Der Mann, der den Sack nicht zubekommt
Man kennt das ja von Mülltüten: Sind sie zu voll gestopft, platzen sie in dem Moment, in dem man sie zubinden will. Frank Schirrmacher, serieller Autor praller Weisheiten, dürfte mit diesem Phänomen nur zu vertraut sein: Bei jedem neuen Buch scheitert er daran, den Sack zuzumachen, ohne dass ihm der ganze Mist vor die Füße fällt. Ego: Das Spiel des Lebens, der neueste Titel des Literaturchefs und Mitherausgebers der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, macht da keine Ausnahme.
Wer von der Spieltheorie bislang noch nie etwas gehört hat, mag auf den ersten Blick die Schirrmachersche These originell finden: Ein paar Mathematiker in Diensten des Militärs hätten sich in den fünfziger Jahren eine todsichere Methode ausgedacht, wie man erst den Kalten Krieg gewinnt und anschließend an der Börse den Jackpot abräumt. Rationales Kalkül in Gestalt finsterer Algorithmen mache sich aber nicht nur Wirtschaft und Politik, sondern auch den Menschen insgesamt Untertan.
Schirrmacher nennt das Modell eines auf die kalkulatorischen Bedürfnisse der „Informationsökonomie“ reduzierten Menschen „Nummer 2“, verhaspelt sich aber in einem verwirrenden Panoptikum des personifizierten Übels – mal wird „Nummer 2“ wie Frankensteins Monster durch Elektrizität geweckt, mal ist er „ätherisch luftig“ und wird in diesem Zustand „in den Kopf des Menschen eingepflanzt“, anderswo ist Dr. Jekylls Alter Ego Mr. Hyde am Werk. Ein Widerling, dieser „homo oeconomicus“, aber irgendwie auch zum Knuddeln.
Schirrmachers Versuch, formale Logik und ihre Anwendung auf rationale Entscheidungsstrategien für die Finanzkrise verantwortlich zu machen, ist ungefähr so, als wollte man der Schwerkraft unterlassene Hilfeleistung vorhalten, wenn jemand vor den Zug geschubst wird. Seine technophoben Wahnvorstellungen von der unaufhaltsamen Machtergreifung des Algorithmus sind in Wirklichkeit eine Art umgekehrter Technolatrie – er vergöttert seine „Nummer 2“ geradezu dafür, dass sie die Menschheit in ein „Bündel von Daten“ zerlegt. Aber was glaubt er eigentlich, wen er vor sich hat? Nun, wer oder was immer es ist – und das wird bis zum Ende sowieso niemandem richtig klar –, es hat sich von jeder Verankerung in zweckbestimmtem Handeln losgerissen und treibt sein Unwesen in allem, was uns irgendwie virtuell umschmeichelt: Google, Amazon, Börse, Facebook, Big Data.
Aber Technik stellt eine anthropologische Wesenheit dar, sie führt kein vom Menschen entkoppeltes Eigenleben. Selbst eingefleischte Transhumanisten wissen, dass der Mensch sich seine Werkzeuge passend zur eigenen Entwicklung schafft, nicht anders herum. Schirrmachers Ego fällt sogar noch hinter Henri Bergson zurück, der die „schöpferische Evolution“ als einen Impulsgeber des Lebens betrachtete – Schirrmacher sieht im Fortschritt nur den Anfang vom Ende.
Das Buch als endloser Klappentext
Dass einige Rezensenten – zumal diejenigen, die wenigstens das eine oder andere gute Haar an diesem Buch lassen – womöglich nur die Klappentexte gelesen haben, schadet ausnahmsweise nichts. Die wesentlichen Aussagen eines Schirrmacher-Buchs passen notfalls auf eine Serviette. So ähnlich muss man sich den Schaffensprozess wohl auch vorstellen, wenn man den Autor reden hört: Als Herausgeber der FAZ genieße er das Privileg, jederzeit wichtige Politiker und Geistesgrößen zum Lunch treffen zu dürfen – man wollte ihm guten Appetit wünschen, wenn er nicht im selben Atemzug das Ergebnis dieser Mittagessen als „reine Empirie“ bezeichnen würde.
