Der starke Staat? Wunsch und Wirklichkeit
Das Jahr 2009 wird in wirtschaftlicher Hinsicht turbulent werden, darin sind sich inzwischen alle Experten einig. Schon am Absturz des erwarteten Wirtschaftswachstums kann man das sehen: Im vergangenen Frühjahr hatte die OECD für Deutschland noch eine Wachstumsrate von 1,6 Prozent vorhergesagt – bevor sich die Finanzkrise im Herbst so dramatisch verschärfte, dass ein Durchschlagen auf die Realwirtschaft nicht zu vermeiden war. Im November reduzierte der Sachverständigenrat dann die Erwartung schon auf ein Nullwachstum – bevor Ende Januar die Bundesregierung im Jahreswirtschaftsbericht 2009 sogar eine Schrumpfung um 2,25 Prozent prognostizierte. Der Streit darüber, ob man diese schwerste Rezession in der Geschichte der Bundesrepublik mit der Situation der Weltwirtschaftskrise nach 1929 vergleichen darf, ist müßig. Interessanter ist die Frage, ob die damals gemachten Fehler vermieden werden.
Diese Frage gilt vor allem dem Staat, der ja parallel zur sich verschärfenden Krise wieder stark an Wertschätzung gewonnen hat. Über Jahrzehnte als Ursache und nicht als Lösung von Problemen betrachtet, hatten viele in akademischen und öffentlichen Diskussionen den Staat bereits abgeschrieben. Aufgrund von Prozessen der Globalisierung, durch Privatisierung im Inneren und die Abgabe zahlreicher Kompetenzen nach außen sei er der „Erosion“ und dem „Niedergang“ anheim gegeben; manche schrieben schon sein „Ende“ herbei. Doch in der Krise, die durch die vor kurzem noch gefeierte globalisierte Wirtschaft mit ihren hochkomplexen Finanzprodukten und ihrer internationalen Verflechtung von Amerika ausgehend weite Teile der Welt ergriffen hat, erlebt der Staat nun plötzlich eine Art Auferstehung. Gewissermaßen als Residualakteur muss er überall eingreifen, wo Not am Manne ist und Märkte sich selbst nicht mehr helfen können – von Ausfallbürgschaften für Finanzunternehmen bis zu Hilfen für Autohersteller.
Die Frage nach der Kompetenz des Staates (und seiner Durchsetzungsfähigkeit beziehungsweise Stärke) ist demnach zentral, und sie soll im Folgenden für die Bundesrepublik genauer erörtert werden. Doch Staaten handeln nicht im luftleeren Raum, sondern in gegebenen Kontexten. Deshalb ist zunächst die Frage nach den Rahmenbedingungen zu stellen, in denen der bundesdeutsche Staat in der gegenwärtigen Krise handelt.
Die europäische Einbindung mindert die Krise
Da ist zuvörderst Europa zu nennen, das oft als Einschränkung wahrgenommen wird. In der gegenwärtigen Krise jedoch wirkt die europäische Einbindung für die deutsche Politik krisenmindernd – aufgrund der gemeinsamen europäischen Währung. Ohne den Euro gäbe es vermutlich eine Flucht in die als „sicherer Hafen“ angesehene deutsche Währung, die dann gegenüber den Währungen der europäischen Handelspartner aufgewertet würde. Ähnliches geschah in den Währungsturbulenzen der frühen neunziger Jahre, als Lira, Peseta und Escudo ebenso wie das britische Pfund gegenüber der Deutschen Mark abgewertet wurden. Die Verteuerung deutscher Exporte kostete damals hunderttausende von Arbeitsplätzen. Heute hingegen sichert der Euro stabile Exportpreise in ein riesiges Währungsgebiet. Auch wenn die deutsche Politik keinen direkten Einfluss auf die Geldpolitik in der Eurozone hat, überwiegen die Vorteile der Währungsunion bei Weitem.
