Der Vormarsch der neuen Rechten
A ls 1989 die lang ersehnte Zeitenwende eintrat und die sozialistischen Diktaturen des Ostblocks zusammenbrachen, schien die Zeit autoritärer Regime in Europa endgültig vorbei zu sein. Die Aussicht auf ein Leben in und mit den bürgerlichen Freiheiten war damals die Haupttriebfeder vieler Demonstranten, die in Budapest, Prag oder Leipzig auf die Straße gingen. Wenige Jahre später wurden Ungarn, Polen und Tschechien Mitglieder der Europäischen Union und prosperierten auch wirtschaftlich. Unter den ehemaligen Satellitenstaaten der Sowjetunion entwickelte sich vor allem Polen zur Vorzeigedemokratie.
Inzwischen hat die Wertschätzung für liberale Staatsformen in Osteuropa rapide abgenommen. In Polen baut die mit absoluter Mehrheit regierende Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) das politische System in einen autoritären Staat um. Das Verfassungsgericht ist entmachtet, die öffentlich-rechtlichen Medien wurden mit PiS-Getreuen besetzt und so sehr auf Linie gebracht, dass man von einem „Staatsfunk“ sprechen kann. Zwar finden gegen diesen Umbau regelmäßig große Demonstrationen statt, jedoch liegt die PiS in den Umfragen weiterhin vorn. In Ungarn regieren Viktor Orbán und seine Partei Fidesz mit harter Hand und heizen Ressentiments gegenüber Migranten und Flüchtlingen an. Für Orbán, der in seiner 2014 gehaltenen Grundsatz-rede Russland und China als Vorbilder nannte, ist die „illiberale Demokratie“ das richtige Modell für Ungarn. Eine Demokratie müsse nicht „zwangsläufig liberal“ sein.
Wenn die Tyrannei der Mehrheit Wirklichkeit wird
Das Konzept der „illiberalen Demokratie“ findet inzwischen auch im westlichen Europa immer mehr Anhänger, wie die steigenden Zustimmungswerte für rechtspopulistische und neurechts geprägte Parteien zeigen – etwa für den Front National in Frankreich, die Freiheitspartei in den Niederlanden, die Schwedendemokraten, die FPÖ in Österreich und auch für die AfD in Deutschland. Der europäische Liberalismus, verstanden als freiheitlich-demokratische Staatsform, in der auch die Rechte von Minderheiten geschützt werden, ja unveräußerlich sind, ist fraglos in die Krise geraten.
Wer glaubt, das Konzept einer „illiberalen Demokratie“ sei ein Widerspruch in sich, hat sowohl Recht als auch Unrecht. Mit dem aufklärerischen, pluralistischen und Minderheitenrechte schützenden Verständnis von Demokratie ist eine „illiberale Demokratie“ selbstverständlich unvereinbar. Jedoch verbirgt sich dahinter ein eigenständiges, anderes Konzept von Demokratie: Regierungen kommen darin zwar durch freie Wahlen ins Amt, achten aber weder den Rechtsstaat noch politische Grundrechte per se. Dementsprechend bekannte Orbán in der erwähnten Grundsatzrede freimütig, dass „der neue Staat“ in Ungarn „die liberalen Grundwerte wie Freiheit“ zwar nicht verneine, sie aber „nicht zu seinem Grundelement“ mache. Wörtlich weiter: „Er nimmt Teile davon: die nationalen Werte.“ Von den Vordenkern der Idee der westlichen Demokratie hat sich Orbán damit weit entfernt. So warnte bereits John Stuart Mill im Jahr 1859 in seinem Buch On Liberty vor einer „Tyrannei der Mehrheit“ und betonte, dass etwa die Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit unveräußerlich seien und auch nicht durch Mehrheitsbeschlüsse abgeschafft werden könnten.
