Der Kontinent wankt: Was Peter Glotz heute zum Zustand Europas feststellen würde
Doch zu irgendeiner Verklärung des SPD-Bundesgeschäftsführers von 1981 bis 1987 besteht kein Anlass. Denn er würde heute mit seinen Positionen als noch krasserer Außenseiter in seiner Partei gelten denn am Ende seines Lebens – ob mit seinem Ja zur Einführung von Studiengebühren oder seinem Nein zum EU-Beitritt der Türkei, mit seiner Kampagne für ein Zentrum und Denkmal gegen Flucht und Vertreibung an der Seite der verpönten Erika Steinbach oder mit seinen libertären Positionen in der Bioethik. Aber eine Vision sollte seinen Freunden und politischen Gegnern heute noch Respekt abverlangen – die Kerneuropa-Idee, die er in den neunziger Jahren propagierte.
Für ihn erzwang die EU-Erweiterung entweder eine Rückkehr zum Europa der Nationalstaaten oder eine „variable Geometrie“, wie es Jacques Delors nannte, das heißt ein Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Danach konnten Staaten Mitglied der Europäischen Union werden, ohne sich an
allen Politikbereichen zu beteiligen.
Der Böhme Peter Glotz, 1939 im Egerland geboren, definierte sich selber als „ein altösterreichisch denkender Abkömmling eines Vielvölkerstaats, der den Nationalismus hasste und dem ‚Bismarck-Reich‘ und seinen ‚Reichsdeutschen‘ aus alter Familientradition (die tschechische Mutter) immer ein wenig fremdelnd gegenüberstand“. Im Jahr 1961 trat er der SPD bei, zwei Jahre nach der Verabschiedung des Godesberger Programms, nachdem die Partei den frankreichkritischen Nationalneutralismus ihres Nachkriegsgründers Kurt Schumacher hinter sich gelassen hatte. Micha Brumlik hat einmal nach 1989 jene als „Adenauer-Linke“ apostrophiert, die schon früh für die Westintegration und soziale Marktwirtschaft eintraten und für „dritte Wege“ und Sozialismus-Bekenntnisse nicht viel übrig hatten. Glotz war zweifellos solch ein „Linker“. In seinem Arbeitszimmer im Bonner Tulpenfeld hing über seinem Schreibtisch das berühmte Foto mit Adenauer, Willy Brandt und John F. Kennedy in der offenen Limousine während des Berlin-Besuches im Juni 1963.
Die Linke näherte sich Europa über Umwege
In den offiziellen linksintellektuellen Kreisen der Nachkriegszeit firmierte Europa nur als abendländische Notgemeinschaft von erzkatholischen Antikommunisten. Unvergessliche Ausnahmen waren die Gründer der Frankfurter Hefte, Eugen Kogon und Walter Dirks, die sogar an die Gründung einer „Europäischen Republik“ dachten. Für die Linke galt lange Zeit nur Kurt Schumachers Stigmatisierung der vier K’s „konservativ, klerikal, kapitalistisch, kartellistisch“. Die EWG wurde konvergenztheoretisch oder gesamteuropäisch, die EG anti-zentralistisch bekämpft. Vom Eurokommunismus Mitte der siebziger Jahre bis zur Mitteleuropa-Vision in den Achtzigern, die Linke näherte sich Europa häufig genug über Umwege oder so genannte dritte Wege.
Peter Glotz bekämpfte dagegen den Widerwillen vieler Genossen gegen „karolingische“ Konzeptionen. Er geißelte die europäischen Irrtümer der Linken nach dem Epochenbruch von 1989 – erstens einen „paneuropäischen Idealismus“, der mit einem fragwürdigen Gerechtigkeitsbegriff auch den Balten den Zugang zur EU nicht vorenthalten wollte; zweitens einen „uneingestandenen Neutralismus“, der Europa nach ideologischen Schnittmustern wie dem sozialdemokratischen Skandinavien konstruieren wollte; drittens einen „unerlösten Universalismus“, der im Anschluss an Immanuel Kants „Ewigen Frieden“ zur Überschätzung internationaler Agenturen neigt; sowie viertens einen „angelsächsischen Traum“, die alte Liebe zur Fabian Society, hinter der sich auch die falsche Hoffnung der kontinentaleuropäischen Sozialdemokraten auf eine Stärkung Europas durch den Beitritt Großbritanniens verbarg.
Erweiterung und Vertiefung – kein Widerspruch?
