Der neue Zar

Steven Lee Myers zeichnet das Leben Wladimir Putins präzise nach und erklärt zugleich den Wandel Russlands seit dem Ende der Sowjetunion

Wer verstehen will, aus welcher politischen Konstellation der Konflikt zwischen Russland und dem Westen resultiert, sollte sich mit Wladimir Putin beschäftigen. Sein Werdegang, seine Überzeugungen und Entscheidungen stehen im Zentrum der russischen Politik. Dabei handelt es sich um kein neues Phänomen: In seiner modernen Geschichte war Russland stets ein Ort, an dem sich die Macht in den Händen einer Person oder kleinen Gruppe konzentrierte. Russland kennt keine Verfassung, die Politik basiert im Wesentlichen auf persönlichen Netzwerken, nicht auf Institutionen. Wer die Struktur und die Ziele der Herrschaft in Russland enträtseln will, muss sich daher mit dem russischen Machthaber auseinandersetzen. Und zwar nicht etwa deshalb, weil der Autokrat per se eine komplexere Persönlichkeit hätte, sondern weil ihm ganz andere Möglichkeiten offenstehen als westlichen Politikern – und er deshalb von einem anderen Politikverständnis geleitet wird. Kurzum: Die Analyse russischer Politik kommt an Putin nicht vorbei.

Die vom Moskauer Korrespondenten der New York Times vorgelegte Biografie ist weit mehr als eine konventionelle Politikerbiografie. Steven Lee Myers erzählt nicht einfach Putins Lebensgeschichte: von den Hinterhöfen Leningrads über die Ausbildung als Geheimpolizist bis hin zu seinem Aufstieg in den neunziger Jahren. Vielmehr gelingt es Myers, Genese und Wandel des politischen Systems nach dem Ende der Sowjetunion zu erklären. So hilft sein Buch, die politische Kultur des Landes und den inneren Zirkel der Macht im Kreml zu verstehen.

Die Basis des Bandes bilden gründliche Recherchen zur Person Putins und dessen engerem Umfeld. In keinem anderen Buch wird sein Aufstieg so detailliert erzählt und historisch eingeordnet. Myers setzt mit Putins Kindheit im ärmlichen Nachkriegs-Leningrad ein und führt in Putins Zeit als KGB-Agent in der DDR. Beruflich waren die Dresdner Jahre eine Sackgasse; deutlich wird, dass ihn der sowjetische Geheimdienst für einen eher durchschnittlichen Agenten hielt, dem man die Ehre verweigerte, im Westen zu dienen.

Prägende Jahre in der DDR

Dennoch bieten die Jahre in der DDR wichtige Anhaltspunkte für Putins politische Entwicklung. In Dresden erkannte er, wie fragil ein Staat sein kann, der sich aufgibt und seine Repräsentanten nicht mehr schützen kann. Putin nahm die „friedliche Revolution“ nicht als Selbstbefreiung aus der Unterdrückung wahr, sondern als Selbstermächtigung eines Mobs, der die legitime Ordnung zerstörte. Man darf annehmen, dass der junge Offizier die „chinesische Lösung“ vorgezogen hätte. Jedenfalls war er enttäuscht, als sich die sowjetische Garnison weigerte, die Dresdner Tschekisten vor aufgebrachten Bürgerrechtlern zu schützen. Er musste das selbst tun – ein Versagen des sowjetischen Staates, das Putin nicht vergessen würde. Im Jahr der deutschen Einheit saß Putin längst nicht an den Hebeln der Macht. Als widerwilliger Zeuge des europäischen Umbruchs kehrte er bald in seine zerfallende Heimat zurück. Dort sah er sich keineswegs den Problemen ausgesetzt, die gewöhnliche Russen damals zu bewältigen hatten: Putin fiel weich und konnte schnell aufsteigen. Als Mitglied der Entourage von Bürgermeister Anatolij Sobtschak stieg Putin in seiner Heimatstadt bald ins postsowjetische Establishment auf. Der angebliche Verlust, den Putin heute so gerne beschwört, war in Wirklichkeit eine Karrierechance: Putin lernte nicht nur die Regeln des neuen Russlands, sondern gestaltete diese zunehmend mit. Nach der Abwahl seines Mentors Sobtschak berief man Putin nach Moskau, wo sich sein wundersamer Aufstieg vollzog. Myers Buch schärft den Blick auf diese konstituierende Phase seiner Herrschaft.

