Der dritte post-sowjetische Moment der Ukraine
Vielen Deutschen bleibt die Ukraine ein Rätsel – ebenso wie die Proteste seit November 2013, als die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der EU kurzfristig platzte. Handelt es sich beim Sturz Viktor Janukowitschs um eine Revolution des Volkes oder um einen „faschistischen Putsch“ rechtsextremer Nationalisten, wie der Kreml behauptet? Und überhaupt: Ist die Ukraine nicht sowieso ein geteiltes Land und keine wirkliche politische Nation, ein im Lavieren zwischen Ost und West zum Scheitern verurteiltes Projekt? Nur wenn wir den „Maidan“, die ukrainische Protestbewegung der letzten Monate, aus der jüngeren Geschichte des Landes heraus erklären, lassen sich die daraus entstandenen Chancen für einen nachhaltigen Wandel der Region erkennen.
Abgehobene Eliten, schwacher Staat
Viele Kommentatoren vergessen die historische Tatsache, dass die Ukraine im Jahr 1991 aus einem zwar schwierigen, aber dennoch landesweiten „Elitenkompromiss“ (Andreas Wittkowsky) hervorging. Im Gegensatz zu anderen, ethnisch homogeneren Sowjetrepubliken war der Staatswerdung ein komplexer Aushandlungsprozess zwischen verschiedenen politischen Gruppen vorausgegangen. Neben der im Westen und Zentrum des Landes bedeutenden ukrainischen Nationalbewegung „Ruch“ waren es die Bergarbeiter im Osten, die sich aus Enttäuschung über die geänderten Förderprioritäten Moskaus für eine Loslösung von der Sowjetunion aussprachen. Ausschlaggebend für die Unabhängigkeit der Ukraine war aber die kommunistische Parteielite des Landes, die aufgrund ihrer politischen Orthodoxie und des Augustputsches in Moskau 1991 in der Loslösung die einzige Chance zum Machterhalt sah. Die Staatsgründung war somit kein demokratisches, sondern ein pragmatisches und von Eliten gesteuertes Projekt, bei dem der Einbezug des Ostens vor allem ökonomische Gründe hatte. Von einer „politischen Nation“ konnte damals keine Rede sein, trotz überwältigender Zustimmung im Unabhängigkeitsreferendum. Dennoch war die Staatsgründung ein erster post-sowjetischer Moment für die Ukraine – ein Bruch mit der von Moskau dominierten Vergangenheit, der Raum für ein neues politisches Projekt entstehen ließ.
Im Jahrzehnt nach der Unabhängigkeit entwickelte sich das Land jenseits internationaler Aufmerksamkeit zu einem Sonderfall der post-sowjetischen Staatenwelt. Durch kriminelle Privatisierungen entstand zwar auch in der Ukraine eine extrem reiche, oligarchische Elite, die einer von den Umbrüchen überforderten, politisch apathischen und ökonomisch mittellosen Gesellschaft gegenüberstand. Im Unterschied zu anderen post-sowjetischen Staaten gelang es dieser Elite allerdings nie, ihren Machtanspruch in einem starken Zentralstaat, in einer „Machtvertikale“ wie in Moskau zu bündeln. So war der langjährige Präsident Leonid Kutschma eher ein Vermittler zwischen regionalen Eliten oder „Clans“, die Kiew vor sich hertrieben und den Staat ökonomisch ausbluten ließen. Die Schwäche des ukrainischen Staates, der im Leben vieler Ukrainer kaum präsent war, ermöglichte aber zum Ende der neunziger Jahre eine im regionalen Vergleich relativ „freie“ Betätigung für Journalisten und zivilgesellschaftliche Initiativen.
Woran das orange Projekt scheiterte
Diese Lücken der Freiheit hielten die Eliten in ihrem uneingeschränkten Bereicherungsdrang jedoch nicht davon ab, im Zweifel repressiv gegen Gegner vorzugehen. Erst als im Jahr 2001 bekannt wurde, dass Präsident Kutschma in die Ermordung des regimekritischen Journalisten Georgij Gongadze involviert war, entwickelte die Politik in der Ukraine eine bis dahin nicht gekannte Dynamik. So entstand aus dem alten Regime und ihrer Elite heraus eine Art politische Alternative, mit Viktor Juschtschenko und Julia Timoschenko an der Spitze, während die ukrainische Gesellschaft innerhalb nur weniger Jahre ihre zuvor völlig fehlende Mobilisierungsfähigkeit überwand.
