Der gute und der schlechte Populismus
Die Beschäftigung mit dem Populismus und populistischer Politik hat Konjunktur. Sie wurde besonders durch die Ausbreitung eines neuartigen Parteientyps ausgelöst, der in den achtziger Jahren aufkam und bald unter dem Begriff des "Rechtspopulismus" firmierte. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, sind die rechtspopulistischen Parteien heute in sämtlichen westlichen Demokratien präsent. Viele von ihnen haben sich in den Parteiensystemen dauerhaft etablieren können und liegen mit ihren Wahlergebnissen im zweistelligen Bereich. In einigen Ländern ist den Rechtspopulisten sogar der Sprung in die Regierung gelungen.
Nach einer gewissen Verzögerung hat die Politikwissenschaft in den neunziger Jahren begonnen, sich mit den rechtspopulistischen Erscheinungen intensiv zu beschäftigen. Inzwischen liegen zahlreiche international vergleichende Darstellungen vor, die das Aufkommen der neuen Parteien analysieren und dabei auch die voneinander abweichenden Ergebnisse in den verschiedenen Ländern zu erklären versuchen.1 Übereinstimmung besteht darin, dass es sich um ein "multifaktorielles" Phänomen handelt, das nicht auf eine einzelne Ursache zurückgeführt werden kann.
Unter den Beobachtern herrschte zunächst noch die Erwartung, dass der Rechtspopulismus eine kurzfristige Erscheinung sei, die früher oder später aus den Parteiensystemen wieder verschwinden würde. Dieser Optimismus hat sich längst in das Gegenteil verkehrt. Den rechtspopulistischen Parteien wird mittlerweile eine solide Erfolgsgrundlage attestiert, mit deren Fortbestand wohl auch in Zukunft zu rechnen ist. Welche Folgen das haben wird, und wie der Populismus aus demokratischer Sicht bewertet werden muss - darüber besteht aber nach wie vor keine Einigkeit. Während die einem in ihm einen urdemokratischen Impuls sehen, der Fehlentwicklungen der politischen Systeme anprangere und korrigiere, weisen andere auf die Gefährdungen hin, die von den populistischen Erscheinungen mittelbar oder unmittelbar für die demokratische Entwicklung ausgingen. Das Problem liegt darin, dass auf dieser allgemeinen Ebene beide Seiten Recht haben. Die Ambivalenz unter Demokratiegesichtspunkten ist dem Populismus schon vom Begriff her gegeben. Einerseits steckt in ihm das Wort populus (=Volk), was auf eine enge Verbindung zur demokratischen Idee hindeutet. Wo Demokratie ist, ist - mit anderen Worten - immer auch Populismus.2 Auf der anderen Seite signalisiert das Suffix "-mus" eine ideologische Übersteigerung, die dem gemäßigten Charakter der heutigen Demokratien widerstreitet. Indem er das demokratische Element hypostasiert und gegen die demokratiebegrenzenden Prinzipien der Verfassungsstaatlichkeit in Stellung bringt, rückt der Populismus zumindest potenziell in die Nähe der Systemfeindlichkeit.
Wenn die Etablierten phantasielos werden
Welche von beiden Interpretationen trifft auf den Rechtspopulismus zu? Um eine sinnvolle Antwort darauf zu geben, ist es zweckmäßig, zwischen der Aussagen- und Wirkungsebene populistischer Politik zu unterscheiden. Was für sich genommen undemokratisch sein mag - die ideologischen Inhalte des Rechtspopulismus oder seine Agitationsformen - kann in der Auseinandersetzung mit anderen Akteuren und Ideen ja durchaus demokratiefördernde oder -stabilisierende Konsequenzen entfalten. Das Auftreten populistischer Parteien und Bewegungen ist an sich also noch kein Ausweis demokratischer Instabilität; selbst bei Gruppierungen mit eindeutig feindlichen Absichten könnte es die Integrationsleistung des Systems gerade befördern, wenn vorhandene Protestgründe aufgenommen werden und auf diese Weise eine neue politische Balance entsteht. Offenbar gibt es auch in der heutigen Gesellschaft populistische Momente, "Zeiten der drohenden Verkrustung der Systeme, der Phantasielosigkeit der Etablierten, der notwendigen Erneuerung, in denen solche Bewegungen und Energien ihre positive historische Funktion haben".3
