Wer nur seine Texte liest, kennt erst den halben Welzer
Harald Welzer kommt an diesem Montagabend leicht gehetzt in sein Lieblingslokal, das „Diener Tattersall“ am Savignyplatz. Die S-Bahn aus Potsdam hatte Verspätung. Und anstatt ihn erst mal ankommen zu lassen, fangen wir das Gespräch auch noch mit einer provozierenden Frage an. Aber Welzer ist ein lockerer Typ. Er lehnt sich zurück und sagt: „Sofort in medias res? Finde ich immer gut.“
Also: „Gehen Sie nächstes Jahr wählen, Herr Welzer?“ Der 58-Jährige zögert keine Sekunde: „Natürlich gehe ich wählen, so wie ich im Jahr 2013 auch wählen gegangen bin.“ Die Frage beruhe auf einem Missverständnis, sagt Welzer. Die Sache war die: Vor der Bundestagswahl 2013 hatte er im Spiegel einen Essay veröffentlicht mit dem Titel „Das Ende des kleineren Übels – warum ich nicht mehr wähle“. Das blieb bei vielen so hängen. Doch der Text sei vor allem als Kritik an der Politik des „Durchwurstelns“ der Parteien gemeint gewesen, die sich in unserer „postdemokratischen Ära“ nicht mehr voneinander unterschieden und die Herausforderungen der Zukunft -ignorierten. „Außerdem galt der Text nur unter der Voraussetzung, dass es keine rechtspopulistische Partei ins Parlament schaffen kann.“ Mit dem Aufstieg der AfD habe sich die Option des Nichtwählens sowieso endgültig erledigt.
Nachdem das geklärt ist: Harald Welzer ist Sozialpsychologe und Soziologe, Professor für „Transformationsdesign“ an der Europa-Universität Flensburg, Mitglied zahlreicher wissenschaftlicher Beiräte und Akademien, streitbarer Publizist und Bestseller-Autor, Allround-Intellektueller, Aktivist. Bekannt wurde er mit seiner grandiosen Studie Opa war kein Nazi über den Nationalsozialismus und den Holocaust im Familiengedächtnis (2002). Später beschäftigte er sich mit so unterschiedlichen Themen wie den sozialen Folgen des Klimawandels, den Ursachen von Gruppengewalt oder der Notwendigkeit eines alternativen Lebensstils jenseits der Konsumgesellschaft. In seinem neuen Buch Die smarte Diktatur: Der Angriff auf unsere Freiheit geht es um die totalitäre Macht der Internetkonzerne. Als das verbindende Element seiner Arbeit sieht er die Frage nach Potenzialen: „Wie verhalten sich Menschen unter verschiedenen Bedingungen? Wann handeln sie negativ und wann positiv? Und wie nehmen sie ihre Wirklichkeit wahr?“ Diese Themen seien in Zeiten postfaktischer Debatten und Wahlentscheidungen wichtiger denn je. Welzer versteht sich dabei als politischer Wissenschaftler. „Ich wollte nie selbstgenügsame Forschung betreiben, davon gibt es genug.“ Stattdessen will er mithelfen, auf verschiedenen Gebieten eine Repolitisierung der Gesellschaft zu erreichen. „Deshalb melde ich mich regelmäßig öffentlich zu Wort und gehe den Leuten auf die Nerven.“
Unser Treffpunkt, das Diener, ist eine alte Berliner Künstlerkneipe mit hohen Decken und rustikalem Ambiente. An den Wänden hängen Fotos der illustren Gäste aus den vergangenen Jahrzehnten. „Auch Harald Juhnke stand hier regelmäßig an der Theke“, sagt Welzer. Neben einer großen Getränkeauswahl gibt es klassische deutsche Küche und Berliner Spezialitäten. „Solche amtlichen Kneipen, wo man mit Freunden Karten spielen kann und etwas zu Essen bekommt, gibt es in Berlin kaum noch.“ Die Bedienung kennt ihn und fragt: „Einmal wie immer?“ Welzer nickt. „Wie immer“ bedeutet bei Welzer Bayerischer Leberkäse mit Spiegelei und einer extra Portion Bratkartoffeln. Wir freuen uns auf Nürnberger Rostbratwürstchen mit Sauerkraut und einen großen Salat.