Was die Menschen seit 2002 und dann in Massen während der „Orangen Revolution“ im Spätherbst 2004 auf die Straßen trieb, war die entstandene Kluft zwischen Eliten und dem Rest der Gesellschaft. Die Bewegung wurde angetrieben von dem Ruf nach einem Ende der Korruption, einer Entmachtung der Oligarchen und einer gerechteren Gesellschaftsordnung. Dies mündete schließlich im Sieg Viktor Jutschtschenkos bei den wiederholten Präsidentschaftswahlen Ende 2004 – aber auch in einem verhängnisvollen Pakt mit dem alten Regime. Obwohl die Orange Revolution ihren Namen aufgrund der offensichtlichen Elitenkontinuität eigentlich nicht verdient (schon 2006 wurde der Wahlfälscher Janukowitsch wieder Ministerpräsident), war sie dennoch der zweite post-sowjetische Moment der Ukraine. Schließlich gelang es nach der „Rosenrevolution“ in Georgien 2003 nun auch einer demokratischen Protestbewegung in Kiew, die Herrschaft der bis dato unantastbaren Elite zu durchbrechen. Allerdings wurde diese erste Protestbewegung in der Hauptsache von West- und Zentralukrainern getragen. Die mehrheitlich russischsprachige Ost- und Südukraine ließ sich 2004 nicht für die Ziele der „Orangen“ begeistern, lehnte aber auch Sezessionspläne klar ab.
Die Jahre nach der Orangen Revolution entwickelten sich für die Ukraine zum ersten echten demokratischen Projekt, das auch mit einer Parlamentarisierung des politischen Systems einherging. Aus zwei wesentlichen Gründen war das orange Projekt allerdings bereits im Jahr 2006 weitgehend gescheitert: Zum einen gelang es der neuen Führung nicht, die Kluft zwischen Eliten und Gesellschaft zu überwinden. Schon 2005 versprach der damalige Präsident Juschtschenko den Oligarchen aus machtpolitischen Gründen, deren Besitztümer nicht infrage zu stellen. Kurioserweise konnten die Oligarchen ihren Einfluss über das nun gestärkte Parlament sogar noch ausweiten. Gleichzeitig traten viele zivilgesellschaftliche Aktivisten in die Politik ein und schwächten damit die entstehende Bürgergesellschaft. Zum anderen wurde das Projekt durch die extremen Machtkämpfe unter den Eliten des demokratischen Lagers gravierend geschwächt, besonders durch die Auseinandersetzung zwischen Juschtschenko und Timoschenko. Das Vertrauen in die politischen Institutionen sank auf Rekordtiefen, während die Ukrainer wieder von einer politischen Apathie ergriffen wurden, die stark an die neunziger Jahre erinnerte.
Die Enttäuschung über das gescheiterte demokratische Experiment und die innere Abwendung vieler Ukrainer von der Politik begünstigten einen machtpolitischen Trend, der sich seit 2002 andeutete und durch die Orange Revolution nur unterbrochen wurde: der Aufstieg des so genannten Donezker Clans um die Oligarchen des Donbass zum dominierenden Elitennetzwerk. Dessen Einfluss manifestierte sich in der Übernahme zentralstaatlicher Institutionen und schließlich in der Präsidentschaft Viktor Janukowitschs 2010.
Janukowitsch verstand es, das politische Monopol seiner „Partei der Regionen“ innerhalb weniger Jahre von der Ost- und Südukraine auf fast das gesamte Land auszuweiten. Er machte die 2004 erfolgte Demokratisierung des politischen Systems rückgängig und brachte Parlament wie Justiz unter seine Kontrolle. Das neue Regime zeichnete sich durch eine bisher ungekannte politische Repression aus, wofür die politisch motivierten Verfahren gegen Julija Timoschenko und den früheren Innenminister Jurij Luzenko stellvertretend stehen. Die politische Klasse konnte sich so ungezügelt und direkt bereichern wie nie zuvor. Janukowitsch selbst machte seinen bis dahin als Geschäftsmann mäßig erfolgreichen Sohn in kurzer Zeit zu einem der reichsten Männer des Landes. Bis zum Jahr 2013 hatte sich die Ukraine zu einem der korruptesten Staaten der Welt entwickelt, in dem die Gier des regierenden Elitennetzwerks selbst erfolgreiche Kleinunternehmer zu einer „Übergabe“ ihres Geschäfts zwingen konnte.
