Der Schock aus Schottland
Wir befinden uns im Jahr 2016 nach Christus. In ganz Europa ist die linke Mitte in der Krise. In ganz Europa? Nein. Eine unbeugsame Regionalpartei in den Bergen des Nordens hört nicht auf, mit einem eigentümlichen links-patriotischen Ansatz Wahlen zu gewinnen. Eine Fantasievorstellung? Mitnichten. Sondern Wirklichkeit für die Scottish National Party (SNP), die bei den schottischen Parlamentswahlen am 5. Mai auf einen fulminanten Wahlsieg zusteuert – auf Kosten der Labour Party.
Laut Umfragen dürfte die SNP rund 60 Prozent der Zweitstimmen auf sich vereinen und könnte sage und schreibe jeden einzelnen Wahlkreis für sich gewinnen. Keine kleine Leistung in einem Fünf-Parteien-System. Die derzeitige schottische Regierungspartei steuert damit auf eine Fortsetzung der schon neun Jahre andauernden Regierungsverantwortung in Edinburgh zu.
Nach Gründung des schottischen Parlaments 1999 saßen die schottischen Nationalisten zunächst in der Opposition. Im Jahr 2007 gelang es ihnen, eine Minderheitsregierung zu bilden, die 2011 nach einem erdrutschartigen Sieg zu einer Mehrheitsregierung ausgebaut wurde. Zudem regiert die Partei in zahlreichen schottischen Gemeinden, ist mit 56 Abgeordneten im Britischen Parlament in Westminster vertreten und hat 5 Abgeordnete ins Europäische Parlament entsandt.
Angesichts der ansonsten schmerzlich verbreiteten Wahlschlappen von Mitte-links-Parteien stellt sich angesichts dieser Bilanz die Frage nach dem Erfolgsrezept der SNP und danach, wie sie den reichlich heiklen Spagat zwischen nationaler Identitätspolitik und ideologischer Selbstverortung als „social-democratic“ bewerkstelligt. Was also sind die Trümpfe der SNP?
Erstens: Sie ist nicht Labour. Anders als die britische Labour Party ist die SNP auch in den Blair-Jahren nie auf den marktliberalen Dritten Weg („New Labour“) eingeschwenkt. Die Folge: Schottische Studierende zahlen keine Studiengebühren, Privatisierungen der Gesundheitsdienste sind undenkbar, und von umstrittenen Militäreinsätzen wie dem Krieg im Irak hat man sich stets distanziert. Heute fordert die SNP in ihrem Wahlmanifest Ausgabenerhöhungen im Gesundheitssystem, eine Bonussteuer für Banker, das Einstampfen britischer Atomwaffen, eine Erhöhung des Mindestlohns, die Einrichtung eines Fonds für Klimagerechtigkeit, Ausnahmeregelungen in Bezug auf TTIP und eine massive Ausweitung des sozialen Wohnungsbaus. Einwanderer sind im Gegensatz zu Rest-Britannien willkommen. So weit, so links.
Die sich in den vergangenen Jahren vertiefende Identitätskrise der britischen Labour Party kann die SNP auf dem sanften Kissen der Kontinuität als selbstzerstörerisches Spektakel verfolgen. Dabei galt die SNP nicht immer als links. Die 1934 gegründete Partei startete als nationalistisches Projekt, doch in den siebziger und achtziger Jahren vollzog sie nicht zuletzt angesichts verlockender europäischer Strukturfonds einen Schwenk auf einen pro-europäischen Mitte-links-Kurs. In einer eher links tickenden Gesellschaft und angesichts einer spätestens in den Blair-Jahren in die „neue Mitte“ driftenden Labour Party war das der Schlüssel zum Erfolg. Beobachter sprechen von der „Pasokifizierung“ von Labour, die sich die SNP zunutze machte.
Ins Bild passt dabei die öffentlichkeitswirksam zelebrierte Nähe der SNP zu den Gewerkschaften. Formal stehen die britischen Gewerkschaften nach wie vor fest an der Seite von Labour. Doch es rumort. 50 Prozent der organisierten Arbeiterschaft geben regelmäßig der SNP ihre Stimme, heißt es im schottischen Ableger der größten britischen Gewerkschaft Unite. Daher verwundert es nicht, dass die SNP-Regierung die Gewerkschaften umgarnt. Mit dem Dachverband STUC vereinbarte die SNP-Regierung vor einiger Zeit umfassende Konsultationsformate, die seitdem regelmäßig in gemeinsamen Positionspapieren münden. Zugleich aber hat es die SNP vermocht, sich pragmatisch als wirtschaftsnah zu präsentieren. Edinburghs neu gewonnene Kompetenz zur Erhebung der Einkommenssteuer will die SNP behutsam einsetzen. Zwar entlastet sie niedrige Einkommen, verschont aber gleichzeitig auch Großverdiener – eine Mittelposition zwischen Konservativen, Grünen, Liberaldemokraten und Labour im aktuellen Wahlkampf.