»Eigene Rasse« heisst jetzt »Eigene Kultur«
Mit der Abneigung gegenüber dem Liberalismus ist auch ein zentrales Narrativ der Neuen Rechten in Deutschland beschrieben, die den Entwicklungen in Polen und Ungarn entsprechend zustimmend begegnet und hierzulande ihre Anhängerschaft verbreitert. Bei der Neuen Rechten handelt es sich um ein mehr oder weniger eng verbundenes Netzwerk von Personen, die im Gegensatz zur „Alten Rechten“ nicht an den Nationalsozialismus anknüpfen, sondern an die Ideen der „Konservativen Revolution“ aus der Zwischenkriegszeit. Deren wichtigste Vertreter hießen Carl Schmitt, Edgar Julius Jung (Hauptwerk: Die Herrschaft der Minderwertigen ) und Arthur Moeller van den Bruck (Hauptwerk: Das dritte Reich ). Die Bewegung war dezidiert anti-liberal, anti-pluralistisch, anti-egalitär und völkisch geprägt. Ihre Ideen kamen in den siebziger Jahren zunächst in Frankreich wieder in Mode, nachdem sie der ehemalige Rechtsextremist Alain de Benoist (der bis heute verächtlich von der „Ideologie der Menschenrechte“ spricht) aufgriff und so zum Gründungsvater der „Nouvelle Droite“ wurde. Diese fasste sodann als „Neue Rechte“ auch in Deutschland Fuß. Die wichtigsten deutschen Protagonisten sind der inzwischen verstorbene Armin Mohler, der bezeichnenderweise ein Buch mit dem Titel Gegen die Liberalen schrieb, der Geschichtslehrer Karlheinz Weißmann, Felix Menzel, der das Jugendmagazin Blaue Narzisse verantwortet, und vor allem Götz Kubitschek, der auf seinem Rittergut Schnellroda den Verlag Antaios betreibt und die Zeitschrift Sezession herausgibt.
Kubitschek, der seit Jahren eng mit dem heutigen Fraktionsvorsitzenden der Thüringer AfD Björn Höcke befreundet ist, wähnt sich schon lange im „geistigen Bürgerkrieg“ sowie in einem „kranken Staatsgebilde und Volkskörper“. Er trat mehrfach bei Pegida in Dresden und deren noch radikalerem Ableger „Legida“ in Leipzig auf. Gegenüber ZDF Aspekte sagte er kürzlich in verbissenem Tonfall: „Deutschland ist das Land, in dem das Deutsche seine Heimat hat, in dem das Deutsche sich konkretisiert, so, und jetzt geht es diesem Volk an die Substanz. Also es wird als deutsches Volk in Deutschland ausgehebelt.“
In Äußerungen wie diesen zeigt sich das völkische Element der Bewegung, das auf der Idee des „Ethnopluralismus“ fußt. Was beim ersten Hören nach „Diversity“ und „Multikulti“ klingt, ist in Wahrheit das glatte Gegenteil davon. Denn der „Ethnopluralismus“ zielt darauf ab, dass jedes Volk und jede Rasse – die Szene vermeidet den Begriff „Rasse“ allerdings oft und spricht, weil das harmloser klingt, lieber von „Kultur“ – so homogen wie möglich sein und bleiben soll. Anders als bei Neonazis üblich, werden Herkunftsdeutsche also nicht als überlegen angesehen, aber sie sollen sich möglichst nicht mit anderen „Kulturen“ vermischen. Aus diesem Konzept heraus erklären sich die ausgeprägten Ressentiments der neurechten Kreise gegenüber Flüchtlingen und Migranten. In ihnen sieht man „Fremde“, die das „Eigene“ des „deutschen Volkes“ bedrohen.
Der wichtigste Türöffner hieß Sarrazin
Das alles könnte man vernachlässigen, wenn diese Vorstellungen innerhalb der zahlenmäßig sehr kleinen neurechten Szene geblieben wären. Doch inzwischen ist der Bewegung teilweise gelungen, was sie seit Jahrzehnten anstrebt: in den öffentlichen Diskurs einzudringen und zunächst im vorpolitischen Raum „kulturelle Hegemonie“ zu erlangen, um damit langfristig auch die Übernahme politischer Macht zu ermöglichen. Die „kulturelle Hegemonie“ ist ein Konzept, das die Neue Rechte von dem italienischen Kommunisten Antonio Gramsci übernommen hat und „Metapolitik“ nennt. Als Türöffner hat sich dabei Thilo Sarrazins Buch Deutschland schafft sich ab erwiesen. Schon 2011 sagte Kubitschek, der über seinen Verlag auch Bücher aus anderen Häusern vertreibt, in der 3Sat-Sendung Kulturzeit: „Sarrazin haben wir höllisch gut verkauft und dazu auch ein Sonderheft gemacht: ‚Sarrazin lesen‘.“ Kubitschek betonte weiter, dass das Buch „ein absoluter Durchbruch“ gewesen sei. Es habe viele der eigenen Themen „nach oben gezogen“.
Ein Übriges trug dann die Diskussion rund um die Eurorettung zu dieser Entwicklung bei. In dieser Phase konnte man erstmalig beobachten, wie sich die Gedankenwelt der Neuen Rechten, die unsere pluralistische Demokratie permanent als Diktatur interpetiert, weit in die bürgerliche Mitte hinein ausbreitete. Wer in konservativen und libertären Kreisen unterwegs war, konnte fast wöchentlich erleben, wie ehemalige Weggefährten plötzlich ein abfälliges Diktaturvokabular wie „Politikerdarsteller“, „Meinungsbolschewiki“, „EUdSSR“ (gemeint ist die EU), „Mainstreammedien“ oder „Blockparteien“ übernahmen und sich radikalisierten. Inzwischen, vor allem seit Aufkommen der Pegida-Bewegung, ist die Verrohung der Sprache und damit auch der Gedanken noch weiter fortgeschritten. Aus „Mainstreammedien“ wurde die „Lügenpresse“, „Pinocchiopresse“ (Frauke Petry) oder „Lückenpresse“ (Björn Höcke), und aus „Politikerdarstellern“ wurden „Volksverräter“.
