Der den Stier bei den Hörnern packen will

Die meisten Franzosen begreifen die Globalisierung als finstere Macht, die ihr Land im Klammergriff hält. Jetzt hat Frankreich einen Präsidenten, der die Sache völlig anders sieht. Emmanuel Macron will seine Landsleute ermutigen, ihr Schicksal selbstbewusst in die eigenen Hände zu nehmen. Kann dieses Experiment glücken?

Der neue französische Präsident Emmanuel Macron will die Französische Republik in Bewegung versetzen und stilisiert sich zum Reformator für die erstarrte Nation. Die von Charles de Gaulle gewollte Rolle eines vom Volk gewählten republikanischen aber auch monarchischen Präsidenten nimmt er anders als seine beiden Vorgänger ernst. Über sein politisches Projekt „En Marche“ wacht er offenbar en détail und mit der Versessenheit eines Überzeugungstäters. Die Kommentatoren französischer Blätter nennen ihn bereits „Bonaparte“ oder „aufgeklärter Despot“ , wenn sie über seinen Machtanspruch sinnieren. Zwar wurden für das Parteiprogramm auch die Ergebnisse diverser Diskussionsforen im ganzen Land mit einbezogen, die zentralen Reformprojekte gehen jedoch auf Überzeugungen Macrons zurück. Der Rest des Programms sollte vor allem die Basis für eine gesellschaftliche Beteiligung bilden und somit den Aufbau einer zukünftigen Parteimitgliedschaft sicherstellen – und selbstverständlich dazu beitragen, Mehrheiten für die Wahlen zu generieren.

Nicht rechts, nicht links. Und was dann?

Über das Ziel hinaus schießen diejenigen politischen Gegner Macrons, die ihm die Legitimation für seine Reformpolitik absprechen, weil er im ersten Wahlgang „nur“ 24 Prozent der Stimmen erhielt und mit einem Drittel der abgegebenen Stimmen drei Fünftel der Sitze im Parlament erlangte. Denn Frankreich lebt schon lange mit dem Mehrheitswahlrecht. Auch dass die Kandidaten für die Parlamentswahl von einer siebenköpfigen Kommission ausgewählt wurden, kann mit dem Argument gerechtfertigt werden, aufgrund der knappen Zeit sei keine andere Möglichkeit praktikabel gewesen.

Hingegen werfen einige spätere Entscheidungen Fragen auf. Zum Beispiel wird die Entstehung neuer Machtzentren innerhalb der Bewegung – beziehungsweise der neu gegründeten Fraktion von La République en Marche (LRM) – unter anderem dadurch verhindert, dass unter dem Siegel der (ständigen) „Erneuerung“ die wichtigsten Posten innerhalb der Fraktion zur Halbzeit der Legislatur zur Disposition stehen. Bisherige Amtsträger dürfen dann nicht mehr für diese Positionen kandidieren. Und die Tatsache, dass die meisten Parlamentarier der LRM über keine Erfahrung als Mandatsträger verfügten, kann auch als eine gezielte Schwächung des parlamentarischen Gestaltungsanspruches interpretiert werden und eben nicht nur als eine Reaktion auf den Erneuerungswunsch in der französischen Bevölkerung.

Den Vorwurf, undemokratische Methoden anzuwenden, muss sich Macron auch für sein Vorgehen hinsichtlich der Arbeitsmarktreform anhören. Er will sich zunächst vom Parlament die Ermächtigung einholen, per Verordnung die Regeln ändern zu können. Anschließend will er dem Parlament ein von der Exekutive ausformulierten Gesetzentwurf zur Abstimmung vorlegen. Zwar gingen auch die Vorgängerregierungen relativ häufig genauso vor (zwischen 2001 und 2013 insgesamt 113 mal), allerdings symbolisiert das Arbeitsrecht in Frankreich den Kernbestand linker Politik. Bei dem Thema hatten sich im Konflikt mit den Gewerkschaften schon einige Präsidenten eine blutige Nase geholt. Dieses heikle Politikfeld jetzt per Verordnung zu reformieren, geht vielen entschieden zu weit.