Der Zielhorizont heißt Unabhängigkeit
Zweitens: Die SNP steht für eine emotional überzeugende und durchaus konkrete Vision über die Zukunft eines unabhängigen Schottlands. Angesichts dieses den Status quo überwindenden Zielhorizonts schafft es die SNP, sich nach wie vor als Underdog gegen das politische Establishment zu präsentieren, obwohl sie seit einer Dekade selbst an der Macht ist. In der öffentlichen Wahrnehmung ist die SNP deshalb eine Regierung, die zugleich in der Opposition ist. In dieser komfortablen Lage kann sie Erfolge als Eigenleistung und Misserfolge als Konsequenz der Gängelung durch die Tory-Regierung in Westminster verkaufen.
Drittens: Die SNP praktiziert eine im europäischen Vergleich seltene Verbindung sozioökonomischer Positionen der linken Mitte mit einem ungemein populären „civic nationalism“. Im Gegensatz zu europäischen rechts-sektiererischen Regionalparteien und ihrem meist ethnisch hergeleiteten Nationalismus setzt sie auf einen progressiven und inklusiven Verfassungspatriotismus. Dieser ermöglicht es der Partei, auch ideologisch ansonsten disparate Strömungen auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner zu bündeln. So besteht für die SNP kein Gegensatz zwischen Unabhängigkeitsstreben und explizit pro-europäischer Ausrichtung. Nicola Sturgeon, Erste Ministerin Schottlands, sprach in einer viel beachteten Rede Ende Februar in London fast begeistert von einer EU, die „Millionen von Menschen wohlhabender, gesünder, glücklicher und freier“ gemacht habe. Sie hat schon lange erkannt, dass die Bedingungen für ihr Projekt eines unabhängigen Schottlands vorteilhafter sind, wenn Großbritannien EU-Mitglied bleibt. Diese nicht exklusiv-ethnische Identität der SNP spiegelt sich auch in der positiven Haltung gegenüber Einwanderung nach Schottland wider. Im Gegensatz zu allen übrigen Parteien in Westminster plädiert die SNP offen für ein stärkeres Engagement in der Flüchtlingskrise. Dazu passt, dass die Partei auf muslimische SNP-Abgeordnete (und Minister) sowie auf zahlreiche nicht-schottische SNP-Vertreter verweisen kann – Schotten „aufgrund von Neigung und Wohnsitz“, wie es der Spectator vornehm formuliert.
An der Spitze ein Naturtalent
Die Niederlage im Unabhängigkeitsreferendum 2015 erwies sich für die SNP dabei als ein Geschenk des Himmels. Denn die nie da gewesene Politisierung und Mobilisierung der Gesellschaft nach einer mehr als zwei Jahre andauernden Debatte um die schottische Indentität und das überraschend knappe Ergebnis sind noch heute Antriebskraft der Partei. Seither strömen der SNP die Mitglieder zu, ihre Anzahl stieg von 25 000 auf 115 000. Doch sind es eben nicht ausschließlich die Unterstützer der Unabhängigkeit, die die SNP tragen.
Denn die Partei präsentiert sich viertens – weitgehend überzeugend – als kompetent, jung und in weiten Teilen auch als weiblich. Die Haupttriebkraft dieser Entwicklung ist das politische Naturtalent Nicola Sturgeon, die der Partei seit November 2014 in Nachfolge von Alex Salmond vorsteht. Die im Jahr 1970 geborene Schottin hat ihre politische Sozialisation in der „Campaign for Nuclear Disarmament“ und im Jugendflügel der SNP gesammelt, bevor sie als Abgeordnete im schottischen Parlament und schließlich als Schattenministerin und Ministerin die höheren Weihen der schottischen Politik erhielt. In den Nachbeben des Referendums übernahm die langjährige Vize-Chefin die Führung der Partei und der schottischen Regierung, wo sie derzeit – wie die Schotten mehrheitlich meinen – nicht nur gute Politik für Schottland macht, sondern auch aktiv schottische Interessen im Vereinigten Königreich vertritt. Aktuellen Umfragen zufolge sind 73 Prozent der Schotten von der Kompetenz der SNP überzeugt – verglichen mit 23-prozentigem Rückhalt für die Regierung in London.
Und Labour? Wie reagiert die Partei auf den SNP-Siegeszug? „Kochende Wut“ wäre eine Untertreibung. Nur hilft diese kaum weiter. Labour liegt in Schottland derzeit bei rund 19 Prozent. Denn spätestens seit ihrem Einsatz gegen die Unabhängigkeit – Seite an Seite mit den verhassten Konservativen – wird die Partei als Schoßhündchen Londons wahrgenommen. Ein Vorwurf, den der Rücktritt der Labour-Vorsitzenden Johann Lamont nach dem Referendum noch erhärtete. Lamont verband ihren Rückzug mit dem Vorwurf, die Labour-Führung in London behandle die schottische Partei nach wie vor wie einen weisungsgebundenen „Filial-ableger“.