Im September 1994 platzte der rheinische Christdemokrat Karl Lamers mit einem nach seinem Fraktionschef Wolfgang Schäuble benannten Papier mitten in den bis dahin blutleeren Bundestagswahlkampf zwischen dem ausharrenden Helmut Kohl und dem glücklosen Rudolf Scharping. Das Thema Europa schien in dieser Auseinandersetzung weitgehend immunisiert zu sein. Da kam das Lamers-Papier gerade recht. Streng genommen stammte die Kerneuropa-Idee aus dem gaullistischen Umfeld von Franz Josef Strauß und dessen außenpolitischem Berater Klaus Bloemer, der 1969 von Hans-Jürgen Wischnewski in die SPD geholt worden war und dort über Jahre mit klugen, eigenwilligen Texten zur Außenpolitik für seine Europa-Vision warb, in deren Zentrum eine französisch-deutsche Kernverschmelzung stand. Bloemer hat mehrfach darauf hingewiesen, dass auch Willy Brandt nach seiner Kanzlerschaft in eine ähnliche Richtung dachte.
Worum ging es? Um eine Kritik an der Vorstellung, man könne die Vertiefung und die Erweiterung Europas miteinander vereinbaren. Glotz stimmte Lamers zu und erntete dafür heftigen Widerspruch von seinen Parteifreunden Günter Verheugen, Heidi Wieczorek-Zeul, Freimut Duve und Jürgen Schmude, die die Position Kohl-Genschers unterstützten, dass Erweiterung und Vertiefung keine Gegensätze seien, sondern einander bedingten.
Die Briten wollten die Erweiterung, befand Glotz in dieser Debatte, weil sie keine Kompetenzen an das Europäische Parlament abzutreten wünschten. Die Franzosen strebten dagegen die Vertiefung an, weil sie Deutschland noch mehr in ein westeuropäisch orientiertes Kerneuropa integrieren wollten. Sozialdemokraten täten leider so, als könne man gleichzeitig britisch als auch französisch denken: „Das ist nach meiner festen Überzeugung ein fundamentaler Irrtum“, weshalb „die Festigung des Kerns“ für ihn unabdingbar war. Das Konzept ging von einer tiefen Skepsis gegenüber Kompetenzverschiebungen auf das Europa-Parlament aus.
Das triftigste Gegenargument lautete, das Konzept funktioniere nur, wenn lediglich die Regierungen handelten. Mit der Kontrolle und der Gesetzgebung durch ein Europäisches Parlament könne ein integriertes Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten nicht aufgehen, solange Abgeordnete Gesetze mit zu beschließen hätten, die in ihren Herkunftsländern nicht gelten. Doch dieses Argument erweist sich bis heute als wenig wirklichkeitsgerecht, da selbst Jürgen Habermas in seinem jüngsten Europa-Aufruf an die „Eliten“ (!) appelliert. Anders gesprochen: Europa wäre plebiszitär ohnehin nie entstanden.
Peter Glotz sah später in der Osterweiterung die Gefahr, dass der deutsch-französische Motor ins Stottern geraten könnte – wegen einer zusätzlichen Stärkung der deutschen Wirtschaftskraft: „Die Franzosen fürchten, dass innerhalb der Europäischen Union das Mitteleuropa von Friedrich Naumann entsteht, Deutschland als Schutzmacht von Polen, Ungarn, Slowenien und anderen osteuropäischen Staaten, dass sozusagen eine Umverteilung von Macht nach Osten stattfindet.“ Er hielt solche Ängste für historisch verständlich, auch wenn sie sich heute als ziemlich gegenstandslos erwiesen haben. Die Osterweiterung der EU war eine historische Notwendigkeit. Die Staaten, die einst „auf der falschen Seite“ standen, sollten aufgenommen werden, sobald sie dafür reif waren.
Bloß nicht alles akzeptieren, was die Heidi denkt!
Bereits im Jahr 1990 hatte Glotz als Mitglied im Auswärtigen Ausschuss des Bundestags in der Zeitschrift Europa-Archiv postuliert, „derjenige, der eine Osterweiterung anstrebt, muss zuerst für eine Stärkung der Gemeinschaft der Zwölf eintreten“. Glotz war durchaus für eine „gesamteuropäische Verflechtung“, allerdings durch subregionale Kooperation. Bei aller subtilen Skepsis trat er für die europäische Wirtschafts- und Währungsunion ein, weil er die Globalisierung nicht als Schicksal hinnehmen wollte und der Meinung war, dass Europa sich als Union besser gegenüber der Weltbank, dem Weltwährungsfonds und den Vereinigten Staaten durchsetzen würde. Sein nie verschwundenes Misstrauen kam allerdings in seiner oft vorgetragenen Sorge zum Ausdruck, dass Europa „zu einer Freihandelszone verläppern“ könne.
