Der gelbe Pullunder passt nicht mehr

Deutschland ist heute eine unsichere Großmacht. Die deutsche Außenpolitik hängt an Grundsätzen aus der Zeit des Kalten Krieges, doch zugleich werden größere Ambitionen sichtbar. Die eigene Unsicherheit überspielt man einstweilen mit Mätzchen

Bonn ist nicht Weimar", stellte im Jahr 1965 Fritz René Allemann in einem Buch fest, dessen Titel zu einem geflügelten Wort werden sollte. Die Westdeutschen reagierten auf die Feststellung dankbar, weil sie der Bundesrepublik Stabilität und Widerstandsfähigkeit attestierte. "Bonn ist nicht Weimar" wurde zum Credo der jungen Bonner Republik, obwohl die Aussage nicht nur Lob enthielt, sondern zugleich ein Manko kenntlich machte. Die Bundesrepublik definierte sich aus der Negation. Man war stolz auf das, was man nicht war: nicht anfällig für Extremisten, weder wirtschaftlich schwächlich noch undemokratisch. Auch in der Außenpolitik wurde der defensive Grundzug sichtbar, man war damit beschäftigt, Zumutungen der Sowjetunion und Ideen der westlichen Alliierten abzuwehren.


Selbst die Ostpolitik unter Brandt und Scheel war in ihrem Grundimpuls kein eigenständiges Konzept, sondern die Reaktion auf die sich seit einem Jahrzehnt abzeichnenden geopolitischen Veränderungen. Bereits Ende der fünfziger Jahre hatte Großbritannien deutschlandpolitische Konzessionen an die Sowjetunion und die Anerkennung der DDR in Betracht gezogen. Die Supermächte begannen wenige Jahre später mit der Entspannungspolitik und arrangierten sich auf Kosten der für lange Zeit in zwei getrennten Staaten lebenden Deutschen. Bonn stand Mitte der sechziger Jahre unter dem Druck, diese Realitäten endlich anzuerkennen. Der Ost-West-Konflikt und die Anomalie eines geteilten Landes waren für die Bundesrepublik das Maß aller Dinge. Bonn hatte stets auf die Vorstellungen der vier Mächte und die Lage der Landsleute in der DDR Rücksicht zu nehmen.


Die Bonner Republik ist in der Außenpolitik Geschichte. Inzwischen gibt es keine alliierten Vorrechte mehr und nur noch wenige ausländische Truppen auf deutschem Boden. Die Wiedervereinigung kam schneller, als manchen in London, Paris oder Rom - von Moskau ganz zu schweigen - lieb war. Mit den "Folgen einer unerhörten Begebenheit" (Wolf Lepenies) geht die deutsche Außenpolitik auf zwiespältige Art um. Am raschesten zog man Konsequenzen überraschenderweise in der Militärpolitik. Im zweiten Golfkrieg stand man 1991 noch abseits, acht Jahre später gehörte die Bundeswehr zur Nato-Streitmacht gegen Serbien. Vielleicht ging es so schnell, weil wieder einmal Erwartungen der Bündnispartner einem defensiv agierenden Deutschland den Weg wiesen. Bezeichnenderweise rechtfertigt der Bundeskanzler die Einsätze auf dem Balkan hauptsächlich mit der Bündnissolidarität - als schicke die Regierung ihre Soldaten nicht aus innerer Überzeugung los, sondern nur, weil es ihr peinlich wäre, in der Nato als Drückeberger dazustehen.