Der neue Rechtspopulismus bildet hiervon keine Ausnahme. Indem er dem Protest eine Stimme verleiht, sorgt er einerseits dafür, dass dieser im System verbleibt und nicht in die dumpferen Kanäle der Gewalt und des Sektierertums abgedrängt wird.4 Zum anderen zwingt er die etablierten Kräfte, sich der Probleme anzunehmen, die zuvor offensichtlich vernachlässigt wurden und den Newcomern die Wähler überhaupt erst zugetrieben haben. Selbstbewusste Demokratien brauchen den Populismus daher nicht zu fürchten.5
Alles andere als ein Spuk, der vorübergeht
Gegen diese optimistische Sichtweise lassen sich allerdings zwei gewichtige Einwände vorbringen. Zum einen schwingt in ihr offenbar die Vorstellung mit, dass die populistischen Bewegungen - wenn sie ihre Funktion erfüllt haben - über kurz oder lang wieder verschwinden. Im Falle der neuen Rechtsparteien hat sich das bekanntlich nicht bewahrheitet, im Gegenteil: Die Populisten zeigten sich stabil und legten in der Wählergunst vielerorts sogar noch weiter zu. Für die gemäßigte Rechte bedeutete das, dass sie die lästige Konkurrenz in ihre Bündnisüberlegungen fortan mit einbeziehen musste, wenn sie ihre Mehrheitsfähigkeit gegenüber der Linken nicht dauerhaft verlieren wollte.6 Die Rechtspopulisten wurden "salonfähig" gemacht und konnten so in mehreren Ländern (Österreich, Portugal, Niederlande) an der Regierung beteiligt werden beziehungsweise diese ganz übernehmen (Italien).7
Gelegenheiten wird es noch genug geben
Wo den Parteien die Unterstützung wieder entzogen wurde, lagen dem entweder interne Querelen zugrunde, mit denen die Rechtspopulisten ihr Bild in der Öffentlichkeit ruinierten: Beispiele sind der Front National Le Pens, der 1999 die Abspaltung des Mégret-Flügels zu verkraften hatte, oder die dänische Fortschrittspartei, die sich in den achtziger Jahren den Machtansprüchen ihres einstigen Gründers Mogens Glistrup erwehren musste. Oder die Parteien wurden zum Opfer ihrer selbstauferlegten Regierungsverantwortung. Gehört die Anti-Establishment-Haltung zum Populismus wesensmäßig dazu, so drohen massive Glaubwürdigkeitsverluste bei den eigenen Anhängern, wenn die Partei selber zu einem Teil des Establishments wird.
Dieses Schicksal ist zuletzt der FPÖ in Österreich, der Liste Pim Fortuyn in den Niederlanden und - in kleinerem Maßstab - der Schill-Partei in Hamburg widerfahren. Allein in Italien scheint dem Dreierbündnis von Forza Italia, Lega Nord und Alleanza Nazionale die Gratwanderung von anti-institutionalistischer Gesinnung und verantwortlicher Regierungspolitik gelungen zu sein. Dabei handelt es sich freilich um eine Ausnahme, die ohne den Totalumsturz des italienischen Parteiensystems in den neunziger Jahren nicht zu erklären wäre. Sieht man von den genannten Fällen einmal ab, so bleibt die Herausfordererrolle der Rechtspopulisten im Parteienwettbewerb notorisch. Angesichts der objektiven Probleme des heutigen Regierens dürften sie auch in Zukunft über genügend Gelegenheiten verfügen, ihre Position zu halten oder weiter zu verbessern. Für die anderen Parteien mag das bedrückend sein, denn die von den Populisten favorisierten "Problemlösungen" verdienen diesen Namen nur selten.8 Gelingt es den Herausforderern, ihre organisatorischen Probleme zu bewältigen und ideologische Widersprüche zu unterdrücken, wäre es jedoch äußerst verwunderlich, wenn sie allein durch das Verhalten der Konkurrenz wieder zum Verschwinden gebracht würden.