Die Labour Party im Dilemma
Labour steht dabei vor einem grundsätzlichen Dilemma: Die Partei versteht sich grundsätzlich als postnationale progressive Kraft. In Schottland jedoch liegt der Anteil der „linken“ Öffentlichkeit, die sich dezidiert gegen die nationale Unabhängigkeit ausspricht, bei lediglich 15 Prozent. Eine Positionsänderung in dieser Frage könnte das Wählerpotenzial in Schottland eventuell verbreitern – sofern dies nicht als taktisches Manöver wahrgenommen würde. Allerdings leben nur 4 der 45 Millionen britischen Wahlberechtigten in Schottland. Eine Partei, die offen die schottische Unabhängigkeit und damit den Zerfall der britischen Union mitträgt, bräuchte sich in Westminster wohl gar nicht erst zur Wahl stellen.
In dieser strategischen Sackgasse ergeht sich die schottische Labour Party derzeit hauptsächlich in hilflos anmutenden Versuchen, das Wertegerüst der SNP infrage zu stellen. Die Partei teile linke Überzeugungen „nur als Fassade“, meint etwa ein Parlamentskandidat der Labour Party. Tatsächlich sei sie Teil der in ganz Europa grassierenden „populistischen Welle“. Die Vorsitzende der schottischen Labour Party Kezia Dugdale hingegen bemüht sich, die aktuelle Siegeszuversicht der SNP als „Arroganz der Macht“ zu brandmarken und die Partei zumindest in Steuerfragen links zu überholen.
Doch wie überzeugend sind diese Vorwürfe im Abgleich mit einem Jahrzehnt erfolgreicher Regierungspolitik der linken Mitte? Ebenfalls wenig erfolgsversprechend erscheint die von Labour auf lokaler Ebene praktizierte Abriegelungsstrategie. In gerade mal 2 von 32 Local Councils koalieren Labour und SNP. Trotz inhaltlicher Gemeinsamkeiten würde Labour eine zu große Nähe zum gefährlichsten politischen Gegner in Schottland wohl noch die letzten Stimmen kosten. Und auch hier gilt: Ein Verbündeter der „Separatisten-Partei“ SNP wäre von 37 Millionen Engländern kaum wählbar.
Der Corbyn-Effekt lässt auf sich warten
Wird zumindest der Corbyn-Effekt die Lage für Labour ändern? Es sieht nicht danach aus. Gerade einmal 4 000 neue schottische Parteimitglieder sind seit Jeremy Corbyns Amtsantritt eingetreten, schreibt der Guardian. Das ist ein Zehntel der Eintritte, die Labour alleine in London verzeichnete. Die Ursache sind die selbst im roten Schottland nicht gerade mainstreamkompatiblen Positionen des Parteichefs. Außerdem misstrauen die Schotten inzwischen ohnehin jedem Politiker aus dem Politikbetrieb der britischen Hauptstadt, dem aus ihrer Sicht auch Corbyn angehört.
Doch stärker noch wiegt die Tatsache, dass viele Wähler auf der Suche nach progressivem Enthusiasmus und Überwindung des Status quo in der SNP längst eine politische Heimat gefunden haben. Die Auswirkungen des anhaltenden Absturzes von Labour in Schottland sind gravierend, unabhängig vom Brexit-Referendum. Denn ohne eine starke Labour Party in Schottland ist eine linke Mehrheit im Vereinigten Königreich auf lange Sicht noch unwahrscheinlicher.
Immerhin: Bei den schottischen Wahlen wird das praktizierte Verhältniswahlrecht Labour vor dem völligen Bedeutungsverlust schützen. Doch bei den Wahlen für Westminster gilt das Mehrheitswahlrecht. Somit bleibt Labour letztlich nur die Hoffnung, dass der neue Scotland Act mit seinen Kompetenzverlagerungen nach Edinburgh auch die SNP vor neue Herausforderungen stellen wird. Schließlich dürfte mit jeder neuen Befugnis für Edinburgh das Narrativ der SNP weniger plausibel wirken, man sei eine Regierung, die zugleich in der Opposition ist.
Sicher ist: Die SNP wird ihr Feuer der schottischen Unabhängigkeit in den kommenden Jahren am Glühen halten. Durch eine Entscheidung zum Brexit dürften die Bestrebungen weiter genährt werden. Angesichts dieser Situation benötigt Labour fast schon einen Zaubertrank, der die Kräfte der Partei magisch vervielfältigt, um diesem übermächtigen Gegner wieder Terrain abzutrotzen.