Der Musterschüler ist normal geworden
Sechs Jahre später redet niemand mehr von Blauen Briefen. Die von Bundeskanzler Schröder ins Werk gesetzten Reformen haben nicht nur Korrekturen am überbordenden Sozialstaat vorgenommen. Wichtiger als die – für sich genommen – moderaten Schritte der Agenda 2010 war ein Mentalitätswechsel, der zwar nicht lange anhielt, aber doch markante Spuren hinterließ. Selbst die Gewerkschaften vermochten der Mischung aus politischem Druck und wirtschaftlichen Fakten nicht zu widerstehen. Während sie die Agenda auf offener Bühne bekämpften, machten sie hinter verschlossenen Türen Konzessionen. Der verkrustete Arbeitsmarkt wurde flexibler, die Löhne stiegen weniger als im EU-Durchschnitt, die Stellung auf den Weltmärkten konnte gefestigt werden. Jenseits des Ökonomischen erfuhren die vernachlässigten Schulen und Universitäten neue Aufmerksamkeit. Deutschland, der lahme Mann Europas, ist wettbewerbsfähiger denn je.
Die Bundesrepublik ist nach wie vor dynamisch – trotz Bauchnabelschau und einem tief sitzenden Hang zum Pessimismus. Zu den Stärken des Landes gehören auch das stabile Regierungssystem – sieben Kanzler in sechzig Jahren –, die ausgeprägte Konsensorientierung in der Politik wie zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, schließlich die föderale Ordnung. Diese Elemente gelten inzwischen als suspekt, weil sie angeblich Entscheidungen blockieren. Tatsächlich aber passierten als wichtig erachtete Vorhaben wie die Agenda 2010 zügig den komplizierten Gesetzgebungsprozess. Die Deutschen mit ihrer Vorliebe fürs Grundsätzliche hadern zwar periodisch mit ihrem Regierungssystem und haben dieses jüngst in der so genannten Föderalismusreform punktuell verändert. Aber der in unzähligen Talkshows geschürte Eindruck, die politische Ordnung in Deutschland sei immobil und unfähig, Probleme zu lösen, ist falsch.
Im Mittelpunkt stehen Wohltaten
Stagnation ist kein Produkt der Verfassung, sondern der politischen Konstellation und der handelnden Personen: etwa, als die SPD unter ihrem Vorsitzenden Lafontaine Mitte der neunziger Jahre die ersten zaghaften Reformversuche der Regierung Kohl torpedierte. Politik ist paradox. In der rot-grünen Ära arbeiteten SPD und CDU/CSU in Reformfragen gut zusammen. Heute, da die Volksparteien in einer Großen Koalition verbunden sind, herrscht oft Stillstand. Das Duo Angela Merkel und Kurt Beck zeigt sich nicht willens, die unerledigten Themen der Reformagenda abzuarbeiten. Es ist nicht nur der nahende Bundestagswahlkampf 2009, der Sozialdemokraten wie Unionsparteien soziale Wohltaten in den Mittelpunkt rücken lässt. Es ist der fundamentale Mangel an politischer Führung in beiden Lagern.
„Wettbewerb“ hat einen negativen Klang
In fast allen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen bleibt das „Soziale“ eine Schlüsselkategorie, die weit über Verteilungsfragen und Tagespolitik hinausreicht. Soziale Gerechtigkeit, der Ausgleich zwischen „Oben“ und „Unten“, ist für die Bundesrepublik identitätsstiftend. Nach zwei Weltkriegen und zwei Hyperinflationen, in denen der Großteil des Volkes alles verlor, ist das Bedürfnis nach Sicherheit evident. Das eigentliche Wunder des „Wirtschaftswunders“ der fünfziger Jahre bestand nicht in den hohen Zuwachsraten des Sozialprodukts, sondern in dem Umstand, dass sich die Westdeutschen überhaupt auf Erhards liberale Therapie eingelassen hatten. Regulierung und staatliche Kontrolle entsprachen eher dem kollektiven Erfahrungshorizont.
Die starke Position des Staates, verbunden mit dem Wunsch nach Nivellierung gesellschaftlicher Unterschiede, bleibt ein Erbe der jüngeren Vergangenheit. Die nationalsozialistische Ideologie der Volksgemeinschaft fand ihre Fortsetzung in der spezifisch westdeutschen Ausprägung der sozialen Marktwirtschaft. Die Deutschen seien ein egalitäres Volk, mehr noch als die Schweizer, findet der Chef der Deutschen Bank Josef Ackermann, der während des Mannesmann-Prozesses genügend Gelegenheit hatte, das Ressentiment seiner neuen Heimat gegen Unternehmergeist und Eliten zu studieren. Das Wort Wettbewerb hat einen negativen Klang, denn dabei könnte einer der Verlierer sein. Selbst Politiker der FDP lehnen Steuerwettbewerb zwischen Bundesländern als ungerecht ab. Die Einkommensunterschiede zwischen Akademikern und Nichtakademikern sind geringer als in anderen europäischen Ländern. Die sozialen Transferleistungen, das Steuersystem, selbst das Gesundheitswesen fungieren als effiziente Instrumente der Umverteilung.
