nämlich nicht allein in den Arbeitsgruppen der Fraktion entwickeln, sondern die müssen auch von anderswo kommen, etwa von Leuten mit engen Kontakten in die Kommunen und Länder.
Häufig ist die Rede davon, die SPD brauche in der Opposition ein inhaltliches Projekt. Unklar bleibt meistens, wie dieses Projekt genau ausgestaltet sein könnte. Haben Sie Vorschläge?
Zeh: Die SPD braucht irgendein Mut-Thema, bei dem die Leute sagen: „Das fehlt!“. Unsere Partei ist so furchtbar konservativ geworden in ihrem Denken, so ängstlich und blockiert. Wir sind an allen interessanten Punkten entweder fürs Anhalten oder für die Rolle rückwärts. Die Landschaften sollen möglichst wieder so konstruiert werden wie im 19. Jahrhundert – Ruhe und Artenvielfalt. Oder das Klima: Das soll genau so bleiben, wie es seit der letzten Zwischeneiszeit gewesen ist. Bloß nicht fragen, ob der Klimawandel auch Chancen mit sich bringt. Auch die Rentenformel von Adenauer aus dem Jahr 1957 hätten wir am liebsten zurück. Und in der Gentechnik vertreten wir die Kirchenmeinung! Kurzum: Wir geben ein zaghaftes, halb verzweifeltes, bedenkenträgerisches Bild ab. Und so kommt die SPD rüber, nicht nur bei meinen Nachbarn auf dem Dorf im Schwäbischen, wo ich jetzt lebe. Vor allem die jungen Leute wollen sich für etwas begeistern können, das auch riskant sein darf, nicht bloß für Fehlervermeidung.
Sie plädieren für einen optimistischeren Fortschrittsbegriff.
Zeh: Genau. Unsere Parteizeitung heißt „Vorwärts“, nicht „Rückwärts“. Lesen Sie einmal nach, mit welcher geradezu erfrischenden Zukunftszugewandtheit das Godesberger Programm daherkommt, etwa beim Thema Atomenergie. Die Risiken werden genannt, aber auch die unglaublichen Chancen bei der Energiegewinnung. Mag sein, dass sich das so nicht bewahrheitet hat, aber auf die positive Haltung kommt es an. Was richtig und was falsch sein wird, muss die Zukunft erweisen. Heute hält die SPD aus lauter Angst, Fehler zu machen, nur noch am Bekannten fest. Wieso traut sich die SPD zum Beispiel nicht an das Thema Steuerreform heran? Wir überlassen der FDP das Spielfeld – und werden als Befürworter des komplizierten und ungeliebten Status quo wahrgenommen.
Immer wieder gibt es Reformvorschläge, die der Opposition mehr politische Möglichkeiten einräumen würden. Beispielsweise plädiert der Politologe Frank Decker für einen stärker konsensorientierten Umgangsstil im neuen Fünf-Parteien-System; der damit einhergehende Verlust der Bedeutung von Wahlen könnte durch anderweitige Formen der Bürgerbeteiligung aufgefangen werden. Decker zufolge brauchen wir also weniger Fundamentalopposition und mehr direkte Demokratie.
Zeh: Dem ersten Teil seines Arguments stimme ich zu: Mehr Konsens würde auch den Bürgern gut gefallen, nicht nur weil sie konfliktscheu sind. Vielmehr ist der gefährliche Eindruck entstanden, Politik sei ein gesellschaftliches Subsystem neben vielen anderen. Die Kulturszene hat ihre Spiele, die Wirtschaft hat ihre Spiele – die Politik eben auch. Die Vorstellung, dass die Politik quer zu allem anderen steht und den Einzelnen direkt betrifft, kommt gar nicht mehr auf. Andererseits glaube ich nicht, dass mehr direkte Demokratie als Kompensation sinnvoll ist. Die Frage ist doch: Gibt es bei uns das Interesse und die Bereitschaft der Bürger, in einem Land, das viel größer ist als die Schweiz und völlig andere historische Traditionen hat, eine Referendumsdemokratie zu machen? Partizipation wird doch dauernd gefordert, bloß selten genutzt. Zu den öffentlichen Sitzungen eines Gemeinderats kommen einige ältere Herrschaften. Der Rest hat vom Gemeinderat noch nie etwas gehört, sondern regt sich höchstens gelegentlich auf, wenn es um die Umgehungsstraße geht. Abgesehen davon, dass jedes Referendum auf Bundesebene auch Kosten verursachen würde, und zwar in der Größenordnung von Bundestagswahlen – ich sehe schon das Genörgel über den Aufwand vor mir, den die Kampagnen, Unterlagen und Abstimmungslokale auslösen würden.
