Der Pragmatismus in der Krise: Brauchen wir eine Renormativierung der Politik?



Am Anfang der Berliner Republik stand das Ende der Ideologien. Nach dem Zusammenbruch des Ost-West-Konfliktes wurde das Wort vom „Ende der Geschichte“ zur Chiffre einer Selbstgewissheit, dass zumindest auf dem Feld politischer Normen die letzte Schlacht geschlagen ist. Der Politik blieb die Aufgabe einer sozialtechnischen Gestaltung im Zeichen von Funktionalität und Effizienz. In den westlichen Industrienationen hatten die Pragmatiker Konjunktur. Inzwischen vertraten auch die Linksparteien mit Tony Blair, Bill Clinton, Göran Persson und dann auch Gerhard Schröder ein Politikmodell, dass nicht viel mehr als wirtschaftliche Prosperität als Ergebnis einer Liberalisierung des übersteuernden Sozialstaates und der Konsolidierung der Staatsfinanzen versprach. Voraussetzung hierfür ist der Bruch mit einer Linken, deren Wertekanon sich vor allem an individuellen Versorgungsbedürfnissen und -ansprüchen ausrichtete. Diese Entwicklung ist wohl die markanteste Veränderung im Übergang von der Bonner zur Berliner Republik.

Was der Populärsoziologe weismachen wollte

Zunächst war die Zuversicht, die man mit dem Regierungswechsel und dem Abschied von der rheinischen Kleinmetropole kultivierte, allzu sehr ein Wunschdenken oder doch zumindest ein Zweckoptimismus. Wie eine Parodie klingt heute die These des Populärsoziologen Ulrich Beck, nach dem Zeitalter des „Entweder-Oder“ breche nun eine Epoche des „Sowohl-als-auch“ an. Das passte genau zum Credo des Wechsels: „Innovation und Gerechtigkeit“, Schröder und Lafontaine – Aufschwung ohne Blut, Schweiß und Tränen.


Bis heute zieht sich der quälende Abschied von einem Machbarkeitsoptimismus und einer Gefälligkeitspolitik, die uns im rheinischen Kapitalismus der Bonner Republik fast selbstverständlich geworden war. Es ist sehr viel argumentative Mühe sowohl von den Politikern als auch von den ihnen zur Seite stehenden Theoretikern darauf verwandt worden zu begründen, warum es nicht nur finanziell, sondern auch politisch und ethisch geboten ist, sich von dem hohen Versorgungsniveau zu verabschieden. Besonders mit dem Hinweis auf die Verantwortung gegenüber künftigen Generationen ist unter dem Stichwort der Nachhaltigkeit im Bewusstsein der Bevölkerung einiges bewegt worden: Eine paternalistische Linke, deren Verteilungspolitik de facto immer auf Verschuldung aufbaute, hat ihre maßgebende normative Position, die sie für Willy Brandt bis Norbert Blüm in der Bonner Republik besessen hat, wohl endgültig verloren.


Trotz dieser Fortschritte im politisch-normativen Koordinatensystem will sich eine Siegeszuversicht der ideologisch entschlackten Modernisierer nicht richtig einstellen. In jüngster Zeit sind, obwohl die massive Ablehnung der Bevölkerung gegenüber einer Kürzung von Ansprüchen etwas gebrochen scheint, latente Krisensymptome des Pragmatismus zu spüren. Hinter der von der Politik verordneten und den Eliten inzwischen einhellig unterstützten Ernüchterungskur für die bundesdeutsche Gesellschaft stand die Hoffnung, dass sich nach dem Tal der Tränen eine prosperierende und neu erstarkte Gesellschaft auftun werde, die sich – wenn man ehrlich ist – doch möglichst nicht allzu sehr von dem Deutschland unterscheiden sollte, wie wir es bis in die neunziger Jahre gewohnt waren.


In jüngster Zeit jedoch machen sich auch unter den Reformbefürwortern Zweifel daran breit, dass die Liberalisierung der Arbeitsmärkte, die Senkung der Staatsquote und ein aktivierender Sozialstaat diejenige Prosperität und Zustimmungsfähigkeit hervorbringt, mit der man gerechnet hatte. Die Beobachtungen geben Anlass zur Beunruhigung: Das amerikanische Job-Wunder, das doch unterschwellig als Modell dafür galt, dass ein Wirtschaftsliberalismus Vollbeschäftigung möglich macht, neigt sich dem Ende zu. Die demografische Entwicklung ist in ihrer Wirkung so gravierend, dass jede schwer erkämpfte Einsparung von den Effekten der Bevölkerungsalterung sehr schnell verschlungen wird.

Jetzt sieht sich auch die Mittelschicht bedroht

Nachdem bisher vor allem niedrig qualifizierte Arbeit ins Ausland abgewandert ist, sieht sich nun auch die Mittelschicht von der Globalisierung bedroht. Und schließlich scheint sich auch noch eine neue ideologische Front aufzutun. Hat man bislang geglaubt, man müsse nur die wohlfahrtsstaatliche Anspruchsmentalität überwinden, entsteht nun in Gestalt einer populistischen Rechten eine neue politische Herausforderung, die radikaler und jünger ist als die linke Opposition.

Die intellektuelle Begleitmusik schlägt in der Ahnung eines möglichen Scheiterns der Konsolidierungspolitik vorsorglich schon einmal eine andere Tonlage an. Statt sich einzugestehen, dass die Hoffnung auf schnelle oder zumindest mittelfristig erkennbare Erfolge eines Dritten Weges oder einer Neuen Mitte allzu optimistisch war, wird geschimpft – inzwischen auch über mangelnde Visionen, nicht mehr nur über die schlechte Vermittlung und die handwerklichen Fehler der SPD-geführten Regierung. Zyniker werden behaupten, jetzt wird auch die Bildungsschicht langsam nervös. Bevor das „Gürtel enger schnallen“ auch den beamteten Professor trifft, fordert man lieber, es doch bitte nicht zu weit zu treiben mit der neoliberalen Entschlossenheit.

Steht uns eine neue Ideologisierung ins Haus?

Allerdings, welche Beweggründe jeweils auch hinter den jüngsten Kritiken an der großen Koalition der Ideologie- und Visionslosigkeit stehen mögen: Gemeinsam bringen sie doch die Befürchtung zum Ausdruck, dass die Probleme des deutschen Staates Dimensionen annehmen könnten, die nicht nur radikale finanzielle Brüche notwendig machen, sondern auch Veränderungen der politischen Kultur mit sich bringen werden.

Es wäre vermessen, aus dem zunächst latent zu spürenden Bedarf an kollektivem Sinn und überindividueller Wertorientierung eine Prognose abzuleiten. Extrapoliert man aber die finanziellen und strukturellen Bedingungen unserer Gesellschaft auch nur wenige Jahre in die Zukunft, dann ist kaum noch erkennbar, wie das Galoppieren der Staatsverschuldung und eine Zuspitzung der Verteilungskämpfe zu bremsen sein soll. Eine ideologiefreie, technokratische Politik wird, wenn dies eintritt, nicht die Kraft besitzen, die notwendigen Härten durchzusetzen. Dass der Berliner Republik nach der pragmatischen Phase eine Renormativierung der Politik, unter Umständen eine neue Ideologisierung ins Haus steht, ist nicht mehr auszuschließen.

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