Der Schabowski-Moment



Die Bundeskanzlerin hat ein Kommunikationsproblem – diese These hört man immer wieder. Sie habe ihre Flüchtlingspolitik längst geändert, aber die Öffentlichkeit bekomme das irgendwie nicht mit. In Wirklichkeit hat nicht nur Angela Merkel ein Kommunikationsproblem, sondern die gesamte deutsche Politik. Und neu ist das auch nicht.

Wenn die britische Regierung eine Botschaft übermitteln will, dann meistens so: Ein Spin Doctor winkt in Westminister ein paar Journalisten vom Balkon zusammen, von dem aus die Presse den Plenarsaal beobachtet. Diese scharen sich dann im Flur der angrenzenden Moncrieff’s Bar in einem Halbkreis um den Pressesprecher. Der Flur ist der ideale Ort dafür, weil er die akustische Reichweite begrenzt und der Sprecher gut überblickt, wer mithört und wer nicht.

Das deutsche Pendant für ein solches Gespräch findet in der Bundespressekonferenz (BPK) statt, einem riesigen Raum mit sehr hoher Decke, in dem jede Stimme weit trägt. Die Sprecher der jeweiligen Ministerien reihen sich auf einer Bühne nebeneinander auf wie die Gruppe Kraftwerk bei ihren Konzerten; die Journalisten sitzen im Publikum und melden sich wie Schüler im Klassenzimmer.

Das deutsche System ist in vieler Hinsicht fairer. In der BPK ist die Presse Herr des Hauses, anders als in Westminster kann die Regierung kritische Geister nicht einfach von Informationen ausschließen. Jeder Journalist, der den BPK-Mitgliedsbeitrag bezahlt, hat Fragerecht.

Es gibt aber auch Nachteile. Da jede Regierungspressekonferenz für die Sprecher ein Auswärtsspiel ist, sind sie misstrauischer. Oft reagieren sie pikiert auf provokante Fragen, als wäre es eine Zumutung, dass sie hier überhaupt mitmachen müssen. Harte Fragen können zwar gestellt, müssen aber nicht beantwortet werden. Die Sprecher würgen sie oft ab oder schieben sie rhetorisch auf die lange Bank, wie es Steffen Seibert jüngst tat, als er die umstrittene Armenienerklärung des Bundestags als „nicht bindend“ bezeichnete und gleichzeitig behauptete, von einer Distanzierung könne „überhaupt keine Rede sein“. Und wenn sich ein Sprecher doch einmal vergaloppiert, kann er immer noch behaupten, die Position des Ministers missverstanden zu haben. Die BPK trägt deshalb oft Züge eines absurden Theaters – allerdings eines Theaters, in dem die Regierung letztlich Regie führt. Die ganze Veranstaltung scheint darauf angelegt zu sein, die Wiederholung der traumatischsten Kommunikationsniederlage der deutschen Geschichte zu vermeiden: Günter Schabowskis Pressekonferenz am 9. November 1989.

Das wirkliche Kommunikationsproblem der deutschen Politik liegt aber nicht darin, dass sie die Kommunikation mit der Presse nicht im Griff hat, sondern dass sie die modernen Kommunikationswege nicht beherrscht. Spätestens seit der Griechenlandkrise sollte klar sein, wie groß der Nachholbedarf hierzulande ist: Während sich Deutschland gegen Griechenland in den Brüsseler Verhandlungsräumen durchsetzte, gewann Griechenland die Debatte im öffentlichen Raum.

Yanis Varoufakis mag auf diplomatischer Ebene als Verlierer in die Geschichtsbücher eingehen, aber medial gelang es ihm, weitaus mehr Leser und Hörer zu erreichen als die deutsche Regierung. Der griechische Finanzminister bespielte virtuos internationale Zeitungen, Fernsehsender, Facebook und Twitter. Auch sein Buch erreichte die Bestsellerlisten.

Wie behäbig die deutsche Regierung neue Kommunikationskanäle nutzt, zeigte sich, als vor einem Jahr ein Tweet des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) einen Schabowski-Moment auslöste. Das Amt verkündete darin die faktische Aufhebung des Dublin-Verfahrens für syrische Flüchtlinge. Die Verantwortlichen wollten damit die Asylbürokratie entlasten, machten damit aber Deutschland in kürzester Zeit zum Hauptziel für tausende von Flüchtlingen.

Twitter ist ein gutes Symbol dafür, was offene Kommunikation heutzutage abverlangt. Das Problem mit dem Tweet des BAMF war nicht, dass es ihn gab, sondern dass die Regierung nicht in der Lage war, diesen Informationsfluss zu korrigieren, ja dass scheinbar niemand im Innenministerium überhaupt von ihm wusste. Wem schon Twitter zu entblößend ist, der wird in der Zukunft erst recht Probleme haben, seiner Sache eine Stimme zu verleihen.

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