Deutschland verteidigt die Nachkriegsära

In anderen Bereichen der Außenpolitik fällt der Ruck sehr viel schwerer, obwohl die Bundesrepublik wie kein anderer großer europäischer Staat von den neuen Verhältnissen profitiert. Dennoch halten ausgerechnet die Deutschen, für die die Nachkriegsordnung Teilung und Fremdbestimmung bedeutete, hartnäckig an ihr fest. Deutschland verteidigt die alte Ordnung, obwohl diese als Abbild der Nachkriegsära die deutschen Einflussmöglichkeiten beschränkt. So findet absurderweise die Beteiligung der Bundeswehr an einem internationalen Militäreinsatz dann die größte Zustimmung, wenn ein Uno-Mandat vorliegt, obwohl Berlin nicht zu den ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrats zählt und folglich die Einsatzbedingungen der deutschen Soldaten nicht im gleichen Maß kontrollieren kann wie bei einer reinen Nato-Mission. Organisationen wie die Uno, die OSZE und der Europarat haben im letzten Jahrzehnt an Bedeutung verloren, auch die einstige Supermacht Russland samt ihren Atomwaffen. Umgekehrt hat sich die EU, in der Deutschland gleichberechtigt ist und nicht wie in der Uno auf einen minderen Status verwiesen, als außenpolitischer Akteur etabliert.


Welche Rolle gedenkt Deutschland in der neuen Weltordnung zu spielen, die nicht länger bipolar ist, sondern ihr Gleichgewicht nur durch das Ausbalancieren verschiedenster Faktoren finden kann? Joschka Fischer hat als Antwort auf diese Frage das Gorilla-Theorem formuliert. Danach ist Deutschland ein grosser schwarzer Gorilla, der seiner Umgebung auch dann Angst macht, wenn er friedlich in der Ecke sitzt und Bananen vertilgt. Am besten ist es daher, wenn Deutschland still sitzt und sich nicht rührt. Diese Sichtweise ist jedoch nicht mehr zeitgemäß.

Die größte Macht zwischen Atlantik und Bug

Zwar hatte die Bundesrepublik nach dem Fall der Berliner Mauer mit Befürchtungen hinsichtlich eines neuen deutschen Vormachtstrebens zu kämpfen, die sich selbst in traditionell deutschfreundlichen Ländern springflutartig verbreiteten. Indem Kohl die D-Mark als Opfer auf dem Altar der europäischen Einigung brachte, machte er unmissverständlich klar, dass sich auch die souveräne Bundesrepublik in den Kontext der europäischen Integration einordnen würde. Zugunsten der Deutschen wirkt sich auch aus, dass am 9. November 1989 der Zweite Weltkrieg definitiv zu Ende gegangen ist. Seither betrachtet das Ausland die Bundesrepublik immer weniger im Licht der nationalsozialistischen Vergangenheit, was sich etwa an der veränderten Berichterstattung über fremdenfeindliche Übergriffe ablesen lässt. Kam unmittelbar nach der Wende kaum ein französischer Artikel zu den Ausschreitungen in Ostdeutschland ohne historische Stereotypen aus, wurde über die Vorfälle des letzten Jahres überwiegend sachlichnüchtern berichtet. Auch die Furcht vor deutschen Hegemoniegelüsten ist merklich zurückgegangen. "Am deutschen Wesen soll die Welt genesen" - kaum jemand glaubt, Berlin wolle sich diesen präpotenten Satz noch einmal zum Leitspruch wählen. Allerdings geht man in den europäischen Hauptstädten ganz selbstverständlich davon aus, dass Deutschland nun politisch und wirtschaftlich die bedeutendste Macht zwischen Atlantik und Bug ist. In den kleineren Nachbarländern wird dieses Faktum leidenschaftlos zur Kenntnis genommen. Paris fällt es naturgemäß schwerer, den eigenen Bedeutungsverlust zu akzeptieren.


Berlin kann an dieser Deutschlandperzeption nichts ändern, selbst dann nicht, wenn es dem Gorilla-Theorem gemäß möglichst unauffällig in der Ecke sitzt. Auch ein Riese, der sich klein macht, bleibt ein Riese. Er wirkt unglaubwürdig, wenn er behauptet, er sei ein Zwerg und setzt sich damit nur dem Verdacht aus, er wolle sein Gegenüber in die Irre führen. Deutsche Außenpolitik wird dann als transparent und berechenbar wahrgenommen, wenn sie ihre Ziele klar benennt und bei deren Verwirklichung einen nachvollziehbaren Zickzackkurs steuert.