Wer Schirrmachers hastig verfasste und schlecht lektorierte Bücher erduldet, kommt zur immer gleichen Synthese: Schirrmacher deckt nicht die Krise des Intellektuellen in der Gesellschaft auf – er ist selbst ihr schlagender Beweis. Aus den gründlicher recherchierten Besprechungen von Ego stöhnt es ein ums andere Mal, wie viel stringenter das alles doch bei Joseph Vogl, Hartmut Rosa, Sighard Neckel, Ulrich Bröckling oder Heinz Bude klinge. Dumm nur, dass kein einziger von ihnen in Schirrmachers 33-seitigem Literaturverzeichnis auftaucht, genauso wenig wie Hyman Minsky. Vielleicht gehört es aber einfach nur zum traurigen Los des Feuilletonisten, dass er sich nicht jeden Titel merken kann, über den er mal etwas gelesen hat. Oder im Fernsehen gesehen? Die Spieltheorie, speziell das „Gleichgewicht“ ihres Vordenkers John Nash, und seine Anwendung als Strategie des Kalten Krieges waren schließlich schon im Jahr 2007 Gegenstand des britischen Dokumentarfilms Fuck you buddy von Alan Curtis.
Immerhin weist Schirrmachers Ego überhaupt eine Bibliografie auf, sein voriger Band Payback musste noch ohne auskommen. Wenn man sich sowieso nur dunkel daran erinnert, was in den Quellen stand, ist es auch egal, ob man sie aufführt oder so tut, als käme die Inspiration direkt aus der Luft. Überprüft man einmal kursorisch, was Schirrmacher zur Beweisführung seiner schwindeligen Thesen heranzieht, stellt sich gelegentlich heraus, dass die zitierten Autoren das genaue Gegenteil belegen wollten. Richard Dawkins würde sich wohl verwundert die Augen reiben, fiele ihm auf, dass er fast vierzig Jahre nach The Selfish Gene noch immer als neoliberaler Buhmann verunglimpft wird.
Schirrmachers Feuilleton-Kollege bei der FAZ, Jürgen Kaube, schlägt für Bücher, deren Subjektivität das beobachtete Objekt an die Wand drückt, eine neue Kategorie vor: „Belletristik oder Sachbücher – die Unterscheidung ist zu eng, man sollte eigene Listen für iBooks führen, für Ichmeinmichbücher.“ Die Wirtschaftswoche war schon ganz enttäuscht, dass Kaube das Buch seines Chefs noch nicht dieser Gruppe zugeordnet hat, aber vermutlich will der Mann einfach nur seinen Job behalten.
»Ohne Zweifel links« ist hier gar nichts
Es ist ein Universum des Grusels, das Frank Schirrmacher bewohnt: Vergreisung der Gesellschaft (Methusalem-Komplott), Auflösung der Familie (Minimum), Ende des selbständigen Denkens (Payback), Herrschaft der Homunkuli (Ego) – so sehen die drohenden Schatten an der Wand der Höhle aus. Und er will sich seinen wohligen Schauer von niemandem zerreden lassen: „Wir alle haben doch gelernt, Expertenwissen zu misstrauen“, raunt er ins Publikum des Berliner Maxim-Gorki-Theaters, auf dessen Bühne er an einem Abend im März mit Freitag-Herausgeber Jakob Augstein sitzt. Hier begegnen sich – vor ausverkauftem Haus – zwei gestandene Verschwörungstheoretiker, die sichtlich Vergnügen aneinander haben. Kunststück, ist Augstein doch der einzige Rezensent von Ego, der das Buch als intellektuell vergnüglich und „ohne Zweifel links“ bezeichnet hat.
Zwar neckt Augstein seinen Gesprächspartner gelegentlich, wenn er Schirrmacher zum Beispiel fragt, ob dieser sich in der Tradition von Herbert Marcuse sehe – allgemeines Kichern im Saal. Im Wesentlichen aber ist man sich einig. Für den einen sind „Gegenöffentlichkeiten“ wie sein Wochenblatt Der Freitag ein Ding der Unmöglichkeit, weil die „flächendeckende, gutgelaunte Macht des herrschenden Arguments“ sie verhindert. Dem anderen fällt auf, dass die „Nanosekunden immer kleiner“ werden. Eine Sottise jagt die nächste, und am Ende haben sich die beiden gegenseitig so sehr in Fahrt gebracht, dass sie gemeinsam den „freiwilligen Verlust der Souveränität“ beklagen. Na klar, den der Politiker natürlich.
Wimmelbilder der Entfremdung
Wie wenig das alles trägt, merkt ein Herr im Parkett an, der am Ende des Abends etwas umständlich, aber hartnäckig nachfragt, wem denn dieser Ökonomismus nun eigentlich nütze? Cui bono, also, aber das interessiert Schirrmacher nun wirklich nicht: „Ich gebe Ihnen ein Beispiel aus meiner Welt“, beginnt die zögerliche Antwort, bevor er sich erneut in die Beschreibung einer wildgewordenen, zweck- und absichtslos verselbständigten Rationalität flüchtet. Besser kann man gar nicht unterstreichen, wie groß der Unterschied zwischen dem brüchigen Gedankengebäude von Ego und der Wirklichkeit ist.