Zudem hat Deutschland nicht mit einer massiven Wohnungsmarktkrise zu kämpfen, die in vielen europäischen Ländern (und in den Vereinigten Staaten) die Wirtschaftskrise noch zusätzlich verschärft. In Großbritannien etwa fielen die Immobilienpreise allein im Jahr 2008 um 16 Prozent, und für 2009 wird eine ähnliche Entwicklung erwartet. Dann wird der durchschnittliche Hausbesitzer (und über 70 Prozent der Briten sind Hauseigentümer) etwa ein Drittel des Wertes seines größten Vermögensgegenstandes verloren haben. Auch in Irland, Portugal, Spanien, Belgien und Dänemark – allesamt Länder, in denen Haus- und Wohnungspreise in den vergangenen Jahren zum Teil mit zweistelligen Wachstumsraten gestiegen waren – sinken die Immobilienpreise dramatisch. Und ebenso wie ihr Steigen den Konsum und das Wirtschaftswachstum befördert hatte, wird der private Verbrauch nun, da man sich ärmer fühlt, stärker schrumpfen.
Der oft als undynamisch bezeichnete deutsche Immobilienmarkt, an dem der Boom des letzten Jahrzehnts völlig vorüberging, erweist sich demnach heute als Hort der Stabilität. Und das ist nicht der einzige Fall, in dem sich eine lange kritisch betrachtete Eigenheit des deutschen Systems plötzlich als Vorteil entpuppt: Denn ähnliches kann man über das dreigliedrige deutsche Bankensystem sagen. Trotz IKB, KfW, HypoRealEstate und den Verlusten von Commerzbank und Deutscher Bank: Verglichen mit der Situation in der Schweiz, in Großbritannien oder gar in Island ist die Krise im deutschen Bankensystem – bis jetzt – nicht schwerwiegend. Der große Marktanteil der Sparkassen und Genossenschaftsbanken, lange (zumindest von ihren Konkurrenten im privatwirtschaftlichen Sektor) als Bremse für die wirtschaftliche Dynamik im Finanzsektor betrachtet, erscheint heute eher als Hort der Solidität – auch wenn die Spitzeninstitute beider Sektoren durchaus ihren Anteil an der kollektiven Unvernunft der vergangenen Jahre haben.
Nebenregierungen und Politikblockaden
Die Rahmenbedingungen, die der bundesdeutsche Staat für die Bewältigung von Wirtschafts- und Finanzmarktkrise vorfindet, erscheinen im Vergleich also nicht ungünstig. Aber wie steht es um die institutionellen Bedingungen, innerhalb derer die Entscheidungen zu treffen sind? Ist hier mit Problemen und Hindernissen zu rechnen, oder lässt sich erwarten, dass den relevanten Akteuren effektive Mechanismen zur politischen Führung zur Verfügung stehen?
In dieser Pauschalität ist die Frage seriös nicht zu beantworten. Der deutsche Staat ist ja bekanntlich durch vielfältige Formen der Machtverteilung und eine Reihe von „Nebenregierungen“ geprägt. Da ist der Föderalismus, der zudem durch ein (seit der Entstehung eines faktischen Fünf-Parteien-Systems immer komplexer werdendes) Spiel parteipolitischer Konkurrenz überlagert wird. Zudem gibt es zahlreiche potenzielle Gegenspieler für eine entschieden agierende Regierung, etwa das Bundesverfassungsgericht, das ein detailliert regelndes Grundgesetz hütet. Vor diesem Hintergrund ist in Deutschland über lange Jahre eine Diskussion um „Politikblockaden“ und „Reformunfähigkeit“ geführt worden, in der – metaphorisch gesprochen – viele Teilnehmer in Sack und Asche gingen und auf scheinbar wesentlich rascher und entschiedener reagierende Staaten vor allem angelsächsischer Provenienz verwiesen. Beobachter in diesen Staaten hingegen halten den deutschen Staat zumeist für einen starken Staat, der sich in vieles einmischt und der Gesellschaft in erheblichem Maße seinen Willen aufzwängt.
Dezentraler Staat, zentralisierte Gesellschaft
Den Widerspruch zwischen diesen beiden Positionen kann man auflösen. Der deutsch-amerikanische Politikwissenschaftler Peter Katzenstein von der Cornell University beschrieb vor 20 Jahren die Bundesrepublik als einen „semisouveränen“ Staat. Dabei ging es ihm um die Ursachen der großen Politikstabilität in der Bundesrepublik, die auch Regierungswechsel zu überdauern schien – und deutlich kontrastierte mit den klaren Kurswechseln nach Regierungswechseln etwa in den Vereinigten Staaten nach dem Amtsantritt Ronald Reagans oder jenem von Margaret Thatcher in Großbritannien.