Neue Rhetorik, alte Praxis

Die rot-grüne Koalition verzichtete in den letzten drei Jahren weitgehend darauf, eigene Akzente zu setzen. Frühere Kernforderungen wie die markante Erhöhung der Entwicklungshilfe wurden nicht in die Tat umgesetzt. Man praktiziert ein wenig Interventionismus wie im Fall der Sanktionen gegen Österreich. Die Uno-Justiz auf dem Balkan findet ungeteilten Beifall; man empfindet es nicht als anstößig, dass zwar der serbische Hauptschuldige des Massakers von Srebrenica wegen Völkermordes verurteilt wird, der Kommandant der niederländischen Blauhelmsoldaten in der "Schutzzone" und die Verantworlichen der Uno-Mission in Bosnien aber ungeschoren davonkommen, obwohl sie durch ihre Untätigkeit Beihilfe zum Völkermord leisteten. Politische, militärische und juristische Interventionen werden nun von Personen gutgeheißen, die einst vor der Einmischung in die inneren Angelegenheiten der sozialistischen Staaten warnten und sich nicht mit ostdeutschen oder polnischen Dissidenten an einen Tisch setzen wollten. Kurzatmige Moden und Symbolpolitik haben Konjunktur - kurzum, Deutschland verhält sich wie die meisten seiner Partner. Im übrigen lautet Kontinuität das Zauberwort, das nach dem Machtwechsel 1998 Charme besaß, weil es manch aufgeregtes Gemüt besänftigte. Deutschland macht sich weiter klein und meidet in den meisten Fällen eine eigenständige Politik. Im Auswärtigen Amt hört man, eigentlich gebe es gar keine deutsche Außenpolitik mehr, sondern nur eine europäische. Zum Erbe der Nachkriegsepoche gehören zwei Vokabeln: Multilateralismus und Sachzwang. Hinter diesen Begriffen verschanzte sich die Bonner Außenpolitik, um ihr fehlendes Profil zu rechtfertigen. Damals war die Selbstbescheidung weise, denn die Viermächte schätzen Sondertouren der Bundesrepublik nicht. Der Hang zum Versteckspiel ist der deutschen Diplomatie bis heute geblieben.


Zwar hat sich die Rhetorik stellenweise geändert, nicht aber die Praxis. Gerhard Schröder erklärte kürzlich, die Einheit sei im Ausland als Zuwachs an Kraft und politischer Bedeutung Deutschlands begriffen worden. Deutscherseits sind die Ambitionen gewachsen, doch scheut man - noch? - deren Konsequenzen. Das Kanzleramt wünscht eine aktive deutsche Balkanpolitik, aber die Bundesregierung verstrickte sich in einen Eiertanz um die Entsendung eines deutschen Truppenkontingents nach Mazedonien. Gar keine Bundeswehrsoldaten, zwei Kompanien für 30 Tage, ein "robustes" Mandat mit großem Truppenaufgebot über einen längeren Zeitraum: jede dieser Positionen erschien für einige Tage als offizielle deutsche Position.

Was verstehen die Deutschen vom Ausland?

Die deutsche Außenpolitik wirkt konturenlos. Um dies zu ändern, müsste die Bundesrepublik ihre Rolle als europäische Großmacht akzeptieren und ihre Außenpolitik als eine gut angelegte Investition begreifen, die über Deutschlands Einfluss in der Welt bestimmt. Entscheidend ist dabei nicht nur, wie Deutschland im Ausland auftritt, sondern auch, welches Bild man sich vom Ausland macht. Ein im wesentlichen auf die Vereinigten Staaten und Russland sowie die EU beschränkter Gesichtskreis ist zu klein. Es bedeutet nicht die Wiederbelebung einer imperialistischen Geopolitik, wenn man zur Kenntnis nimmt, dass die Ereignisse im Kaukasus, in Zentralasien oder im Irak Auswirkungen auf die deutsche Sicherheit haben und daher ein ernsthaftes Engagement in der Region erfordern.