Terror, Gewalt und Staatsversagen

Weitgehend vergessen ist, dass Terror, Gewalt und Staatsversagen bereits am Beginn von Putins Präsidentschaft standen: die ungeklärten Anschläge auf Moskauer Wohnblöcke mit hunderten Toten; der erneute Einmarsch ins abtrünnige Tschetschenien; die Katastrophe des Atom-U-Bootes „Kursk“. Ebenso kennzeichnend war der Verzicht auf eine freie und faire Präsidentschaftswahl. Stattdessen wurde Putin mithilfe der Medien und des Staatsapparates per Akklamation ins Amt gehievt. Seine Machtübernahme besiegelte das Ende der Liberalisierung, die unter Michail Gorbatschow so hoffnungsvoll begonnen hatte. Die Reformversprechen blieben Lippenbekenntnisse: Binnen weniger Jahre schuf Putin eine neue autoritäre Wirklichkeit. Die Verhaftung und Enteignung von Michail Chodorkowski sowie die Morde an der Journalistin Anna Politkowskaja und dem Ex-KGB-Mann Alexander Litwinenko waren deutliche Signale, die der Westen geflissentlich ignorierte.

Ohnehin war Putin zunächst ein Glückskind: Mit Hilfe hoher Rohstoffpreise bescherte er den Russen Stabilität und bescheidenen Wohlstand – der Grundstein seiner Popularität. Erst die Wirtschaftskrise 2008 und die Amtsrochade mit Dimitri Medwedew lösten neue Dynamik aus. Der politische Prozess konzentrierte sich nun immer stärker auf Putin selbst. Bis zu seiner Rückkehr in den Kreml hielt der schöne Schein der Stabilität jedoch an. Das Regime begann sich erst zu radikalisieren, als die landesweiten Proteste von 2011/12 und die sinkende Popularität des Präsidenten die Herrschenden allmählich in Aufruhr versetzten.

Erfolg suchte Putin nun auf der außenpolitischen Bühne. Der Konflikt mit dem Westen, die Annexion der Krim, der Einmarsch in die Ost-Ukraine und die Kampagne in Syrien dienen vor allem einem Ziel: die Russen von der gescheiterten Modernisierung, der katastrophalen Wirtschaftslage und der Korruption abzulenken. Um seine prekäre Macht zu sichern, setzt Putin seit 2014 auf die Mobilisierung mittels kontrollierter Massenmedien.

Aus Dresden 1989 und den Maidan-Protesten hat Putin seine Schlüsse gezogen: Einen liberalen Umbruch in Russland und der postsowjetischen Welt will er um jeden Preis verhindern. Stattdessen sucht er die Konfrontation mit dem Westen. Über Russland hinaus setzt sich Putin als Schutzpatron autoritärer Herrscher in Szene; seine Intervention in Syrien liegt ganz auf dieser Linie.

Heute regiert die Geheimpolizei

Myers bietet wertvolle Einblicke in die verschlossene Welt eines Offiziers, der den Geheimdienst verließ, um Politiker zu werden, der es aber nicht vermochte, aus der Wertewelt eines KGB-Agenten auszubrechen. Er zeigt, wie ein postkommunistisches Regime funktioniert, in dem eine Säule des kommunistischen Parteistaates die Macht an sich gerissen hat: Heute regiert die Geheimpolizei Russland, und Putin verkörpert diese Machtkonstellation. Der Westen – allen voran Deutschland – hat allen Grund, seine Ostpolitik zu überdenken und sich aus alten Denkschablonen zu lösen, um die Welt der russischen Herrschenden besser zu verstehen. Zwei Jahre nach dem Krimschock sind wir noch immer weit entfernt von einer konzisen Ostpolitik. Daher sollte Myers’ Buch Pflichtlektüre für alle sein, die sich zu Russland und zur Ostpolitik zu Wort melden: Es beschreibt den Kern eines Herrschaftssystems, das sich durch die Opposition zu westlichen Werten definiert.

Steven Lee Myers, The New Tsar: The Rise and Reign of Vladimir Putin, London / New York: Simon & Schuster 2015, 592 Seiten, 21,80 Euro

Im April erscheint das Buch auch auf Deutsch.


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