Das Scheitern der EU-Assoziierung war nur Auslöser
Ohne diesen historischen Kontext sind die Ereignisse seit dem Spätherbst 2013 nicht zu verstehen. Drei wesentliche Mythen über den Maidan lassen sich dadurch entschleiern. Erstens: Wenn behauptet wird, die EU habe die Proteste und schließlich auch die Toten des Maidan mit zu verantworten, da sie die Ukraine mit dem Assoziierungsabkommen vor eine unmögliche Wahl zwischen Ost und West gestellt habe, ist dies schlicht zu kurz gedacht. Vor dem entscheidenden EU-Gipfel im litauischen Vilnius herrschte in der Ukraine längst keine EU-Euphorie mehr. Man war sich bewusst, dass das stark formalisierte Assoziierungsabkommen eher eine Chance als ein Versprechen auf langfristige politische und ökonomische Veränderungen darstellte. Allerdings überschritt Präsident Janukowitsch in den Augen weiter Bevölkerungsteile einen kritischen Punkt, als er sich gegen die Unterzeichnung des Abkommens entschied. Angesichts der selbst verschuldeten, katastrophalen ökonomischen Lage des Landes war das Regime bereit, für den eigenen Machterhalt den proeuropäischen Willen der Bevölkerung zu negieren und die im Abkommen enthaltene Perspektive zugunsten schneller russischer Finanzhilfen aufzugeben. Das Scheitern des Assoziierungsabkommens war nur der Auslöser für eine Protestbewegung, die zu Beginn zwar „Euromaidan“ genannt wurde, die sich aber in kürzester Zeit zum Ziel setzte, das korrupte Elitennetzwerk um den Präsidenten zu überwinden und die Ukraine nachhaltig zu verändern.
Ein zweiter Mythos, der nicht zuletzt durch die russische Staatspropaganda, aber auch durch russlandfreundliche Politiker und Medien im Westen lanciert wird, betrifft den angeblich anti-demokratischen und rechtsnationalistischen bis „faschistischen Charakter“ des Regimewechsels in Kiew, der in Wahrheit eher einen Putsch als eine Revolution darstelle. Dagegen spricht, dass rechtsextreme Kräfte in der Ukraine vor dem Maidan nie sonderlich großen Zulauf hatten. Die rechtsnationale Swoboda-Partei hatte ihren Einzug ins Parlament 2012 lediglich einer Protestwahl zu verdanken, bei der viele Ukrainer weder für Janukowitsch noch für die etablierte Opposition stimmen wollten – eine Folge der verbreiteten Desillusionierung gegenüber der gesamten politische Elite. Selbst während der Ereignisse auf dem Maidan sank die Popularität von Swoboda, die laut aktuellen Umfragen nicht mehr im Parlament vertreten wäre. Der „Pravij Sektor“, in dem sich Rechtsradikale und Neonazis wiederfinden, besitzt trotz seiner wichtigen Rolle während der gewalttätigen Phasen des „Maidan“ kein politisches Potenzial. Sein Einfluss auf die Übergangsregierung ist marginal und der Anführer Dmitrij Jarosch gilt in der Ukraine als eher zwielichtige Gestalt. Entscheidend aber ist, dass sich der Maidan nicht auf den Kiewer Unabhängigkeitsplatz und die dortigen Ereignisse reduzieren lässt, und schon gar nicht auf die martialisch gekleideten Kämpfer auf den Fotos der Weltpresse.
Vielmehr wurde die ukrainische Gesellschaft von einer erneuten Mobilisierungswelle erfasst, die sich signifikant von der Orangen Revolution unterscheidet. So zeigen die politische Organisation des Maidan selbst, der „Avtomaidan“, die Zusammensetzung der Übergangsregierung sowie die vielen landesweiten zivilen Initiativen und Bürgerwehren, dass man aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt hat und sich nicht auf einen simplen Austausch der politischen Eliten verlassen möchte.