Die Furchtsamkeit, das alte Übel

Zu einer erfolgreichen Vermittlungspolitik gehört allerdings mehr, als einige Male zwischen Gaza und Jerusalem hin und her zu fahren. Die Palästinenser fanden sich 1992 nach langem Zögern zu Geheimgesprächen mit Israel in Oslo unter anderem deshalb bereit, weil der Golfkrieg den Arabern vor Augen geführt hatte, dass Israels Hauptverbündeter Amerika die unbestrittene Führungsmacht in der Region war. Das Schicksal Saddam Husseins zeigte in den folgenden Jahren aber auch, dass man den Vereinigten Staaten die Stirn bieten kann, vor allem wenn Washington wie in der Ära Clinton keine konsequente außenpolitische Linie verfolgt. Arafat schlug das weitgehende Angebot seines israelischen Gegenübers Barak in Camp David eben auch deshalb aus, weil das Prestige des Maklers USA in der Region gesunken ist. Außenminister Fischer wiederum hielt es für das Klügste, bei einem Besuch in Washington zu erklären, er habe die amerikanischen Luftangriffe auf irakische Stellungen nicht zu kritisieren - statt einmal klar zu sagen, ob er die amerikanische Politik unterstützt (die überdies den Kurden im Nordirak eine gewisse Selbständigkeit ermöglicht) oder ob er Alternativen zur Eindämmung des Diktators sieht. Statt dessen ein vielsagendes Schweigen. "Unsere auswärtige Politik ist übel, denn sie ist furchtsam", notierte im Dezember 1854 der preussische Gesandte beim Deutschen Bund, Otto von Bismarck.


Das transatlantische Verhältnis benötigt nicht einen weiteren Aufguss der unendlichen Debatte um europäischen Antiamerikanismus und amerikanischen Unilateralismus (auch dies ein Pawlowscher Reflex aus Zeiten, als die Vereinigten Staaten noch Besatzungsmacht waren), sondern ein neues burden sharing: Deutschland sollte sich dauerhaft in Regionen wie dem Nahen Osten engagieren, und zwar auch dann, wenn es unbequem ist und man nicht ungeteilten Beifall einheimsen kann. In einer sinnvollen Regionalpolitik sind sehr verschiedene Elemente verzahnt: die Vermittlung im Palästinakonflikt mit der Eindämmung des Irak und einer Handelspolitik gegenüber dem Iran, in der man nicht wegen des kurzfristigen wirtschaftlichen Vorteils die Augen vor der noch immer aggressiven Außenpolitik des Landes verschliessen sollte. Die deutsche und europäische Nahostpolitik beschränkt sich noch aufs Rosinenpicken. Medienwirksame Shuttle-Diplomatie ist beliebt, nicht aber ein offenes Wort.

Nur der unbeliebte Vermittler hat Erfolg

So droht die EU nicht mit ihrem einzigen ernst zu nehmenden Druckmittel: dem Einfrieren der Gelder für Arafats byzantinischen Hofstaat, die Palästinensische Autonomiebehörde. Die EU praktiziert eine bequeme Politik der Äquidistanz zu den beiden Konfliktparteien, obwohl Israel trotz seiner Mängel ein demokratischer Rechtsstaat und damit ein einigermaßen berechenbarer Partner ist - im Gegensatz zu allen arabischen Regimen. Die allseitige Beliebtheit Fischers bei Israeli wie Palästinensern ist ein Indiz für das fehlende Eigengewicht deutscher Außenpolitik. Erfolgreich waren in der Region vor allem die Vermittler, die sich unbeliebt machten wie US-Aussenminister Baker, der ungeachtet seiner pro-israelischen Grundhaltung mal den einen, mal den anderen levantinischen Gesprächspartner hart anpackte. Die unangenehmen Jobs im Irak oder Iran überlassen die meisten Europäer ohnehin lieber Washington.


Die Europäer mokieren sich seit jeher gern - vor allem wenn ein neuer Präsident ins Cowboy-Klischee zu passen scheint - über amerikanischen Unilateralismus. Erstaunlich sind aber nicht die amerikanischen Alleingänge, sondern der Umstand, dass die Vereinigten Staaten überhaupt auf ihre europäischen Verbündeten hören. Die Ausbildung eines geopolitischen Verantwortungsgefühls braucht allerdings Zeit. Kosovo und Mazedonien sind Indizien dafür, dass die EU-Mitglieder zunächst im engeren europäischen Rahmen in diese Aufgabe hineinwachsen und eine Regionalpolitik betreiben, in denen militärische und diplomatische Mittel sowie finanzielle Hilfen aufeinander abgestimmt sind. Dies geht nur langsam, wie man in Mazedonien sieht, wo sich die Westeuropäer wieder einmal scheuen, Verantwortung zu übernehmen.