Die plebiszitäre Transformation der Politik
Der zweite Einwand bezieht sich auf die längerfristigen institutionellen Implikationen des Rechtspopulismus, die - gelinde gesagt - problematisch sind, weil sie zu einer Aushöhlung der demokratischen Substanz des Verfassungsstaates beitragen. Die neu entstandenen Parteien sind Trendsetter einer Entwicklung, die man als "plebiszitäre Transformation" des politischen Prozesses bezeichnen könnte. Klassische Vermittlungsinstitutionen wie Parlamente und Parteien treten in der Bedeutung zurück und werden durch direkte Beziehungen zwischen Regierung und Wahlvolk ersetzt beziehungsweise überlagert. Die populistischen Neugründungen sind ein Symptom dieser Entwicklung, nicht ihr eigentlicher Grund. Gewiss haben sie den Wandel offensiver vorangetrieben als die etablierten Kräfte. Charakteristisch dafür ist etwa, dass einige ihrer Vertreter in der Wähleransprache deutliche Parallelen zu den amerikanischen Parteien aufweisen, die das plebiszitäre Modell in der bisher reinsten Form verkörpern (etwa Forza Italia, FPÖ). Darüber hinaus treten die Rechtspopulisten fast überall für die Einführung oder stärkere Inanspruchnahme direktdemokratischer Beteiligungsformen ein, um die Macht der repräsentativen Institutionen zu beschränken. Diese Bemühungen dürfen den Blick auf die tieferliegenden Ursachen des Wandels aber nicht verstellen, die systembedingt sind, das heißt: mit der Funktionsfähigkeit der Demokratie selbst zu tun haben.
So wie sie als politisches System in einem Großteil der Welt heute real existiert, bildet die Demokratie eine Synthese aus zwei normativen Prinzipien: der Volkssouveränität (die man auch als demokratisches Prinzip im engeren Sinne bezeichnen könnte), und der Verfassungsstaatlichkeit. Beide liegen in einem komplementären Spannungsverhältnis zueinander. Postuliert das Demokratieprinzip eine Regierungsform, in der Herrschaft stets unter Berufung auf den Willen des Volkes bzw. der Mehrheit des Volkes ausgeübt wird, so ist der Verfassungsstaat die Antwort auf das Paradoxon, dass sich eine solche Demokratie mit demokratischen Mitteln selbst abschaffen kann (wenn es das Volk bzw. die Mehrheit des Volkes so beschließt). Verfassungsstaatliche Strukturen laufen also auf eine Befestigung der Demokratie hinaus, indem sie deren Herrschaftsanspruch begrenzen. Sie sorgen dafür, dass die vom Volk bestellt Herrschenden in ihrer Machtausübung kontrolliert werden und definieren einen Bereich geschützter Rechte, über die keine demokratische Mehrheit - sei sie auch noch so groß - verfügen kann. Institutionell durch verschiedene Formen der organschaftlichen Gewaltenteilung verbürgt, findet das verfassungsstaatliche Prinzip seinen sichtbarsten Ausdruck heute in der justiziellen Normenkontrolle.
Sind Eliten notwendig oder unnötig?
Wird die Reichweite des demokratischen Herrschaftsanspruchs durch die Verfassung äußerlich begrenzt, so unterliegt das Prinzip der Volkssouveränität auf der anderen Seite auch immanenten Schranken. Allein aufgrund ihrer Größe können die demokratischen Systeme das Herrschaftsproblem nur mittels Repräsentation lösen. Volkssouveränität heißt also nicht, dass das Volk selber die Regierungsgeschäfte führt, sondern dass es bestimmte Personen oder Personengruppen beauftragt, die Regierungsgewalt stellvertretend in seinem Namen und Interesse auszuüben. Faktisch hat das zur Folge, dass neben die Herrschaft der Vielen die Herrschaft der Wenigen tritt. Realistisch betrachtet ist eine Demokratie ohne ausgewähltes Führungspersonal, das die Leitungsfunktionen übernimmt und über entsprechende Machtprivilegien verfügt, nicht vorstellbar. Die Frage lautet nur, ob das auch so sein sollte. "Sind Eliten und Führungsminderheiten ein notwendiges (oder sogar unnötiges) Übel, oder sind sie ein lebenswichtiger und nützlicher Faktor?"9 In der normativen Demokratiediskussion scheiden sich daran bis heute die Geister.
Der Populismus begreift das Volk als Einheit
Die Grundkontroverse zwischen konstitutioneller und "populistischer" Demokratieauffassung spiegelt sich also auch in der Interpretation des Volkssouveränitätsprinzips wider.10 Die einen sehen die Regierungsgewalt am besten in der Hand einer qualifizierten Führungsgruppe aufgehoben, die ihre Verantwortung für das Volk allein aus der Sache heraus wahrnimmt, ohne den wechselnden Stimmungen und Meinungen des Publikums nachzulaufen; die anderen halten dafür, dass dem Volk ein möglichst unmittelbarer Einfluss auf die Politik zugestanden werden muss, weil nur so ein Höchstmaß an Übereinstimmung zwischen Regierenden und Regierten zu erreichen sei. Die repräsentative stimmt mit der konstitutionellen Demokratiekonzeption in der Betonung des deliberativen Charakters der politischen Entscheidungsprozesse überein; sie ist deshalb ihrer Tendenz nach inklusiv, auf eine möglichst breite Interessenberücksichtigung hin angelegt.