In zahlreichen Artikeln und als Direktor beim Bundestag haben Sie immer wieder die öffentliche Geringschätzung des Parlaments kritisiert. Welche Mitschuld trägt die Opposition an diesem Phänomen?
Zeh: Entscheidend ist das Verhalten der Regierung. Wenn sie den Eindruck vermittelt, das Parlament sei lästig, dort würden ihre guten Gesetzentwürfe verpfuscht, ist das problematisch. Zumal eine solche Haltung diesen alten deutschen Antiparlamentarismus bedient: Die im Parlament reden nur, jetzt muss endlich gehandelt werden! Dabei besteht das Handeln in einer friedlichen und kommunikativen Gesellschaft ja gerade in Worten und überzeugenden Argumenten. In den zwanziger und dreißiger Jahren war vom Reichstag als der „Schwatzbude“ die Rede. Noch heute wird gelegentlich bewundert, wenn die Regierung das Parlament von oben herunter behandelt. Die Opposition hat hier eine besondere Aufgabe, dem Parlamentarismus zu mehr Popularität zu verhelfen, etwa indem sie selbstbewusst einfordert, dass die Regierung nicht nur ihr und der Öffentlichkeit, sondern gerade auch der parlamentarischen Mehrheit gegenüber Rechenschaft ablegt. Das hieße zugleich, die Regierungsfraktionen unablässig in ihrer Verantwortung für das Verhalten der Exekutive vorzuführen.
Um antiparlamentarischen Tendenzen entgegenzuwirken, wurde auch in dieser Zeitschrift wiederholt eine Stärkung der politischen Bildung gefordert. Heilmittel oder Placebo?
Zeh: Ich glaube nicht so sehr an politische Bildung. Man sieht ja, was in 60 Jahren Bundesrepublik dabei herausgekommen ist. Ein wenig sind auch Lehrende in Schulen und Bildungseinrichtungen mit Schuld, die unser System selbst nicht richtig verstehen wollen. Besser, man könnte bei den Medien ansetzen. Sie vertiefen permanent das Antiparteien- nebst Verdrossenheitsgeschwafel und damit den antiparlamentarischen Reflex. Journalisten lassen sich zwar nicht pädagogisch überzeugen, aber vielleicht nachdenklich machen. Dabei wäre es hilfreich, wenn auch Politiker genauer auf ihre Sprache achteten. Es muss nicht jede Äußerung, die einem nicht passt, gleich als „unerträglich“ und „menschenverachtend“ gebrandmarkt werden. So werden die letzten Schranken für die mediale Kommentierung eingerissen, und die Leute, die das lesen, wollen nur noch weg davon. Das beste Beispiel sind die Reaktionen auf Thilo Sarrazins jüngstes Interview. Größere sprachliche Sorgfalt gilt für alle: Der Regierungssprecher muss nicht verkünden, das Kabinett habe ein Gesetz beschlossen. Das ist irreführend und kann bei den Bürgern Frust auslösen, wenn das scheinbar erledigte Thema endlich im Bundestag behandelt wird – kommen die denn nie zu Potte? Und wenn die Opposition der Kanzlerin Handlungsunfähigkeit vorwirft, obwohl die Regierung bei einem Problem gar nichts ausrichten kann, schadet das ebenfalls der politischen Kultur. Ganz abgesehen davon, dass die Opposition sich damit selbst eine Falle aufstellt für die Zeit, in der sie wieder regiert. Mit anderen Worten: Alle, die in unserem demokratischen Parlamentarismus und durch ihn leben, dürfen nicht nur von ihm nehmen, sondern müssen ihm auch geben. Es ist wie bei einem Bankkonto – da kann man auch nicht ewig abheben ohne einzuzahlen.
Herr Zeh, herzlichen Dank für das Gespräch.