Nahost, Balkan - und die nächste Nagelprobe kündigt sich schon an: das Baltikum. Warum eigentlich kann Deutschland als eine Macht mit besonderen Prestige in Osteuropa nicht die Diskussion anführen, ob die baltischen Staaten in die Nato aufgenommen werden sollen? Gegenwärtig hat es allerdings den Anschein, als versteckten sich Regierung wie Opposition in Berlin angesichts des sich abzeichnenden Konflikts mit Moskau wieder einmal lieber hinter dem breiten Rücken von Uncle Sam.

Es geht nicht immer nur um die Moral

Engagement ist teuer. Glaubwürdige Außen- und Sicherheitspolitik erfordert Investitionen in die Streitkräfte ebenso wie in die auswärtige Kulturpolitik oder den Auslandgeheimdienst. Deutschland gehört hier zu den Schlusslichtern. Auf der europäischen Ebene droht sich der Glaubwürdigkeitsverlust fortzusetzen, da sich die Einsatzbereitschaft der EU-Eingreiftruppe erheblich zu verzögern scheint. Dieser Vorwurf trifft Deutschland nicht allein, aber doch in besonderer Weise, weil die Bundesrepublik in verteidigungspolitischen Fragen als unsicherer Kantonist gilt - zu Recht, wie das Gezerre um den Mazedonien-Einsatz zeigt.


Ehrlichkeit währt auch in der Außenpolitik am längsten. Das Duo Fischer & Scharping überbot sich während des Kosovokrieges mit Beschwörungen der Greuel von Auschwitz zur Rechtfertigung des Militäreinsatzes. Viel war die Rede von Moral, wenig von Macht. Und doch ging es den EU-Staaten nicht nur um Menschenrechte, sondern um Einfluss. Würde sich die deutsche Öffentlichkeit eingestehen, dass es in der Außenpolitik nicht nur um hehre Motive wie die Rettung des Weltfriedens geht, sondern auch um legitime machtpolitische Interessen, ließe sich leichter über den Sinn eines Einsatzes diskutieren.

Die Waffenindustrie kann mit Rotgrün leben

Dann könnte man auch zugeben, dass sich die Bundeswehr nicht nur am Mazedonien-Einsatz beteiligt, weil dies das Land auf dem Balkan dem Frieden näherbringt, sondern auch deshalb, weil ein Abseitsstehen das Ansehen Deutschland und seiner Sicherheitspolitik in den Augen der europäischen Partner noch weiter sinken ließe. Zur außenpolitischen Ehrlichkeit würde es auch gehören, den durch das Verfassungsgericht konstruierten Parlamentsvorbehalt bei internationalen Militäreinsätzen abzuschaffen, weil er die Außenpolitik zum Vehikel innenpolitischer Winkelzüge macht.


Die Frage der Glaubwürdigkeit trifft SPD und Grüne, weil diese Parteien die Einhaltung der Menschenrechte und andere moralische Fragen ganz explizit zum Maßstab ihrer Außenpolitik gemacht haben. Gäbe man zu, welche Rolle machtpolitische Überlegungen spielen, wäre nicht nur das Schweigen zu den russischen Greueltaten in Tschetschenien weniger blamabel, man könnte dann auch unverkrampfter über Rüstungsexporte diskutieren. Wer wie die Bundesrepublik eine nennenswerte Rüstungsbranche will, muss dieser auch die Gelegenheit zum Geldverdienen geben. Selbst grüne Außenpolitiker geben das zu, allerdings nur hinter vorgehaltener Hand, während - ebenfalls hinter vorgehaltener Hand - deutsche Waffenunternehmen behaupten, dass die amtierende Regierung grosszügiger Exportgenehmigungen erteilt als die alte.