Hier in der gemütlichen Atmosphäre des Dieners wurde an einem Skatabend die Idee für Harald Welzers jüngstes Projekt geboren: die Initiative „Offene Gesellschaft“. Es handelt sich um eine bundesweite Veranstaltungsreihe, bei der die Bürger miteinander darüber diskutieren können, was für ein Land die Bundesrepublik sein soll. „Die Veranstaltungen sollen dazu beitragen, die Demokratie als fragile Gesellschaftsform gegen ihre Feinde zu verteidigen“, so Welzer. Die Initiative scheint einen Nerv zu treffen: Zu den ersten 50 Veranstaltungen kamen insgesamt knapp 8 000 Menschen. „Es gibt ein Bedürfnis nach zivilisiertem Austausch in unserer polarisierten Gesellschaft“, sagt er. „Deshalb ist es wichtig, dem digitalen Hass ein analoges Zusammenkommen entgegenzustellen.“
Wir fragen ihn, wie die deutsche Politik auf die AfD reagieren sollte. Welzers Rat: „Weniger zur Kenntnis nehmen, mehr ignorieren!“ Leider sei dies mittlerweile kaum mehr möglich, weil Politik und Medien auf das Marketing der populistischen Zumutungen bereits zu oft reingefallen seien. „Viele Politiker und Journalisten haben vergessen, dass die Themen, die von rechts gesetzt werden, keine Mehrheitsthemen sind“, sagt Welzer. Die Ängste der so genannten besorgten Bürger seien oft nicht real, sondern neurotisch – etwa die Angst vor Muslimen. Gegen solche neurotischen Ängste lasse sich leider kaum argumentieren. „Das ist für den politischen Diskurs ein riesiges Problem.“
Hinzu komme, dass im vergangenen Jahr auch Politiker anderer Parteien Ängste geschürt haben, wodurch in der Flüchtlingskrise der Eindruck eines staatlichen Kontrollverlusts entstand. „Diesen Kontrollverlust gab es doch in Wirklichkeit gar nicht“, sagt Welzer. Horst Seehofer bezeichnet er als „gefährlichsten Politiker Deutschlands“. Denn der bayerische Ministerpräsident habe mit seinen Warnungen vor einem angeblichen Stimmungswandel in der Bevölkerung und mit der Forderung nach einer Obergrenze die Zuversicht der Bürger zerstört. „Die Menschen wussten, dass es Probleme geben wird – die aber durch den Staat und ihren eigenen Einsatz gelöst werden können.“ Welzer ist sich sicher: Wäre die politische Debatte anders gelaufen, hätte es auch keinen Vertrauensverlust in den Staat gegeben. „Die politisch kommunizierten Inhalte sind nicht mehr die Inhalte der demokratisch gesinnten Mehrheit.“
Zugleich sei dem Populismus langfristig nur beizukommen, wenn Politik und Gesellschaft die dringenden Zukunftsfragen anpacken und dafür sorgen, dass der Kapitalismus nachhaltig wird. Harald Welzer hat damit schon mal angefangen und „FuturZwei“ gegründet. Die gemeinnützige Stiftung setzt sich für eine „zukunftsfähige Kultur des Lebens und Wirtschaftens“ ein und sammelt in einem „Zukunftsarchiv“ konkrete -Projekte aus der Zivilgesellschaft, die Vorbildcharakter haben – von Bürgerinitiativen bis hin zu kreativen Schulleitungen. Damit sollen andere gesellschaftliche Akteure motiviert werden, sich ebenfalls zu engagieren.
Das geschieht aus Welzers Sicht noch immer zu wenig. Gerade viele Westdeutsche, die keine Erfahrungen mit Systemumbrüchen haben, hätten sich im Wohlstand gemütlich eingerichtet. Die Lebensbedingungen seien ja insgesamt immer nur besser geworden. „Gerade meine Generation hat die Fettaugen auf der Suppe abbekommen, und sie weiß es noch nicht einmal.“ Die Enkel könnten aber nur dann ebenfalls ein gutes Leben führen, wenn sich die Gesellschaft heute radikal verändere.
Nach einem leckeren Essen und mehreren Gläsern Jever ist es spät geworden, Harald Welzer muss zurück nach Potsdam. Der Abend mit ihm in der Kneipe hat uns gezeigt: Wer nur seine Texte liest, kennt erst den halben Welzer. Denn seine Themen sind zwar apokalyptisch und seine Prognosen düster. Aber persönlich ist Harald Welzer spontan und witzig, optimistisch und grundsympathisch. Womöglich schöpft er die Energie für seine Arbeit gerade aus diesem Spannungsfeld. Wir wünschen ihm dafür alles Gute.