Der Menschheitstraum bleibt unerfüllt
In unserer Welt gehört Krankheit ganz selbstverständlich zum Leben. Jeder war schon mal krank, wenn auch vielleicht nicht schwer oder lebensbedrohlich. Wir unternehmen große Anstrengungen, Krankheiten zu bekämpfen und Menschen zu heilen. Gesundheit ist das Ziel aller ärztlichen Kunst und mittlerweile einer ganzen Gesundheitsindustrie:
Der Ansatz, Krankheiten nicht erst nach ihrem Ausbruch zu heilen, sie stattdessen ganz zu verhindern und damit Gesundheit zu erhalten, scheint da nur konsequent. Weg vom rein kurativen Ansatz und hin zum präventiven Handeln wollen wir schon lange. Vor allem bei Krankheiten, für die wir keine echte Heilung bieten können, bei denen wir bestenfalls die Symptome bekämpfen und die Auswirkungen lindern können, erscheint das als vielversprechender Weg.
Mit der Sequenzierung des menschlichen Erbguts und dem zunehmenden Wissen um genetische Grundlagen von Erkrankungen scheint ein weiterer Ansatz ebenso verlockend: der prädiktive. Mit Hilfe eines genetischen Tests wird überprüft, ob eine genetische Veranlagung für eine bestimmte Erkrankung vorliegt. Krankheiten verhindern, statt sie zu lindern ist das Ziel dieser vorhersagenden Medizin. Sie ermöglicht es den Betroffenen, sich mit der Krankheit frühzeitig auseinanderzusetzen; möglicherweise kann man diesen Menschen gezielt Vorsorgemaßnahmen angedeihen lassen, die sich die Krankenkassen für alle Versicherten nicht leisten können.
Das Versprechen klingt gut. Zu gut
Gleichzeitig haben die Betroffenen die Chance, ihr Verhalten so zu verändern, dass zusätzliche Risikofaktoren durch Umwelt und Ernährungsverhalten minimiert werden - diese sind mindestens so entscheidend für den Ausbruch der Erkrankung (und dabei vom Einzelnen beeinflussbar) wie die genetischen Voraussetzungen, die man in die Wiege gelegt bekommen hat. Die Kombination von prädiktiver und präventiver Medizin, von Vorhersage und Vorbeugung, könnte gerade bei bisher nicht wirklich therapierbaren Erkrankungen eine Chance bedeuten.
Das klingt gut. Zu gut, denn es hört sich fast wie die Erfüllung eines Menschheitstraumes an. Bei näherem Hinsehen tauchen Fragen auf, die nachdenklich machen. Zum Beispiel diese: Wie fühlt sich jemand, dem nach einem Test eröffnet wird, er habe eine hohe genetische Disposition für eine Krankheit? Krank? Gesund? Noch gesund? Oder noch nicht krank? Die Grenze zwischen Gesundheit und Krankheit, bislang an der An- oder Abwesenheit von erfahrbaren Krankheitssymptomen festzumachen, verschwimmt - sie könnte sich zunehmend ganz auflösen.
Was bedeutet eine hohe Wahrscheinlichkeit für den Einzelnen? Wie geht jemand mit der Erkenntnis um, dass er mit einer 80-prozentigen Wahrscheinlichkeit erkranken wird - was für ihn individuell ja auch die Möglichkeit bedeutet, gar nicht zu erkranken? Und wie wirkt sich das neue Wissen auf die Lebensqualität des (Noch-nicht-)Patienten aus? Gesetzt den Fall, er kann den Ausbruch der Krankheit durch sein Verhalten beeinflussen, bedeutet das eine Zunahme der Eigenverantwortung am Krankheitsgeschehen in bisher nicht gekannten Ausmaß.
Wenn nicht freiwillig, dann gar nicht
Das führt zu der Frage, welche Konsequenzen es hat, wenn diese begünstigenden, vom Arzt empfohlenen Verhaltensweisen nicht angenommen werden und es zum Ausbruch einer Krankheit kommt? Werden die neuen Möglichkeiten gesellschaftlichen Druck zur Folge haben, gesundheitsförderndes Verhalten an den Tag zu legen? Und: Wie wirkt sich das alles auf ein solidarisch finanziertes Gesundheitswesen aus? Für solch ein Versicherungssystem könnten sich individualisierte Erkrankungsrisiken, die immer genauer vorherzusagen sind, als Sprengsatz erweisen.
Fragen, Risiken, Nebenwirkungen. Dennoch: Der prädiktive Ansatz birgt hohes Potenzial, Gesundheit in größerem Umfang als bisher zu erhalten und Lebensqualität zu bewahren. Eine Voraussetzung dafür, dass die Möglichkeiten im Sinne des Patienten genutzt werden können, ist die Freiwilligkeit bei der Durchführung der Tests. Weiter ist nötig, dass eine Beratung im Sinne einer Begleitung angeboten wird, so dass der Betroffene das Testergebnis positiv nutzen kann. Der Test muss durch einen Arzt mit einem qualitätsgesicherten Testsystem durchgeführt werden. Dafür muss schnell ein politischer Rahmen gesetzt werden, um - auch im Hinblick auf Missbrauchsmöglichkeiten dieser sehr persönlichen Daten - keine rechtlichen Grauzonen entstehen zu lassen.
Die Fragen der Zukunft sind komplexer
Erste Pilotprojekte laufen. So beginnt derzeit ein Programm der medizinischen Hochschule in Hannover, das zukünftige Hämatochromatose-Patienten finden soll. Hämatochromatose, eine vererbbare Eisenspeicherkrankheit, ist gut behandelbar. Die Teilnehmer am Screeningprogramm haben deshalb einen unmittelbaren Vorteil vom Testergebnis. Bei den Betroffenen bewirkt ein verändertes Gen, dass das mit der Nahrung aufgenommene Eisen nicht normal verwertet werden kann. Dadurch sind höhere Eisenwerte im Blut vorhanden. Langfristig lagert sich das Eisen in den Organen ab und kann unter anderem zu Herzschwäche, Leberkrebs, Diabetes und Nierenversagen führen. Für den Test wird ein wenig Blut benötigt, und es wird mit dem Test nur ein Merkmal getestet. Das erleichtert die Aufklärung der Patienten - bei zunehmend komplexeren Therapie- und Diagno-sesystemen wird sie kein so leichtes Unterfangen mehr sein. Die Untersuchungen werden von einer Krankenkasse finanziert, ohne dass diese Zugriff auf die Ergebnisse hat. 10.000 Versicherte können sich freiwillig testen lassen. Experten nehmen an, dass von je 400 Menschen einer die entsprechenden Erbanlagen trägt.
In diesem Fall scheint vieles überzeugend einfach, auch wenn zum Beispiel die Finanzierung des Programms durch eine Krankenkasse nicht unumstritten ist. In Zukunft werden auch komplexere Fragestellungen untersucht. Deshalb brauchen wir einen gesetzlichen Rahmen, damit der Traum von einer besseren Medizin nicht zum Albtraum gerät. Denn eines ist sicher: Prädiktivmedizin ist eine neue Form der Medizin, aber keine, die eine schöne heile (Medizin-)Welt erschafft.