Die Wahlen gewonnen hatte Macron nicht nur mit seinen Inhalten, die auf die Reformerwartungen vieler Franzosen zugeschnitten waren und die rechte wie linke Programmpunkte miteinander verbanden, sondern auch mit beeindruckenden organisatorischen Fähigkeiten. Die Art und Weise, wie die Bewegung Anhänger rekrutierte, die Medien bediente, die sozialen Netzwerke bespielte sowie Datenerhebungen für sich nutzte, war beeindruckend. Das alles hatte nicht nur instrumentellen Charakter, sondern steht auch für die Identität dieser neuen Partei und wird mit dem Anspruch vorgetragen, dem ganzen Land eine „Start-up-Mentalität“ verordnen zu wollen. Am 15. Juni 2017 hatte der neue französische Präsident von der Messe VivaTech getwittert: „Ich will, dass Frankreich eine Start-up-Nation ist. Eine Nation, die denkt und agiert wie ein Start-up.“ Was bedeutet dieser Ansatz für die konkrete Politik des neuen Präsidenten, soweit sich dies im Augenblick schon sagen lässt?

Macron hatte gesagt, nicht links und nicht rechts sein zu wollen. Stattdessen beansprucht er die Mitte für sich und vereinnahmt die moderaten Konservativen ebenso wie die Sozialliberalen. Die Politik müsse pragmatisch, an den realen Wirkungen orientiert sein und nicht ideologisch auf die Herausforderungen der Moderne reagieren wie die Globalisierung, die Veränderungen in der Arbeitswelt durch Digitalisierung oder neue Erwerbsbiografien. Beispielsweise ist Macron dafür, dass die Menschen künftig leichter zwischen abhängiger Beschäftigung und Selbständigkeit wechseln können.

Alles verkrustet, gefesselt, blockiert

Ihm zufolge krankt Frankreich an verkrusteten Strukturen und überladenen Regulierungen, die das Land politisch und unternehmerisch blockieren. Statt sich den Herausforderungen der Globalisierung zu stellen, habe das Land sich in der Vergangenheit zu sehr auf sich selbst konzentriert und dabei einen Reformstau aufgebaut, den seine Vorgänger zu zögerlich anpackten. Dem Wunsch der Franzosen nach mehr Eigenverantwortung im Betrieb und in der Politik sei nicht Rechnung getragen worden. Die Parteien und die in ihnen gewachsenen Mentalitäten und Verhaltensweisen der Berufspolitiker missfielen den Wählern. Für all dies soll die Agenda des Präsidenten ein Gegenentwurf sein.

Ein Gesetz zur Wiederherstellung des politischen Vertrauens soll die mittlerweile von der Öffentlichkeit nicht mehr tolerierten Usancen der politischen Klasse unterbinden und eine „Erneuerung“ des Politikbetriebs sicherstellen. Bald dürfen Familienmitglieder von Politikern nicht mehr auf Staatskosten beschäftigt werden, während kein Abgeordneter länger als drei Legislaturperioden am Stück im Parlament sitzen darf.

Lösungsorientiert soll es jetzt zugehen

Macron hat Recht: Die Wirtschaft des Landes ist gefesselt durch ein kaum mehr zu überblickendes Arbeitsrecht, eine als unternehmensfeindlich geltende Verwaltung sowie eine generelle Überregulierung der Wirtschafts- und Arbeitswelt. Deshalb will der neue Präsident mehr Spielräume schaffen, die Rechtslage vereinfachen und sie überschaubarer gestalten und dafür eine Vielzahl von Regulierungen streichen. Stattdessen sollen pragmatische, auf den wirtschaftlichen Erfolg und Beschäftigung konzentrierte Lösungen gefunden werden. Macron will die Sozialbeiträge reduzieren und mit Steuermitteln ausgleichen sowie die Höhe der Abfindungen nach Entlassungen kalkulierbarer machen.