Die populistisch-plebiszitäre Demokratiekonzeption setzt demgegenüber anstelle des geduldigen Aushandelns die Dezision. Sie möchte die vorhandene Interessenvielfalt in einer mehrheitsdemokratischen Entscheidungsbefugnis aufgehoben sehen, die auf Ausgrenzung beruht und damit polarisierend wirkt. So erklärt sich auch das Bedürfnis nach homogenen Identitätskonstruktionen, der Drang, das Volk als vorgestellte Einheit nicht nur im Inneren gegen die herrschenden Eliten, sondern auch nach außen hin von anderen Völkern und Nationen zu unterscheiden; dies weist den Populismus als eine im Kern antipluralistische (oder antiliberale) Ideologie aus.11
Die plebiszitäre Transformation des politischen Prozesses, von der oben die Rede war, muss vor dem Hintergrund einer Entwicklung gesehen werden, die die Gewichte von der populistischen zur konstitutionell-repräsentativen Demokratieauffassung in der Vergangenheit immer mehr verschoben hat. Ursächlich dafür ist vor allem die wachsende Komplexität des Regierungsgeschehens. Einerseits werden die zu lösenden Probleme aufgrund ihrer sachlichen und räumlichen Verflochtenheit objektiv drängender, ohne dass die staatlichen Handlungskapazitäten entsprechend Schritt halten. Andererseits steigt im Zuge der gesellschaftlichen Differenzierung die Zahl der Akteure und Interessen, die in den Entscheidungsprozessen berücksichtigt werden wollen. Um den Komplexitätszuwachs organisatorisch zu bewältigen, sieht sich die Politik gezwungen, einen immer größeren Teil der Regierungsgeschäfte in spezialisierte "policy-Netzwerke" zu verlagern, in denen die Experten und Interessenvertreter weitgehend unter sich bleiben. Gleichzeitig kommt es zu einer Verrechtlichung der sozialen Beziehungen, die den Einfluss von Bürokratie und Justiz verstärkt und damit ebenfalls zu einer tendenziellen Entwertung der demokratisch verfassten Regierungsorgane beiträgt.12
Die demokratiepolitischen Implikationen dieser Entwicklung sind prekär. In dem Maße, wie die Entscheidungsprozesse infolge der komplizierten Probleme inklusiver, konsensueller und outputlastiger werden, werden sie für das Publikum zugleich undurchschaubarer. Margaret Canovan13 bezeichnet das als "demokratisches Paradoxon" der heutigen Politik. Der Populismus stellt eine Reaktion auf dieses Paradox dar. Mit seinem Hang zur radikalen Simplifizierung vermittelt er jenes Gefühl der Eingängigkeit und Transparenz, das in der demokratischen Wirklichkeit offenbar auf der Strecke geblieben ist. Die Gegenbewegung bleibt dabei keineswegs auf die rechtspopulistischen Herausforderer beschränkt. Unterstützt durch den Wandel des Mediensystems greift sie vielmehr auf das gesamte Spektrum der elektoralen Politik über, deren Darstellungslogik sich insofern von den realen Entscheidungsprozessen immer mehr entfernt. 14 Die Politik wird introvertierter und gleichzeitig extrovertierter.
Auf dem Weg in die Anbiederungspolitik
Das Auseinanderfallen der beiden Sphären wirft für die Legitimation der demokratischen Systeme schwierige Fragen auf. Dass die öffentliche Darstellung der Politik zunehmend eigenen Gesetzen unterliegt und mit den Inhalten der Entscheidungen immer weniger zu tun hat, mag man als Konsequenz der vollendeten Mediendemokratie ja vielleicht noch hinnehmen. Die wirklichen Probleme beginnen dort, wo die Darstellungslogik die Oberhand gewinnt und auf die materiellen Entscheidungen zurückwirkt. Wenn die politischen Akteure, wie wir es in den Wahlkämpfen heute immer häufiger beobachten können, sich von Stimmungen nicht nur leiten lassen, sondern diese Stimmungen selbst aktiv herbeiführen und beeinflussen, dann droht die plebiszitäre Ansprache in populistische Anbiederung oder reine Symbolpolitik abzugleiten. Das politische Handeln wird responsiver und gleichzeitig unverantwortlicher. Der Populismus sorgt also dafür, dass die Legitimität der Demokratie auch von der Output-Seite her unter Druck gerät.