Im Jahr 1999 ging er für die rot-grüne Bundesregierung in den Verfassungskonvent nach Brüssel, ehe Joschka Fischer als Minister den Sitz für sich in Anspruch nahm und ihn verabschiedete. Der Stachel saß tief – das Verhältnis zwischen dem Vordenker Glotz und der Regierung Schröder sollte fortan gestört sein. Als 2005 die Franzosen und Niederländer mit der plebiszitären Ablehnung des europäischen Verfassungsentwurfs die EU in eine schwere Krise stürzten, kritisierte er, das Nein der Nachbarn sei die Folge „einer nonchalanten, großmannssüchtigen, sich selbst überschätzenden Politik der europäischen Staatskanzleien“.
Übrigens, als Peter Glotz im Wahlkampf 1994 dem Lamers-Papier beipflichtete, erhielt er einen Brief von Johannes Rau, in dem dieser sich daran störte, dass der unter Scharping für die Wissenschaft zuständige Schattenminister sich in die Europa-Zuständigkeit der Kollegin Wieczorek-Zeul eingemischt habe. „Falls Ressort-Verantwortung bedeuten soll, dass ich künftig zur Europapolitik alles akzeptieren müsste, was Heidi Wieczorek-Zeul denkt, dann müsste ich meine derzeitige Existenz als freier Publizist jeder Ressort-Verantwortung vorziehen“, antwortete er Rau. Zuständigkeits-Argumente bewegten ihn wenig: „Das mag mich lästig machen. Aber ich fürchte, ich kann das nicht ändern.“
Wie ein europäischer Aufbruch aussehen könnte
Ein „lästiger“ Glotz würde heute feststellen, dass Europa wankt und seine Kräfte – zum Teil notwendigerweise, zum Teil zwanghaft – ausschließlich auf Probleme der nationalen Haushalte, das heißt deren Defizite, Ausgleich und Abstützung konzentriert. Vor allem würde ihm missfallen, dass die Krise Europas groteskerweise auf die Krise des Euro reduziert wird. Alle Steuerungsmechanismen nach der Definition von Maastricht sind obsolet; jene Regeln, die Stabilität und Wachstum in Europa garantieren sollten, sind nicht gebrochen, sondern faktisch außer Kraft gesetzt worden. Schlimmer noch: Der Kampf um den Euro wird in immer mehr EU-Staaten als Prozess der Renationalisierung geführt. In Wirklichkeit handelt es sich aber um eine Regression der Europapolitik durch unübersehbar schwache Regierungen, die eine schwache Währungsunion und Währung retten wollen. Nur so ist auch zu verstehen, dass die aktuelle Europa-Politik als „Euro-Nationalismus“ propagiert oder als Abgesang auf den Euro interpretiert wird.
Doch wie sähe ein Aufbruch aus, mit dem alle Regierungen der Europäischen Union Europa als Wirtschafts-, Sozial- und Kulturraum festigen und neu begründen könnten? Welche Chancen für eine Revitalisierung und Rekonstruktion der Europapolitik gäbe es über die unerlässliche Koordination der Wirtschaftspolitik – nicht nur der Euro-Staaten – hinaus? Nach der Friedenssicherung jenseits 1945 und der nach 1989 möglichen Erweiterung hätte sich Europa nunmehr nach innen und nach außen einer wohlverstandenen Globalisierung aller Lebensverhältnisse zu öffnen. Peter Glotz machte auf solche Herausforderungen schon vor zehn Jahren im Rahmen seiner Texte über einen „digitalen Kapitalismus“ aufmerksam. Basis einer Rekonstruktion der Europapolitik bleiben indes Rechtsstaat und Demokratie, ein Markenzeichen, mit dem Europa trotz des Vordringens der Schwellenländer immer noch in die übrige Welt hineinwirken könnte. Gewiss hätte Peter Glotz auch hier wie bei früherer Gelegenheit mit altösterreichischer Skepsis angemerkt, dass die Durchsetzung und Attraktion unseres westlichen Wertesystems einen Prozess der Regression nicht ausschlösse. «