Seit ihren Gründungstagen hat die Konkurrenz von Freiheit und Sicherheit, von Eigenverantwortung und fürsorglicher staatlicher Bevormundung die Bundesrepublik in besonderer Weise bestimmt. Doch letztlich blieb die Balance zwischen sozialem Frieden und unternehmerischem Spielraum gewahrt. Pfadabhängigkeit nennen Politologen dieses Phänomen langfristiger politischer Kontinuität. Oder simpler: Niemand kann aus seiner Haut. Liberale Plädoyers für die ganz große Reform werden daher auch in Zukunft ungehört verhallen. Die Wähler machten zuletzt im Jahr 2005 klar, dass sie die deutsche Mischung gewahrt sehen möchten. Umgekehrt wird auch der gegenwärtige Erfolg der Linkspartei unter dem Renegaten Oskar Lafontaine an diesem Gleichgewicht nichts Wesentliches ändern, auch wenn die Eingliederung der im Sozialismus aufgewachsenen Ostdeutschen die Waagschale merklich in eine Richtung gesenkt hat.
Die Explosionskraft der Geschichte lässt nach
Die Vergangenheit ist in Deutschland präsent, doch nicht mit Glorienschein und Kriegerdenkmälern wie in London und Paris, sondern mit Bismarcks Sozialstaat – und Auschwitz. Dass es nach der Barbarei der Konzentrationslager keine Normalität geben könne, galt in der Bundesrepublik lange als ausgemachte Tatsache. Doch die Explosivkraft der Geschichte lässt nach. Nicht im Sinn eines Schlussstrichs. Im Gegenteil, nie waren die deutschen Verbrechen der Nazizeit in den Medien präsenter als heute. Das Bekenntnis zur Vergangenheitsbewältigung bleibt bundesdeutsche Staatsräson. Aber die geschichtspolitischen Debatten haben im Vergleich zum Historikerstreit der achtziger Jahre oder zur Kontroverse um die Rolle der Wehrmacht ein Jahrzehnt später an Heftigkeit verloren.
Bestes Beispiel hierfür ist die CDU, deren konservative Elemente im Historikerstreit noch NS-Untaten gegen sowjetische Verbrechen aufrechneten. Inzwischen reagiert man routiniert auf die einstigen Reizthemen. Als sich der CDU-Bundestagsabgeordnete Martin Hohmann zu antisemitischen Äußerungen verstieg, wurde er innerhalb von Tagen aus der Fraktion geworfen. Nachdem der baden-württembergische Ministerpräsident Günther Oettinger die Rolle seines Vorgängers Hans Filbinger im Dritten Reich beschönigt hatte, schickte ihn die Parteichefin Merkel kurzerhand auf Canossagang zum Zentralrat der Juden.
Die Republik lebt in der Gegenwart
Ähnliches gilt auch für die DDR-Vergangenheit. Die in den Jahren nach der Wiedervereinigung allgegenwärtigen Diskussionen über die „Mauer in den Köpfen“, über die tiefen Gräben zwischen Ost und West sind verebbt. Die Zahl der Langzeitarbeitslosen ist zwar im Osten nach wie vor hoch. Und die Mentalitäten unterscheiden sich weiterhin, zumal in politischen Fragen. Doch man hat gelernt, damit umzugehen. Damit einher geht allerdings auch, dass der SED-Staat idealisiert wird. Krieg und Nachkriegszeit, die Jahre der Teilung und die mit dieser Vergangenheit verbundenen Tabus verblassen oder werden trivialisiert. Ob Bombennächte, Vertreibung oder Mauerbau – die tragischen Momente deutscher Geschichte enden als Schnulzen im Fernsehprogramm. Debattierte das Publikum vor zehn Jahren Geschichtspolitik noch engagiert, lebt die Bundesrepublik heute mehr denn je in der Gegenwart.