Die Idee der Partei als Bindeglied
Nirgendwo zeigt sich der Gestaltwandel der demokratischen Politik deutlicher als in der Struktur und Funktion des Parteienwettbewerbs. Als intermediäre Institutionen par excellence stellen die Parteien das eigentliche Bindeglied zwischen der verfassungsstaatlichen und plebiszitären Demokratiekomponente dar. Auf der einen Seite handelt es sich bei ihnen um faktische Staatsorgane, die nahezu das gesamte politische Personal rekrutieren und sämtliche Schlüsselpositionen des Regierungssystems besetzen. Auf der anderen Seite sind die Parteien als gesellschaftliche Gruppen und Willensbildungsorgane die natürlichen Adressaten der elektoralen Politik.
Folgt man der Analyse von Peter Mair 15, so war es die Gleichzeitigkeit von gesellschaftlicher Segmentierung und ideologischer Polarisierung, die in der Vergangenheit die demokratische Funktionalität des Parteienwettbewerbs gewährleistet und damit zugleich eine Schutzvorkehrung gegen den Populismus gebildet hat. Die Massenintegrationsparteien waren repräsentativ, indem sie eine klar umrissene politische Identität ausbildeten. Sie standen für die Interessen und Wertvorstellungen bestimmter Bevölkerungsgruppen und waren in deren gesellschaftlichen Milieus fest verwurzelt.
Für den Parteienwettbewerb hatte das widersprüchliche Konsequenzen. Auf der einen Seite wurde die kompetitive Orientierung der Parteien begrenzt, weil sie sich auf die Unterstützung ihrer natürlichen Anhängerschaft verlassen konnten und dadurch über gesicherte Stimmenanteile verfügten. Andererseits sorgten die weltanschaulich-programmatischen Gräben zwischen den Parteien dafür, dass das Steuerungspotenzial des Parteienwettbewerbs beträchtlich blieb. Die Zurechnung (oder Zurechenbarkeit) politischer Verantwortung, ohne die eine demokratische Wahl gar nicht möglich wäre, wurde gewährleistet, weil es tatsächlich einen bedeutsamen Unterschied machte, welche Partei regierte.
Detailwut oder Depolitisierung
Nachdem die großen ideologischen Gegensätze verblasst sind und die einstmals identitätsstiftenden Bindungen der Parteien ihre gesellschaftliche Basis allmählich eingebüßt haben, wurden die Vorzeichen des Parteienwettbewerbs in das genaue Gegenteil verkehrt. Heute bekämpfen die Parteien einander schärfer, weil sie um eine zunehmend wechselbereiter werdende Wählerschaft konkurrieren müssen, die sich bei der Stimmabgabe nicht mehr an soziologische oder ideologische Gewissheiten gebunden fühlt. Parallel - und nur im scheinbaren Widerspruch dazu - kommt dem Parteienwettbewerb seine reale Grundlage immer mehr abhanden.
Die geringer werdenden Handlungsspielräume der nationalen Politik im Zeitalter der Globalisierung und ihr eigenes Bedürfnis nach Stimmenmaximierung zwingen die politischen Akteure, im Prinzip dieselben Ziele zu verfolgen und Lösungen anzubieten. Um im Parteienwettbewerb zu bestehen, kommen die Parteien aber nicht umhin, sich von der Konkurrenz in irgendeiner Form zu unterscheiden. Von daher bleibt ihnen nur die Wahl, entweder auf die Unterschiede in den Details der Problemlösungen zu verweisen und dabei zu riskieren, dass die Wähler überfordert oder gelangweilt werden. Oder sie führen eine gezielte Depolitisierung der Wählerschaft herbei, indem sie auf Personalisierungsstrategien und symbolische Handlungen ausweichen und in ihrer Rhetorik das Volk zum zentralen Bezugspunkt machen.16 Dass die letztgenannte Option im Zweifelsfalle die attraktivere ist, versteht sich im Kontext unserer heutigen Mediengesellschaft fast von selbst. Es hängt auch mit den Darstellungsformen und -techniken des in dieser Hinsicht besonders wichtigen Fernsehens zusammen, die eine natürliche Affinität zur populistischen Ansprache entwickeln.17 Für die politischen Akteure kann es sich also lohnen, "in Populismus zu machen", wenn sie ihre elektorale Unterstützungsbasis verbreitern wollen. Damit gewinnen sie zugleich die Möglichkeit, sich von "ihren" Parteien zu emanzipieren. Die plebiszitäre Transformation bleibt insofern nicht auf die Außenseite des Parteienwettbewerbs beschränkt. Sie spiegelt sich auch im Inneren der Parteien wider, die führungslastiger werden und ihrer elektoralen Funktion alle weiteren Ziele unterordnen.18
Die Parteien als Lieblingszielscheibe