Als ersten Schritt will Macron das Arbeitsrecht so novellieren, dass die Verhandlungen zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite von der Ebene der Branchen auf die Unternehmen verlagert werden. Im Ergebnis sollen flexiblere und an den Betrieb angepasste Vereinbarungen gefunden werden. Da die Gewerkschaften in den Unternehmen bei einem Organisationsgrad von knapp acht Prozent häufig schwach vertreten sind und explizit die Möglichkeit eines Betriebsreferendums für die Belegschaft auf Initiative des Arbeitgebers vorgesehen wird, sehen sich diese durch die Novelle zu Recht geschwächt. Im Augenblick liegt die Tarifabdeckung über Branchenverträge bei etwa 95 Prozent, künftig dürfte sie geringer ausfallen. Allerdings ist noch nicht endgültig festgelegt, welche Bestandteile der Branchenvereinbarungen auf die Betriebsebene verlagert werden. Fest steht aber, dass zentrale Punkte wie Löhne, Arbeitszeit, Überstunden, Gesundheit und Sicherheit in diesem Paket enthalten sein werden.

Macron steht für Flexicurity

Wie weit geht der Wirtschaftsliberalismus des neuen französischen Präsidenten? Will er auch die Verantwortung für Lebensrisiken privatisieren, wie viele befürchten? Im Gegenteil, er plant ein Gegengewicht zur Flexibilisierung zu schaffen. Vom Sozialstaat sollen zukünftig auch Selbständige profitieren. Sowohl die staatliche Arbeitslosenversicherung als auch die Rentenversicherung sollen Arbeitnehmern wie Selbständigen gleichermaßen zugänglich sein. Damit sich Arbeitnehmer leichter für einen Wechsel zu einem anderen Arbeitgeber oder in die Selbstständigkeit entscheiden, sollen sie sofort Arbeitslosengeld in Anspruch nehmen können, auch wenn sie selbst kündigen. Dies soll zumindest einmal im Zeitrahmen von fünf Jahren gelten, wobei nach Ablehnung zweier zumutbarer Stellen das Arbeitslosengeld gestrichen wird.

Angesichts der hohen strukturellen Arbeitslosigkeit will Macron die Aus- und Fortbildung stärken, und das nicht nur bei der Berufsbildung. Zur besseren Integration der Kinder aus so genannten Problemvierteln mit hoher Jugendarbeitslosigkeit werden in diesen Stadtvierteln schon ab dem kommenden Schuljahr die Klassengrößen halbiert. Anstatt in diese Schulen Berufsanfänger zu schicken, soll ein erhöhtes Gehalt erfahrene Lehrer anlocken. Insgesamt sind für Bildung Mehrausgaben in Höhe von 15 Milliarden Euro vorgesehen.

Besonders vor dem Hintergrund der terroristischen Anschläge der jüngeren Vergangenheit spielt das Thema Sicherheit in Macrons Programm eine wichtige Rolle. Allerdings geht sein Ansatz über die reine Terrorbekämpfung hinaus. Das Sicherheitsgefühl im Alltag, das auch durch Kleinkriminalität leidet, soll wiederhergestellt werden. An dieser Stelle klingt das Programm sehr konservativ. Und in der Familienpolitik hatte Macron vor der Präsidentschaftswahl Verständnis für diejenigen konservativen, katholischen Franzosen gezeigt, die sich von der „Marriage pour tous“ (Ehe für alle) der Regierung Francois Hollande überrumpelt fühlten und massiv dagegen protestierten. Die Gesetzesänderung sei zu schnell erfolgt und schlecht kommuniziert worden, sagt Macron. Grundsätzlich tritt er aber für ein liberales Gesellschaftsmodell ein, in dem jeder nach seiner Fasson glücklich werden soll.

Kein Geld übrig für Investitionen?

