Der Netzwerkeffekt: Europa in der Welt
Colin Crouch hat in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 14. August 2012 einen wichtigen Beitrag zur Zukunft Europas veröffentlicht. Der britische Politikwissenschaftler weist darauf hin, dass mit dem Überleben des Euro weit mehr auf dem Spiel steht als Geld und Wohlstand. Es geht um eine grundsätzliche Weichenstellung des globalen politischen Regelwerks.
Crouch zufolge sind die Staaten in der globalisierten Ökonomie von heute in unterschiedliche Regulierungsnetzwerke eingebunden, die systematische „Netzwerkeffekte“ erzeugen. Dieser Begriff stammt aus der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur und bedeutet, dass positive externe Effekte entstehen, wenn viele Nutzer einen Standard anwenden. Gute Beispiele sind technische Standards, aber auch Software. Wenn alle Menschen Produkte von Microsoft verwenden, dann können sie besser miteinander arbeiten, als wenn jeder sein eigenes Softwaresystem benutzt. Langfristig setzt sich auf vielen Gebieten ein gemeinsamer Standard durch – zulasten anderer Alternativen. In der Nachkriegsgeschichte haben die Vereinigten Staaten das globale wirtschaftliche Regulierungsnetzwerk beherrscht: von der Sprachdominanz über die Rolle des Dollar als Reservewährung bis hin zur Finanzmarktkontrolle.
Wir neigen dazu, Europa permanent aus der Binnensicht zu betrachten. Nimmt man jedoch eine globale Perspektive ein, so wird deutlich, dass mit der EU seit Mitte der achtziger Jahre unbeabsichtigt ein konkurrierendes Netzwerk entstanden ist. Das EU-Netzwerk ist besonders im Bereich von Standardsetzung und Wettbewerbspolitik aktiv. Es gibt zahllose Beispiele für die Unterschiede zwischen der EU und den USA: im Umweltschutz, im Verbraucherschutz, aber auch in der Geld- und der Fiskalpolitik sowie in der Handelspolitik. Die EU setzt andere Standards und andere Prioritäten – und hat in einigen Politikfeldern mittlerweile die Vorreiterrolle der globalen Standardsetzung übernommen. Das Vorsorgeprinzip der EU im Umweltschutz, aber auch im Lebensmittelrecht ist weitreichender als das der USA und gilt heute international als wegweisend. Ebenso wegweisend ist das hart umkämpfte europäische Sozialmodell mit seinen regulierten Arbeitsmärkten und ausgebauten Systemen der sozialen Sicherung.
Die Gemeinschaftswährung ist ein wichtiger Schritt zur Schaffung eines europäischen Netzwerks. Ihre Konsequenzen haben die Erfinder des Euro freilich unterschätzt. Eine notwendige Folge des Euro sind die partielle Aufgabe nationaler Souveränität und die tiefgreifende Transformation der Wirtschafts- und Sozialsysteme innerhalb der Eurozone. Zugleich verhilft die Währung der EU zu dem globalen Gewicht, das sie als dominantes Regulierungsnetzwerk benötigt. Denn es ist nicht ausgemacht, welches Regulierungsnetzwerk sich als nächstes durchsetzen wird. Andere Regionen und Länder neben den USA und China sind ebenfalls dabei, ihre Kräfte zu bündeln. Klar ist jedoch, dass die europäischen Standards ohne das kollektive Gewicht der EU keine Chance haben.
Die europäische Staatengemeinschaft ist nur im Verbund ein Akteur von globaler Bedeutung. Europäische Umweltstandards werden sich nur durchsetzen, wenn die EU weiterhin in der Lage ist, sie für die gesamte EU zu formulieren. Auch wenn die europäischen Länder sich alle gern auf die Rolle der Schweiz zurückziehen würden (also am Rande einer Freihandelszone sitzen und von deren Regulierungen profitieren, ohne die Verantwortung dafür zu übernehmen) – dieser Weg ist versperrt. Der Nationalstaat des 20. Jahrhunderts ist nicht die Alternative zu einem schwächelnden Euro. In vielen europäischen Ländern wird die neue Realität im Rahmen des Umbaus der EU wirtschaftsliberaler und weniger sozialdemokratisch aussehen. Jedoch: Ohne die EU beziehungsweise mit einer angezählten EU würden viele sozialdemokratische europäische Regulierungsstandards im globalen Kontext ganz und gar verloren gehen.
Das alles soll uns nicht mit den Enttäuschungen der jetzigen Krisenbewältigung versöhnen. Die gnadenlose und perspektivlose Behandlung der Schuldnerstaaten bedroht die EU ebenso wie die verschiedenen Ausstiegszenarien aus der Eurozone. Auch rechtfertigt der Netzwerkeffekt nicht jede technokratische Antwort auf politische Probleme. Aber er schärft den Blick auf die Bedeutung der Europäischen Union für den Rest der Welt.