Deutschland erscheint heute als unsichere Grossmacht. Es hängt einerseits an Grundsätzen aus einer Zeit, als Außenpolitik im gelben Pullunder und mit nichtssagenden Communiqués betrieben wurde. Andererseits werden immer wieder die größeren Ambitionen sichtbar. Man sei erwachsen geworden, heißt es oft. Der neuralgische Punkt ist das eigene Verhältnis zum Nationalstaat. Weil man nach Hitler und Wilhelm II. nicht unverkrampft über den Nationalstaat zu diskutieren vermag, löst ein Begriff wie "deutsche Leitkultur" Kontroversen aus. Der "Lange Weg nach Westen" (Heinrich August Winkler) war für die Deutschen nach 1945 eine zivilisatorische Herausforderung. Sie haben diese so erfolgreich absolviert, dass es der Bundesrepublik inzwischen manchmal schwerfällt zu bestimmen, was deutsch ist und worin eine deutsche Außenpolitik (etwa im Konfliktfall mit EU-Partnern) besteht.

Halbstarkes Gehabe, fruchtlose Zankerei

Derzeit experimentieren die Deutschen, wie national sie sein wollen. Das bevorzugte außenpolitische Testlabor hierfür ist die Europäische Union. Einerseits hat die Bundesrepublik Deutschland in der Vergangenheit eine erfolgreiche nationale Interessenpolitik betrieben, die ihr Gewicht als Wirtschaftsmacht und Zahlmeister einsetzt. Zugleich fühlt man sich in jüngster Zeit nicht ausreichend anerkannt, weshalb man sich in einen fruchtlosen Streit um Symbole und Prestigefragen verstrickt: um Deutsch als Konferenzsprache, um ein paar Stimmen mehr im Rat und einige Führungsposten in Brüssel. Solche Mätzchen waren bisher das Privileg der Franzosen, die seit 50 Jahren erfolglos den Caffard der Nachkriegsära bekämpfen, in der kein Platz mehr für einen Napoleon ist.
Der Kanzler und sein Außenminister hielten es ferner für geraten, die in diesen Fragen hysterische französische Öffentlichkeit mit europapolitischen "Visionen" zu provozieren, die den falschen Eindruck erwecken, als beanspruche Deutschland die alleinige Führungsrolle. Dies ist das Gehabe halbstarker Außenpolitiker, die vor allem auf die Innenpolitik schielen.

Berlins Signale sind widersprüchlich

Es gibt derzeit keinen sachlichen Grund, die Debatte um die europäische Finalität zu forcieren. Erst müssen die durch "1989" ausgelösten epochalen Veränderungen - der Übergang zur EU und die Einführung des Euro - verdaut werden. Der Beitritt von zunächst drei oder vier mitteleuropäischen Staaten und die deswegen notwendigen organisatorischen Anpassungen erzwingen die Hektik jedenfalls nicht. Schon de Gaulle prophezeite, die Erweiterung der europäischen Gemeinschaft von fünf auf sechs Mitglieder werde den Zusammenschluss handlungsunfähig machen. Als Großbritannien schließlich beitrat, geschah nichts dergleichen.


Es läge im deutschen Interesse, den Prozess der Einführung des Euro und der Osterweiterung nicht durch Reizworte zu belasten. Man tut es dennoch, weil sich die deutsche Außenpolitik ihrer selbst nicht sicher ist. In den EU-Nachbarländern wurden Schröders und Fischers Vorschläge so verstanden, als wolle Berlin zusätzliche Kompetenzen von der nationalen auf die Gemeinschaftsebene verlagern. Zugleich lässt sich namentlich aus dem SPD-Leitantrag auch das Gegenteil herauslesen. Denn die halbwegs konkreten Forderungen zielen auf die Stärkung der nationalen Ebene: auf die Renationalisierung von Agrar- und Strukturpolitik und die Verteidigung nationaler Schutzzonen gegen das Brüsseler Wettbewerbsrecht in den Bereichen der sogenannten Daseinsvorsorge. Berlin sendet widersprüchliche Signale aus, schwankend zwischen Zurückhaltung und gelegentlichem forschem Auftreten.

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