Das sollte schockieren
Tobias Dürr --
EDITORIAL
Im Grunde ist es kein Wunder, dass die jüngste Windung des deutschen Demokratie- und Vertrauenskrisendiskurses kaum noch jemanden hinter den Büschen hervorlockt. Schließlich mäandert die Debatte nun schon seit gefühlten Ewigkeiten vor sich hin. Alle Jahre wieder – man kann die Uhr nach ihm stellen – mahnt etwa der Bielefelder Sozialforscher Wilhelm Heitmeyer vor der weiteren Verfinsterung der „Deutschen Zustände“. Auch die Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) ist verlässlich ganz vorne mit dabei, wenn es darum geht, das Zerbröseln der gesellschaftlichen Mitte zu diagnostizieren und die Deutschen das Fürchten vor dem kollektiven Absturz ins so genannte Prekariat zu lehren. Alle Erfahrung indes zeigt: Bestenfalls die wirklich allerextremsten Prognosen dieser Art finden überhaupt noch öffentliche Aufmerksamkeit, alles andere wird müde unter „Wissen wir schon“ abgebucht. Mutmaßlich deshalb hat die FES jetzt sozusagen die Endstufe gezündet. Wo selbst routinierte Apokalyptiker wie Heitmeyer bislang davor zurückschreckten, „die Demokratie an sich“ in Gefahr zu wähnen, lässt die jüngste Studie der SPD-nahen Stiftung zum Thema Demokratievertrauen nur noch einen Schluss zu: Das Ende der Demokratie in Deutschland ist nah! Von „erschreckenden Ergebnissen“ spricht der zuständige Studienleiter. Und fürwahr: Wenn jeder dritte Deutsche (und im Osten sogar jeder zweite) zu Protokoll gibt, er glaube nicht mehr daran, dass die Demokratie noch Probleme lösen könne, dann gilt durchaus, was
die tageszeitung in pflichtgemäßer Ergriffenheit schreibt: „Das sollte schockieren.“ Und wenn 25 Prozent der Bürger (und im Osten 41) „mit der Demokratie, wie sie heute bei uns ist“ nichts mehr zu tun haben wollen, dann müsste auch das bis ins Mark erschüttern. Und aufrütteln.
Tut es aber offensichtlich nicht – und hier beginnt das eigentliche Problem. Die
Berliner Republik ist weit entfernt davon, die mit Händen zu greifende Vertrauenskrise in Deutschland (und übrigens: Europa) auf die leichte Schulter zu nehmen; die ihrerseits von großer Besorgnis gekennzeichneten Texte dieses Heftes belegen das. Aber eines ist uns auch klar: Wer ewig bloß nachweist, wie sehr sich die Verhältnisse im Land verschlimmern, der tut noch nicht viel dafür, dass irgendetwas wieder besser wird. Und womöglich gilt sogar das genaue Gegenteil. Die Gefahr ist beträchtlich, dass der gängige Krisen- und Untergangsdiskurs, sofern ihn noch irgendwer wahrnimmt, im Sinne einer klassischen
self-fulfilling prophecy erst recht dazu beiträgt, dass alles genau so kommt, wie vorausgesagt. Gerade wo die Probleme wachsen und das öffentliche Vertrauen schwindet, ist bloßes Jammern und Mahnen mithin die schlechteste aller Gegenstrategien. Wer genau hinsieht, hat längst begriffen: Das Leitmotiv „Yes, we can“ ist keineswegs eine sorglose Botschaft der guten Laune. Barack Obama hat schlicht erkannt, dass es im Angesicht der tiefen Krise mehr denn je auf das ankommt, was Max Weber „Festigkeit des Herzens“ nannte. Davon brauchen wir mehr in Deutschland, von der sterilen Empirie des bevorstehenden Scheiterns weniger.