Katzenstein argumentierte, dass der bundesdeutsche Staat zwar per se ein relativ schwacher Staat sei, in dem Macht zwischen einer Reihe von miteinander im Wettbewerb liegenden Institutionen verteilt ist; ihm stehe jedoch eine Gesellschaft gegenüber, in der soziale Gruppen (vor allem Verbände) über ein hohes Maß an konzentrierter Macht verfügten. Beide Strukturelemente lassen sich auf historische Entwicklungen zurückführen: das erste auf nach dem Zweiten Weltkrieg getroffene Entscheidungen für einen den Zentralstaat schwächenden Föderalismus sowie eine dezentrale Verwaltung; das zweite auf seit dem späten 19. Jahrhundert existierende wirtschaftliche Spitzenverbände, die Entscheidung für das Industriegewerkschaftsprinzip und die lange Dominanz eines Finanzsystems mit einer starken Rolle der Banken.
Dem dezentralisierten Staat steht nach dieser Interpretation also eine organisierte und relativ zentralisierte Gesellschaft gegenüber, die noch dazu mit dem Staat kooperiert und in seine Entscheidungsprozesse vielfältig eingebunden ist. Zusammen mit diesen gesellschaftlichen Gruppen kann der bundesdeutsche Staat relativ stark sein – aber er ist es eben vor allem, indem er kooperiert. Dass er solche Kooperation sucht, ist gewissermaßen in seinem Erbgut verankert: Die Politikmuster, die sich in Deutschland seit dem späten 19. Jahrhundert herausgebildet haben, überstanden sogar den Schock der Vereinigung und gehören auch in der Berliner Republik zum Standardrepertoire für Politiklösungen in der Bundesrepublik.
Der deutsche Staat lässt arbeiten
Auch in der regulativen Politik, also dem Teil der Politik, der Regeln etwa für wirtschaftliches Handeln setzt, finden wir die Muster des „semisouveränen“ Staates mit seiner Kooperation zwischen Staat und Gesellschaft. Das gilt auch für den Bereich der Bankenregulierung. Hier lässt der deutsche Staat seit langer Zeit in erheblichem Maße zunächst einmal arbeiten, indem er zwar Rahmenregeln setzt, aber deren Einhaltung in erster Linie die betroffene Industrie selbst überwachen lässt. Die Verbände der Bankenindustrie (also aus dem privatwirtschaftlichen Bankensektor, dem Sparkassensektor und dem Genossenschaftssektor) übernehmen große Teile der Arbeit „vor Ort“: Sie erstellen die Berichte, die die staatliche Behörde dann auf Übereinstimmung mit den gesetzlichen Regeln überprüft, und sie betreiben auch die sektoral unterschiedlichen Sicherungssysteme für die Einlagen der Bankkunden.
Dieses System ist auf Wunsch der Bankindustrie entstanden, die sich (nach der Krise um die Herstatt-Bank im Jahr 1974 vor die Wahl gestellt) für das Modell verbandlicher Selbstregulierung statt umfassender staatlicher Aufsicht entschied. Es lässt Freiräume für eigene Entscheidungen, ist somit autonomieschonend und hält den Staat nicht zuletzt davon ab, allzu detaillierte Steuerungsphantasien zu entwickeln. Aber auch für den Staat hat solch ein Modell Vorteile, und so kann man erklären, warum es in der Bundesrepublik eigentlich nie ernsthaft in Frage gestellt worden ist: Der Staat muss wenig Ressourcen aufwenden – er hat nur eine überwachende Funktion und muss keine (oder nur sehr wenige) Experten ausbilden und beschäftigen, die vor Ort einzelne Banken auf die Einhaltung der gesetzlichen Regelungen überprüfen.
Ein paar Zahlen mögen dies illustrieren – im Vergleich mit dem britischen Aufsichtssystem, das einem stärkeren Hands-on-Konzept folgt und zur Beaufsichtigung von deutlich weniger Banken wesentlich mehr Personal beschäftigt. So hat die Financial Services Authority (FSA) gegenwärtig 2.800 Mitarbeiter, während in der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) nur 1.700 Mitarbeiter den bundesdeutschen Markt beaufsichtigen. Die Unterschiede im Haushalt sind sogar noch größer: Das Budget der FSA liegt mit etwa 300 Millionen Euro sogar rund zweieinhalbfach so hoch wie das der deutschen Aufsichtsbehörde mit 123 Millionen Euro.