„Ohne Zweifel links“ ist an alledem gar nichts. Im Gegenteil: Die permanente Verwechslung von Ursache und Wirkung ist ein Indiz für den unerschütterlichen Kulturpessimismus, mit dem sich rechte Intellektuelle gern schmücken. Geschenkt, dass sich hier mal ein bürgerlicher Kommentator zu der Erkenntnis durchringt, der Markt regele wohl doch nicht alles mit Zauberhand. In Schirrmachers Weltsicht entsteht daraus keine Kapitalismuskritik. Ego ist ein Wimmelbild der Entfremdung, eine Doomsday-Phantasie irgendwo zwischen „Terminator“ und Oswald Spengler. Problematisch wird es, wenn die tatsächlich linke Öffentlichkeit vor lauter Entzücken über den vermeintlichen Seitenwechsel von Autoren vergisst, deren Thesen abzuklopfen. Da passiert es dann schon mal, dass sich die SPD-Bundestagsfraktion in ihrem Facebook-Auftritt über Gertrud Höhlers Kritik an Angela Merkel freut – obgleich diese die Politik der Kanzlerin allen Ernstes als eine Art Fortsetzung der FDJ mit anderen Mitteln beschreibt.
Was Höhler für die Politikwissenschaft verkörpert, ist Schirrmacher als Technikphilosoph. Gerade Quereinsteiger halten sich häufig für unbesiegbar, dabei haben sie bloß den Diskurs verschlafen: „Schirrmacher ist wie einer, der die Fahne in den eroberten Hügel rammt, wenn die Schlacht lange vorbei ist“, sagt einer seiner Kritiker. Nun könnte man versuchen, es ästhetisch ansprechend zu finden, dass die Fahne lustig im Wind flattert. Aber dann müsste man gnädig über Schirrmacher-Sätze wie diesen hinwegsehen: „Und gäbe es heute einen literarischen Dadaismus von Rang, er würde den Menschen als Schachspieler porträtieren, der Poker spielt.“ Das ist auf so vielen Ebenen Blödsinn, dass man gar nicht mehr weiß, wo man anfangen soll.
Müssen wir uns trotzdem Sorgen machen, dass Leser dem Ego des Herrn Schirrmacher folgen könnten? Die Gefahr liegt darin, dass der Einfluss konservativer Autoren im Zweifel immer größer ist als die Brauchbarkeit ihrer Theorien. Probleme zu beschreiben, ohne diejenigen zu benennen, die dafür verantwortlich sind, und stattdessen den allgemeinen Niedergang von Moral und Anstand zu beklagen – das klappt leider immer. Die Methode eignet sich gleichermaßen für die Geißelung des seelenlosen High-Frequency-Tradings wie zur Argumentation gegen den Bau einer Moschee oder für den politischen Vorrang des Juchtenkäfers.
Dem Promigrübler geht die Puste aus
Was Schirrmacher in Ego widerfährt, ist symptomatisch für eine ganze Klasse bourgeoiser Promigrübler: Sie greifen zu archaischen Denkmustern wie nach einem Strohhalm, um unter dem Brackwasser der verflüssigten Organisationsstrukturen noch Luft zu bekommen. Aber natürlich geht ihm die Puste trotzdem aus. Nach fast dreihundert Seiten panischem Hin- und Hergehetze zwischen Frankensteins Monster und der „Ökonomie des Geistes“ kann er sich nur noch wenige Zeilen der Ermunterung abringen. Um den Ausweg aus all den zutiefst deprimierenden Dilemmata von Ego zu weisen, muss am Ende der arme Paul Valéry herhalten. Bloß: Das Zitat „Il avait tué la marionette“, die Charakterisierung des ohne Gestik sprechenden Monsieur Teste, hat überhaupt nichts mit dem Inhalt des Buches zu tun – und Monsieur Teste mit dessen Autor noch viel weniger. „La bêtise n’est pas mon fort“ könnte der jedenfalls nicht für sich in Anspruch nehmen.
Worin genau der Vorteil liegen soll, sich wie Valérys Antiheld der Kreatürlichkeit zu entledigen, wird im Lichte Schirrmachers unablässiger Klage über den Verlust des eigentlich Menschlichen nicht vollständig deutlich. Aber was soll’s. Von Valéry stammt schließlich auch der Satz: „L’abîme de l’histoire est assez grand pour tout le monde“: Im Abgrund der Geschichte haben alle Platz, auch Herr Schirrmacher.