Der Gestaltwandel der Parteiendemokratie hat noch in anderer Hinsicht populistische Konsequenzen. Er sorgt dafür, dass die Parteien zur bevorzugten Zielscheibe der öffentlichen Kritik werden. Der Anti-Parteien-Affekt kann sich in den westlichen Demokratien einer langen intellektuellen Tradition rühmen, die aber nur in Ausnahmesituationen zur Gründung dezidierter Anti-Parteien-Parteien geführt hat. Mit dem neuen Rechtspopulismus ist die Ausnahme jetzt zur Regel und die Kritik an den Parteien zu einem immer wichtigeren Mobilisierungsthema geworden. Dass das Thema in der Wählerschaft auf fruchtbaren Boden fällt, rührt aus der widersprüchlichen Rolle, die die Parteien in der heutigen Demokratie spielen. Einerseits haben sich ihre gesellschaftlichen Bindungen abgeschwächt, so dass die Bürger im Falle von Leistungseinbußen anfälliger für Abwanderungs- oder Widerspruchsreaktionen werden und ihre Partizipationsbereitschaft sinkt (rückläufige Mitgliederzahlen und Wahlbeteiligungen).
Andererseits hat die gesellschaftliche Schwächung der Parteien keinen gleichlautenden Machtverlust im staatlichen Bereich bewirkt, im Gegenteil: Gerade weil ihnen die gesellschaftliche Basis weggebrochen ist, haben die Parteien alles daran gesetzt, ihre Positionen im Staat wo immer möglich zu verteidigen und auszubauen. Legitimatorisch geraten sie dadurch in ein fast auswegloses Dilemma: "Werden die verschiedenen Gesichter der Partei unabhängiger voneinander, und wendet sich die Parteiführung immer mehr an den Staat, um die Ressourcen der Partei zu sichern, so nimmt die Bedeutung der Beziehungen, die auf Vertrauen, Verantwortlichkeit und - vor allem - Repräsentation gründen, sowohl innerhalb als auch außerhalb der Parteien tendenziell ab. In dem Maße, wie die Parteien privilegierter werden, werden sie zugleich abgehobener. Es ist diese besondere Kombination von Umständen, die den Boden für das weit verbreitete Anti-Parteien-Gefühl bereitet haben könnte, das die Massenpolitik in den westlichen Demokratien heutzutage charakterisiert."19
Volksgesetzgebung als Gegenstrategie?
Kennzeichnend für den Populismus als politisches Systemmerkmal ist also sein Doppelgesicht. Zum einen beschreibt er eine plebiszitäre Überformung der elektoralen Politik, die auf den Bedeutungswandel der Parteienkonkurrenz zurückzuführen ist und das gesamte politische Spektrum umgreift. Zum anderen stellt er ein Protestphänomen dar, das - in Gestalt von Anti-Parteien-Parteien - gegen die Begleiterscheinungen des Parteienstaates zu Felde zieht. Beides wirft natürlich die Frage nach möglichen Gegenstrategien auf. Trifft die hier vorgelegte Diagnose zu, dann besteht das Problem vor allem darin, dass die plebiszitären und konsensuellen Legitimationsstränge des demokratischen Verfassungsstaates auseinander driften. Der Parteienwettbewerb verkommt als Entscheidungsverfahren immer mehr zur Fiktion, während seine populistischen Auswüchse die Substanz der materiellen Politik gleichzeitig in Mitleidenschaft ziehen. Eine Antwort auf dieses Problem könnte darin liegen, dass man die plebiszitären Elemente aus der elektoralen Sphäre herauslöst und in die konsensuellen Bereiche des Regierungssystems verlagert. Für die Bundesrepublik wäre in diesem Zusammenhang beispielsweisean eine behutsame Einführung von Instrumenten der Volksgesetzgebung auch auf Bundesebene zu denken.20 In dieselbe Richtung weisen die in der neueren Forschung empfohlenen Beteiligungsformen einer assoziativen oder Netzwerkdemokratie, die sachlich und/oder räumlich abgestuft sind und auf eine Stärkung des deliberativen Moments bei der Entscheidungsfindung abzielen.22
Warum die Demokratie mehr Konsens braucht
Die Einführung neuer Demokratieformen bedeutet selbstverständlich nicht, dass der Parteienwettbewerb seiner elektoralen Funktion gänzlich beraubt wird. Er behält diese Funktion schon deshalb, weil es prinzipiell möglich bleiben muss, eine unfähige oder korrupte Regierung loszuwerden ("to throw the scoundrels out"). Für die inhaltliche Politikgestaltung wäre es hingegen besser, das mehrheitsdemokratische Element zurückzudrängen und den Fokus der Demokratisierung auf die konsensuellen Entscheidungsmechanismen zu richten, die für neue Mitwirkungsmöglichkeiten geöffnet und in ihrer Responsivität gestärkt werden müssten. Die veränderten Rahmenbedingungen des Regierens führen dazu, dass die demokratische Politik heute nicht weniger, sondern mehr Konsens benötigt. Von daher wächst auch der Bedarf, die Entscheidungsprozesse durch eine möglichst enge Anbindung an die Betroffenen legitimatorisch abzusichern.