An schwacher Aufsicht hat niemand Interesse
Nicht nur in Deutschland haben alle Aufsichtsbehörden im Finanzbereich das Problem, dass sie mit den regulierten Unternehmen oft im Wettbewerb um qualifiziertes Personal liegen. Positionen im mittleren und gehobenen Beamtendienst sind häufig nicht konkurrenzfähig mit lukrativen Angeboten aus der Privatwirtschaft, und die BaFin und ihre Vorgängerinstitutionen haben deshalb auch in der Vergangenheit schon mit massiven Rekrutierungsproblemen kämpfen müssen. Dabei kann eine schwache Aufsicht in diesem Bereich eigentlich weder im Interesse des Staates noch im Interesse der beaufsichtigten Industrie sein – schließlich ist der Hinweis auf gute Regulierung ein Vorteil im Wettbewerb um die Anleger und regulatives Versagen teuer, wie die gegenwärtige Krise deutlich macht.
Zudem trägt die beaufsichtigte Bankenindustrie über die von ihr gezahlten Gebühren weitgehend die Aufwendungen für die Regulierung, so dass dem Staat durch eine Aufstockung des Personals noch nicht einmal höhere Kosten entstehen. Dennoch mussten die deutschen Bankenverbände vor zehn Jahren in einem gemeinsamen Bittbrief den Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages auffordern, keine weiteren Mittelkürzungen bei der Bankenaufsicht vorzunehmen – historisch wahrscheinlich ein einzigartiger Fall.
Auf dem Gebiet der Finanzaufsicht ist der deutsche Staat also willentlich ein schwacher Staat, und über viele Jahrzehnte hat ihm das nicht geschadet. Doch mit fortschreitender Globalisierung – und mit wachsender Verlagerung von regulativen Entscheidungen auf die internationale Ebene – ist diese Schwäche kostspieliger geworden. Wenn allein die (auch für die Bankenaufsicht zuständige) Niederlassung der Federal Reserve Bank in New York eine Forschungsabteilung hat, die zehnmal so viele Mitarbeiter beschäftigt wie die entsprechende Abteilung auf deutscher Seite, dann braucht man nicht zu raten, wer wohl besser vorbereitet in internationale Verhandlungen geht.
Gerade unter den gegenwärtigen Bedingungen massiver Unsicherheit sind verlässliches Wissen und gute Information von unschätzbarem Wert. Der deutsche Staat verfügt jedoch über wenig genuin eigene Ressourcen, um Wissen über die Finanzmärkte zu akquirieren, und er kann daran so schnell auch nichts ändern. Verschärft würde das Problem sogar noch, wenn es nun zu einer Neuauflage der Streitigkeiten des Jahres 2002 um regulative Zuständigkeit zwischen der Bundesbank und der BaFin kommt – also zwischen einer Institution, die seit Einführung des Euro keine eigentliche Aufgabe mehr hat (aber eine neue sucht), und einer Institution, der man angesichts der gegenwärtigen Krise durchaus Versagen vorwerfen kann. Beide Institutionen haben politische Verbündete, und so kann der Konflikt rasch bis in die Regierung eskalieren – und notwendige Aufmerksamkeit von der Krisenbekämpfung ablenken.
Trotz relativ günstiger Rahmenbedingungen durch eine Reihe äußerer Faktoren sind die Handlungsbedingungen für die deutsche Politik in der gegenwärtigen Finanzmarktkrise also nicht unbedingt als positiv einzuschätzen. Deshalb muss auch das bisweilen naive Vertrauen in eine verstärkte Rolle des Staates erstaunen, die von manchen angesichts des Versagens von Bankiers und Märkten gefordert wird. Wer die Rolle des Staates stärken will, der sollte zunächst für einen kompetenten Staat sorgen – einen Staat, der mit der hochkomplexen Materie der Finanzmärkte und ihrer Produkte aus eigener Kraft umgehen kann und dabei nicht von der Kooperation mit Wirtschaftsprüfungsunternehmen oder Bankenverbänden abhängig ist.