Für den ökologischen Umbau sind laut Wahlprogramm ebenfalls 15 Milliarden Euro eingeplant. Der populäre Umweltminister Nicolas Hulot hatte schon mehrere Angebote abgelehnt, Minister zu werden. Nun nahm er den Ruf erstmals an. Er wird darüber wachen, dass die ihm gegenüber gemachten Zusagen für eine ehrgeizige Umweltpolitik nicht verwässert werden.

Ob das angekündigte Einsparvolumen von 60 Milliarden Euro auch angesichts einer gerade vom Rechnungshof festgestellten Finanzierungslücke von rund acht Milliarden Euro die Ausgabensteigerungen in den oben genannten Bereichen zulassen wird, ist unklar. Will Macron wie angekündigt schon in diesem Jahr das Drei-Prozent-Ziel des Maastricht-Vertrages erreichen, muss er die angekündigten Investitionen wohl verschieben.

Mit Mut gegen Abschottung

Sowohl Macrons Problemanalyse als auch sein Reformpfad klingen sehr nach dem Drittem Weg, weniger nach dem skandinavischen Modell. Im öffentlichen Sektor will Macron bis zu 150 000 Stellen abbauen, die Sozialpartnerschaft würde mit seiner Arbeitsmarktreform eher geschwächt. Kein Wunder, dass Tony Blair ihn für sich in Anspruch nimmt. Der ehemalige britische Premierminister gratulierte Macron am 13. Mai in Le Monde zu dessen Politik der „progressiven Mitte“. Macron suche realistische Lösungen für die Probleme der Globalisierung, so wie er selbst „es schon lange unterstütze“. Der ehemalige Europaminister der Regierung Blair, Denis McShane, nannte Macron einen „europäischen, sozialdemokratischen Reformisten reinsten Wassers“.

Viele Franzosen betrachten die Globalisierung als Wurzel allen Übels. Weit über die Parteien des rechten und des linken Randes hinaus wird sie für den wirtschaftlichen Niedergang Frankreichs und die daraus resultierende hohe Arbeitslosigkeit verantwortlich gemacht. Emmanuel Macron sieht das anders. Er will den Franzosen Mut machen, die Globalisierung als Herausforderung zu begreifen und die Wirtschaft soweit modernisieren, dass sie verlorengegangenes Terrain zurückerobern kann. Nicht in allen Industriebereichen, aber doch in einigen Sparten.

Die Kritik an der Globalisierung nimmt er ernst, ohne nationalen Protektionismus und Abschottung zu predigen. Unlauter Wettbewerb soll ebenso bekämpft werden wie Dumping bei Preisen und Löhnen. Anders als der rechtsextreme Front National oder die linksnationale Bewegung von Jean-Luc Mélenchon, die Europa als exekutiven Arm der Globalisierung stigmatisieren und auch aus diesem Grund ablehnen, versteht Macron die Europäische Union als einen wirkmächtigen Rahmen. Die EU ermögliche es ihren Mitgliedsstaaten, die Globalisierung zu gestalten und besonders durch Handelsabkommen diejenigen Regeln und Mindeststandards durchzusetzen, die für den europäischen Markt existenziell sind. Dieser soll vor Dumpingprodukten und vor dem Ausverkauf strategisch wichtiger Unternehmen geschützt werden.

Auch innerhalb der EU sollten nach Macrons Vorstellungen mittelfristig Angleichungen in der Steuer- und Sozialpolitik stattfinden. Diese Forderung hat die SPD schon Ende der neunziger Jahre erhoben, als die Sozialdemokratie in Europa stark war. Große Fortschritte hat es diesbezüglich jedoch nicht gegeben. Nun könnte der Krisenzustand der EU und das Risiko eines Auseinanderfallens des Euro oder gar der gesamten Union den notwendigen Druck aufbauen, um in absehbarer Zukunft alle Mitgliedsstaaten hinter einer solchen Agenda zu vereinen. Zu wünschen wäre es.

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