Deutschland ist ein normales Land geworden. Die Wiedervereinigung bildet eine tiefere Zäsur, als dies gerade die Westdeutschen wahrhaben wollten. Die widernatürliche Situation eines geteilten Landes an der Nahtstelle des Kalten Krieges und unter Kuratel der Siegermächte brachte eine besondere Verantwortung mit sich und einen besonderen Geisteszustand. Von Deutschland hing buchstäblich der Weltfrieden ab. Die Welt hielt den Atem an, als russische und amerikanische Panzer am Checkpoint Charlie ihre Rohre aufeinander richteten. Inzwischen ist die Bundesrepublik unwichtiger geworden, und gerade dies eröffnet neue Spielräume.
Die Deutschen realisieren die Veränderungen mit Verzögerung. Die neunziger Jahre waren das Jahrzehnt der nationalen Selbstfindung. Der Begriff „deutsche Leitkultur“ vermochte Empörung auszulösen, weil er als Ausfluss nationalistischer Gesinnung galt. Inzwischen ist man sich seiner Identität sicherer. Das Fremde in Gestalt des sprachlich zum „Migranten“ mutierten Gastarbeiters wird eher als Teil der eigenen Kultur akzeptiert. Aber zugleich ist man selbstbewusst genug, die Anpassung an einen verpflichtenden Kanon von Werten und Regeln zu verlangen. Während der Fußball-WM im Jahr 2006 nahmen die Deutschen verwundert zur Kenntnis, dass sie wie andere auch Fähnchen in den Landesfarben an ihre Autos montieren können. In den Feuilletons wurde erörtert, ob dies ein Zeichen eines unverkrampften Patriotismus oder Großmannssucht sei. Das offizielle Motto des Fußballfests lautete beschwörend „Zu Gast bei Freunden“ – als könnten jederzeit Neonazi-Horden auf ausländische Besucher einschlagen. Die Deutschen trauen sich selbst am allerwenigsten. Aber auch die reflexhafte Selbstbeobachtung reduziert sich allmählich auf ein verträgliches Normalmaß.
Neuer Pragmatismus und Interessenpolitik
Zugleich lässt das Strebersyndrom nach. Die junge Bundesrepublik gewann Reputation, indem sie sich auf allen Gebieten als Musterschüler präsentierte: die härteste Währung, die friedlichste Außenpolitik, die bequemsten Autobahnen. Bisweilen schlug der Wunsch, sich nach den NS-Greueln als geläutert darzustellen, in die Arroganz des Büßers um. Niemand konnte die Alliierten insistierender auf ihre Fehler in Vietnam oder im Irak hinweisen als das bundesdeutsche Justemilieu. Seit die Bundeswehr in Afghanistan stationiert ist und im Norden mit den Widersprüchen der Terrorismusbekämpfung fertig werden muss, schwindet die Neigung zu moralischen Belehrungen. Die finanziellen Herausforderungen der Wiedervereinigung, die breite Spuren in Staatshaushalt und Sozialwerken hinterließen, haben wiederum den Sinn für die Grenzen deutscher Wirtschaftskraft geschärft.
Dieser neue Pragmatismus macht die Bundesrepublik nicht unbedingt zum einfacheren Kontrahenten. Berlin beginnt, die neuen Spielräume zu nutzen und eine unbefangenere Außenpolitik zu betreiben. Gar so selbstverständlich hätte man früher Liechtenstein nicht wegen einiger Steuersünder an den Pranger gestellt. Je aktiver Berlin auf der internationalen Bühne auftritt, umso ungenierter betreibt man Interessenpolitik. Nicht, dass die Bundesrepublik früher darauf verzichtet hätte, ihre Interessen wahrzunehmen. Aber man pflegte diese zu bemänteln und sich hinter anderen zu verstecken. Man sagte „wir“, wo man „ich“ meinte. Es hieß, es gebe keine deutsche Außenpolitik mehr, nur noch eine europäische. Auch dies ist vorbei. Die Partner laufen heute eher Gefahr, zur Zielscheibe einer deutschen Verbalattacke zu werden.
Die eidgenössische Verärgerung über Finanzminister Peer Steinbrück, der die Schweiz als halbkriminelle Steueroase etikettiert hatte, stellte allerdings eines nicht in Rechnung: Auch im innenpolitischen Schlagabtausch ist Steinbrück erst dann zufrieden, wenn er alle Anwesenden im Raum mindestens einmal beleidigt hat. Ohnehin sollte man ein offenes Wort nicht unbedingt mit Aggressivität gleichsetzen. Zur bundesdeutschen Außenpolitik gehört seit je eine gewisse Rücksichtnahme auf die kleineren Nachbarn. Seit der Wiedervereinigung hat sich die Bundesrepublik verändert, aber ihre grundlegenden demokratischen Koordinaten sind gleich geblieben.
Leicht bearbeitete Version eines Beitrages, der zuerst in der „Neuen Zürcher Zeitung“ vom 14./15. Juni 2008 erschien.