Die Bewegung hat eine neue Stufe erreicht – und mit ihr ist der Wille zur gesellschaftlichen Selbstorganisation stärker geworden, zur Kontrolle der Macht und zur Übernahme ziviler Verantwortung, und sei es nur durch die Aufrechterhaltung der Ordnung rund um den eigenen Wohnblock. Dies lässt auf eine nachhaltige Umgestaltung des Verhältnisses zwischen Staat und Gesellschaft sowie ein neues bürgerschaftliches Bewusstsein in der Ukraine hoffen. Dementsprechend existiert eine andere Erwartungshaltung gegenüber der neuen Regierung als nach der Orangen Revolution. Während sich die Menschen in ihrer damaligen Euphorie vom Populismus Juschtschenkos und Timoschenkos verführen ließen, sind sie gegenüber den „Mächtigen“ nun eher fordernd und misstrauisch. Man will die Wahrheit hören und sympathisiert mit nüchternen Persönlichkeiten wie dem neuen Ministerpräsidenten Arsenij Jatsenjuk.
Aber erst die Entschleierung des dritten Mythos zeigt, dass es sich beim Maidan um eine wirkliche Revolution handelt – und damit um den dritten post-sowjetischen Moment der ukrainischen Geschichte. Im Westen hält sich hartnäckig die Vorstellung, das Land sei nachhaltig gespalten in einen pro-demokratischen und proeuropäischen Westen sowie einen vermeintlich autoritär gesinnten oder sogar pro-russischen Osten und Süden. Doch dies trifft nicht zu, denn es gab auch in den großen Städten der Ost- und Südukraine, wie in Charkiw, Dnipropetrowsk, Saporischschja oder Odessa, Demonstrationen gegen Janukowitschs Regime und nach dessen Sturz für die Einheit des Staates. Selbst die russische Propaganda hat in der dortigen russischsprachigen Bevölkerung bis heute keine anti-ukrainischen Reflexe ausgelöst. Anders als 2004 war der Maidan eine gesamtukrainische Bewegung. Zelte mit Bannern aus Donezk, Mariupol oder auch Lugansk standen hier neben denen aus Lwiw und Ternopil. Denn auch in diesen Landesteilen war die Enttäuschung über Präsident Janukowitsch und seine Partei der Regionen riesig. Außerdem haben sich seit 1991 in der Ost- und Südukraine neue Identitätsmuster entwickelt; man sieht sich dort trotz sprachlicher Unterschiede als Bürger der Ukraine.
Klare Konturen einer politischen Nation
Klar ist: Die jüngere ukrainische Geschichte und auch die Ereignisse rund um den Maidan sind keine Garantie für eine nachhaltige Demokratisierung der Ukraine. Das zweite demokratische Experiment nach der Orangen Revolution ist mit vielen Fallstricken verbunden. Neben der äußeren Bedrohung im Krimkonflikt und der kritischen wirtschaftlichen Lage bleibt das Grundproblem der Ukraine weiterhin ungelöst: der tiefe Graben zwischen der Gesellschaft und einer abgeschotteten politischen und ökonomischen Elite. Hier zeigt sich die wahre Spaltung des Landes.
Einige Signale geben Anlass zur Sorge, etwa die – machtpolitisch gewiss notwendige – Ermächtigung von Oligarchen in der Ostukraine oder das tiefe Misstrauen der Ukrainer gegenüber bisherigen Oppositionspolitikern. Dennoch hat die Ukraine mit dem Maidan als ihrem dritten post-sowjetischen Moment ein innerhalb der Region einzigartiges Niveau erreicht, was die Überwindung elitärer Regime und den Aufbau einer Bürgergesellschaft angeht. Hinzu kommt, dass bereits eine Generation nach der Staatsgründung nun klare Konturen einer politischen Nation erkennbar sind. Daraus folgt eine wichtige Botschaft für den Westen, vor allem aber für Deutschland, das in der arbeitsteiligen EU-Außenpolitik hauptsächlich für Osteuropa zuständig ist: Eine nachhaltige Stabilisierung der Region wird nicht über geopolitisches Taktieren gelingen können, sondern nur über eine gezielte Förderung und langfristige Begleitung der schwierigen Demokratisierungsprozesse vor Ort.