Im Umkehrschluss heißt das, dass die Gefährdungen durch den Populismus dort am größten sind, wo sie die bereits vorhandenen Konsenseigenschaften des politischen Systems unterminieren. Je mehr sich die plebiszitären Tendenzen Bahn brechen, um so wichtiger werden - mit anderen Worten - die freiheitssichernden Schutzvorkehrungen des Verfassungsstaates.22 Solange die rechtspopulistischen Kräfte in der Opposition verharren und als reine Protestparteien auftreten, dürfte von ihnen für die verfassungsmäßige Ordnung keine unmittelbare Bedrohung ausgehen. Bedenklich wird es erst, wenn sie über Regierungsmacht verfügen und ihre plebiszitären Demokratievorstellungen aktiv betreiben können. Die Erfahrungen nach der Machtbeteiligung beziehungsweise -übernahme rechtspopulistischer Parteien in Österreich und insbesondere Italien zeigen, dass diese Befürchtungen keineswegs aus der Luft gegriffen sind.23 Sie können auch nicht durch die Hoffnung aufgewogen werden, dass die Rechtspopulisten an der Regierung mit hoher Wahrscheinlichkeit scheitern, wie es in Österreich und den Niederlanden zuletzt der Fall war. Der Blick nach Lateinamerika oder Osteuropa macht deutlich, dass es von der populistischen Demokratie zum quasi-demokratischen Autoritarismus häufig nur ein kurzer Weg ist. Die entwickelten demokratischen Staaten mag das einstweilen noch nicht betreffen. Dennoch sollten sie die vom Populismus ausgehenden Gefahren ernst nehmen und einer plebiszitären Verwandlung ihrer Regierungssysteme schon heute vorsorglich entgegentreten.
Anmerkungen:
1Vgl. etwa Hans-Georg Betz, Radical Right-Wing Populism in Western Europe, New York 1994; Herbert Kitschelt und Anthony McGann, The Radical Right in Western Europe: A Comparative Analysis, Ann Arbor 1995; Paul Taggart, The New Populism and the New Politics: New Protest Parties in Sweden in a Comparative Perspective, Houndmills und London 1996; Hans-Georg Betz und Stefan Immerfall (Hrsg.), The New Politics of the Right: Neo-Populist Parties and Movements in Established Democracies, New York 1998; Michael Minkenberg, Die neue radikale Rechte im Vergleich: USA, Frankreich, Deutschland, Opladen 1998; Frank Decker, Parteien unter Druck: Der neue Rechtspopulismus in den westlichen Demokratien, Opladen 2000; Dietmar Loch und Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.), Schattenseiten der Globalisierung: Rechtsradikalismus, Rechtspopulismus und separatistischer Regionalismus in westlichen Demokratie, Frankfurt am Main 2001.
2Margaret Canovan, Trust the People! Populism and the Two Faces of Democracy, in: Political Studies 47 (1999) 1, S. 2-16.
3 Hans-Jürgen Puhle, Was ist Populismus, in: Helmut Dubiel (Hrsg.), Populismus und Aufklärung, Frankfurt am Main 1986, S. 32.
4 Vergleichende Untersuchungen innerhalb Europas deuten darauf hin, dass beide Formen des Protests bis zu einem gewissen Grade austauschbar sind: Die Zahl der Gewalttaten mit rechtsextremistischem Hintergrund liegt danach in den Ländern besonders hoch, in denen die neuen Rechtsparteien schwach geblieben sind (so etwa in Deutschland) während in anderen Fällen die Gewaltbereitschaft durch den Erfolg solcher Parteien offenbar gezügelt werden konnte (z.B. in Frankreich und Dänemark). Vgl. Ruud Koopmans, A Burning Question: Explaining the Rise of Racist and Extreme Right Violence in Western Europe, Berlin (Wissenschaftszentrum Berlin, FS III 95-101).
