Vom Fluch der Sicherheit
Seit dem Jahr 2004 versperren 43 Poller die Zufahrt zur britischen Botschaft in Berlin – eine Reaktion auf Bombenanschläge gegen britische Einrichtungen in Istanbul. Alle Anfragen, sie für den Innenstadtverkehr wieder zu öffnen, scheiterten an einer diffusen Gefährdungsanalyse. Kein Entscheidungsträger will sich als erster bewegen, dabei kommt selbst die amerikanische Botschaft gleich um die Ecke ohne Straßensperrungen aus.
Die Folgen politischer Reaktionsmuster zur Eindämmung neuer Risiken kennt heute jeder Fluggast. Das Verbot der Mitnahme von mehr als 100 Millilitern Flüssigkeit an Bord schränkt die Servicequalität bei Flugreisen ein, ist aber kaum sicherheitsrelevant. Dennoch kann sich niemand dazu durchringen, die Regelung zurückzunehmen. „Eine behördliche Entscheidung zu verändern oder gar aufzuheben ist erheblich schwieriger, als sie in der Entstehungsphase zu beeinflussen“, schreibt der pensionierte Sicherheitschef des Frankfurter Flughafens, Volker Zintel in dem Sammelband. Damit umreißt er zugleich die Aufgabe, der sich Herausgeber und Autoren des Buches gestellt haben: Demokratische Sicherheitspolitik soll auf subjektive Sicherheitsbedürfnisse eingehen, muss sich aber der Auseinandersetzung stellen, ob Maßnahmen tatsächlich sinnvoll sind.
Der Sammelband versteht sich als ein „heterogener Expertendialog“ zwischen Wissenschaftlern und Praktikern aus sechs Themenfeldern: Terrorismus, Cybersecurity, Energie, Gesundheit, Wirtschaft und Menschenrechte. Der Bereich Cybersecurity ist mit nur zwei Beiträgen unterrepräsentiert, in Wirklichkeit reflektiert dieses Gebiet den Forschungsansatz am besten. Sandro Gaycken und Myriam Dunn Cavelty unterstreichen, dass in ihrem Forschungsfeld weder die Risikowahrnehmung in einem vernünftigen Verhältnis zur tatsächlichen Bedrohung steht, noch Sicherheit auf dem derzeitigen Niveau der Technik überhaupt möglich ist. Vermeintlich drohende Cyberkatastrophen führen zu einem gesellschaftlichen Daueralarm mit „unguten Nebeneffekten“, so Dunn Cavelty. Die Politik stürze sich auf die Eindämmung von Cyberwar-Risiken, ohne dass diese sich jemals in messbarem Umfang manifestiert hätten. Aus der Angstmache entstehe ein „sinnstiftendes Referenzsystem“, in dem jede Hackerattacke als Vorbote der Apokalypse interpretiert werden kann, mit entsprechend radikalen Gegenmaßnahmen, die es zu ergreifen gilt.
Die derzeitige IT-Architektur ist defekt
Den wirklichen Risiken rückt man derweil nicht zuleibe, weil der Aufwand gigantisch wäre. Gaycken macht die IT-Wirtschaft selbst dafür verantwortlich: „Inhärent unsichere Systeme“ würden sogar dort eingesetzt, wo dringend von ihnen abzuraten sei. Obwohl die derzeitige IT-Architektur im Hinblick auf Sicherheitsanforderungen schlicht defekt ist, wird sich niemand zu teuren Neuentwicklungen aufraffen. Zumindest nicht, solange die Kontrollierbarkeit digitaler Risiken dank Cyberabwehrzentren oder Virenscannern scheinbar gewährleistet ist.
Das ist der Fluch der Sicherheitsgesellschaft. Den sicherheitspolitischen Herausforderungen wird nur mit einem „institutionellen Vorrat an Lösungen“ begegnet, heißt es im Beitrag von Ulrich Schneckener zur Terrorismusbekämpfung. Der Maßnahmenkatalog kann komplexen Sicherheitsanforderungen insbesondere dann nicht gerecht werden, wenn sie völlig neuartig sind: „Man schützt sich gegen jene Szenarien, gegen die man sich leicht schützen kann, unabhängig davon, wie wahrscheinlich oder bedrohlich diese sind.“ Andere Autoren machen dieselbe Beobachtung: Ob Videoüberwachung auf Bahnhöfen, Vorratsdatenspeicherung oder Impfstoffvorräte – die Sicherheitspolitik hat selbst auf vermeintlich kalkulierbare, bekannte Risiken wie Terror oder Pandemien keine adäquate Antworten.
Die Forscher sprechen von „Versicherheitlichung“: Eine Bedrohung hängt nicht so sehr davon ab, ob sie objektiv messbar ist. Vielmehr muss sie in der öffentlichen Wahrnehmung als Gefahr angesehen werden. Dies geschieht durch „Sprechakte“. Deshalb muss die Sicherheitspolitik dafür sorgen, dass die „gefühlte Sicherheit“ wieder hergestellt werden kann. Wie das Kapitel über gesundheitliche Sicherheit zeigt, ist die Aids-Welle der achtziger Jahre ein positives Beispiel. Gegen Versuche, sie als eine Bedrohung der Gesellschaft darzustellen, der man mit Internierung der Infizierten zu begegnen habe, setzte sich eine Aufklärungsstrategie durch. Aus der Verbreitung von HIV wurde eine gesundheits- und keine sicherheitspolitische Aufgabe abgeleitet. Damit konnte Aids erfolgreich der „Versicherheitlichung“ entzogen werden, wie Stefan Engert aufzeigt.
Auf »gefühlte Sicherheit« kommt es an
Der deutlichste Unterschied zwischen den kapitelweise behandelten Problemfeldern liegt in der Frage, ob diese „Versicherheitlichung“ zu vermeiden oder wünschenswert ist. Zumindest wäre der abrupte deutsche Ausstieg aus der Kernenergie ohne eine „versicherheitlichte“ Debatte nach dem Unfall in Fukushima undenkbar gewesen. Auch die Autoren der Kapitel über „Human Security“ und über Risiken am Finanz- oder Arbeitsmarkt sind nicht unglücklich darüber, dass die „Versicherheitlichung“ die Durchsetzung der anzustrebenden Verhältnisse vereinfacht. Selten kippt die Stimmung aber so eindeutig wie im Beitrag des Vizepräsidenten des Bundeskriminalamts Jürgen Maurer: Sicherheit und Freiheit gleichzusetzen traut sich außer ihm keiner der Autoren.
Am Ende des Sammelbandes bleiben wenige Wünsche offen. Außer vielleicht, das Forschungsprojekt hätte zusätzlich Juristen eingeladen, um mit Beiträgen zur Sicherheitsgesetzgebung noch einige Leitplanken für eine gesunde Balance zwischen Ver- und Entsicherheitlichung zu setzen.
Christopher Daase, Stefan Engert und Julian Junk (Hrsg.), Verunsicherte Gesellschaft – überforderter Staat: Zum Wandel der Sicherheitskultur, Frankfurt am Main/New York: Campus 2013, 391 Seiten, 29,90 Euro