5 So Lothar Probst, Demokratie braucht Populismus, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 2.12.2001, S. 13.
6 Vgl. Frank Decker, Rechtspopulismus in Europa. Ein unaufhaltsamer Trend?, in: MUT. Forum für Kultur, Politik und Geschichte 422 (2002), S. 46-52.
7 Die rechtspopulistischen Parteien in Dänemark und Norwegen, die bei den letzten Wahlen mit 12 bzw. 15 Prozent der Stimmen triumphierten, tolerieren derzeit eine bürgerliche Minderheitsregierung, sind also an der Macht indirekt beteiligt.
8 Vgl. Roland Sturm, Das Urteil steht vor dem Argument, in: Frankfurter Allgemeine vom 23.2.2000, S. 11.
9 Giovanni Sartori, Demokratietheorie, Darmstadt 1992, S. 173.
10 Vgl. Yves Mény und Yves Surel, The Constitutive Ambiguity of Populism, in: dieselben (Hrsg.), Democracy and the Populist Challenge, Houndmills und New York 2002, S. 1-21 sowie Paul Taggart, Populism and the Pathology of Representative Politics, in: ebd., S. 62-80.
11 Vgl. Sieglinde Katharina Rosenberger, Demokratie und/versus Populismus, in: Andrei Markovits und dieselbe (Hrsg.), Demokratie: Modus und Telos, Wien 2001, S. 106 f.
12 Vgl. Yannis Papadopoulos, Populism, the Democratic Question, and Contemporary Governance, in: Yves Mény und Yves Surel (Anm. 10), S. 45-61.
13 Margaret Canovan, Taking Politics to the People: Populism and the Identity of Democracy, in: Yves Mény und Yves Surel (Anm. 10), S. 25 ff.
14 Vgl. u.a. Ulrich von Alemann und Stefan Marschall (Hrsg.), Parteien in der Mediendemokratie, Wiesbaden 2002; Heribert Schatz, Patrick Rössler und Jörg-Uwe Nieland (Hrsg.), Politische Akteure in der Mediendemokratie: Politiker in den Fesseln der Medien?, Wiesbaden 2002, Karl-Rudolf Korte und Gerhard Hirscher (Hrsg.), Darstellungspolitik oder Entscheidungspolitik? Über den Wandel von Politikstilen in westlichen Demokratien, München 2000 sowie Albrecht Müller, Von der Parteiendemokratie zur Mediendemokratie: Beobachtungen zum Bundestagswahlkampf 1998 im Spiegel früherer Erfahrungen, Opladen 1999.
15 Peter Mair, Populist Democracy vs Party Democracy, in: Yves Mény und Yves Surel (Anm. 10), S. 81-98.
16 Beispielhaft für eine solche Strategie steht laut Mair die Wähleransprache von Tony Blairs New Labour in Großbritannien, die in ihrer Diktion jeglicher Parteilichkeit entkleidet sei. "These are non-partisan leaders with a non-partisan programme running a non-partisan government in the interests of the people as a whole. This is, in short, partyless democracy." Mair ebd., S. 96.
17 Vgl. Frank Decker (Anm. 1), S. 324 ff.
18 Vgl. Angelo Panebianco, Political Parties: Organization and Power, Cambridge 1988, S. 264 f.
19 Peter Mair, Party Organizations: From Civil Society to the State, in: Richard S. Katz und derselbe (Hrsg.), How Parties Organize, London u.a. 1994, S. 18 f.
20 Vgl. Frank Decker, Das Kreuz mit der direkten Demokratie, in: Berliner Republik 3 (2001) 4, S. 52-62.
21 Vgl. etwa Heidrun Abromeit, Wozu braucht man Demokratie? Die postnationale Herausforderung der Demokratietheorie, Opladen 2002, S. 100 ff. und Peter Henning Feindt, Neue Formen der politischen Beteiligung, in: Ansgar Klein, Ruud Koopmans und Heiko Geiling (Hrsg.), Globalisierung, Partizipation, Protest, Opladen 2001, S. 255-274.
22 Vgl. Ralf Dahrendorf, Die Krisen der Demokratie: Ein Gespräch mit Antonio Polito, München 2002.
23 Vgl. Gian Enrico Rusconi, Berlusconismo: Neuer Faschismus oder demokratischer Populismus?, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 47 (2002) 8, S. 973-980 sowie Rosenberger (Anm. 11).