Überhaupt haben sich die Pegida-Bewegung, die auch von ehemals konservativen, inzwischen aber rechtspopulistischen Autoren wie Alexander Kissler (Kulturressortleiter beim Cicero ) gegen Kritik verteidigt wurde, und noch stärker die AfD als Transmissionsriemen für die Infiltration bürgerlicher Kreise mit neurechtem Gedankengut erwiesen. Es ist schick geworden, gegen „die da oben“ zu sein, mit Begriffen wie „Lügenäther“ (Peter Sloterdijk) um sich zu werfen, im Zuge der Flüchtlingskrise vom „Merkel-Regime“ zu sprechen oder sich affirmativ den Spruch des Staatsrechtlers Dietrich Murswiek von der „Umstrukturierung der Bevölkerung“ zu eigen zu machen. Ähnlich wie Sloterdijks „Lügenäther“ eine etwas feiner klingende Vokabel als „Lügenpresse“ ist, stellt die Bezeichnung „Umstrukturierung der Bevölkerung“ eine etwas softere Formulierung des rechtsradikalen Topos der „Umvolkung“ dar.
Auch Nationalbolschewist Elsässer mischt mit
Ein weiteres Synonym für „Umvolkung“ ist der „Große Austausch“, gegen den vor allem die vom hessischen Verfassungsschutz offiziell beobachtete und von Götz Kubitschek unterstützte „Identitäre Bewegung“ ankämpft. Der Begriff des „Großen Austausch“ geht auf den Franzosen Renaud Camus zurück, den man als Chefideologen des Front National bezeichnen kann. Die Verbindungen in Deutschland sind offensichtlich: Anfang April 2016 rief Björn Höcke zum Schulterschluss der AfD mit dem Front National, der FPÖ und der Pegida-Bewegung auf. Jan Wenzel, Landesvorsitzender der Jungen Alternative und nunmehr auch AfD-Landtagsabgeordneter in Sachsen Anhalt, hielt bei einer Kundgebung der „Identitären Bewegung“ in Wernigerode sogar eine Rede.
Ebenfalls für die AfD in den Magdeburger Landtag eingezogen ist Hans-Thomas Tillschneider, der Kopf der neurechten „Patriotischen Plattform“, die verlässlich Bekundungen der Solidarität mit Björn Höcke abgibt. Insofern übertreibt Kubitschek gewiss nicht, wenn er gegenüber ZDF Aspekte sagt: „Die AfD hat zum Teil Inhalte, Begriffe, Elemente, die wir vorgedacht haben, umgesetzt, setzt sie immer weiter um. Da gibt es eine eindeutige Nähe, auch eine Befruchtung von unserer Seite Richtung AfD.“ Dabei macht inzwischen auch der Nationalbolschewist Jürgen Elsässer mit, der seit geraumer Zeit mit Kubitschek zusammenarbeitet, was erneut belegt, dass der Hauptfeind der Neuen Rechten nicht die Linke, sondern der Liberalismus ist.
Deutschland stehen raue Zeiten bevor
Leider zeigt diese „Befruchtung“ auch in der Bevölkerung Wirkung. Es ist fast schon salonfähig geworden, das „Eigene“ vom „Fremden“ abzugrenzen. Höckes Anrufung von „1000 Jahre Deutschland“ oder seine Gewaltfantasie, Merkel „in der Zwangsjacke aus dem Kanzleramt abzuführen“ schaden der AfD nicht. Ebenso wenig die Klarstellung des sachsen-anhaltinischen AfD-Chefs André Poggenburg, dass seine Partei eine „deutschnationale“ sei, oder die Schwärmerei seines Landesverbands von der „Volksgemeinschaft“. Im Gegenteil: Je radikaler die AfD geworden ist, desto höher stiegen ihre Umfragewerte. Auch verächtlichen AfD-Slang wie „Altparteien“ hört man immer häufiger im bürgerlichen Umfeld. Nach einer Umfrage des Stern halten 44 Prozent der Bevölkerung das Gerede von der „Lügenpresse“ für plausibel.
Mehr als 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ist es wieder en vogue, gegen die Repräsentanten einer liberalen pluralistischen Demokratie Stimmung zu machen, die Qualitätspresse zu diffamieren und brachial Ressentiments gegenüber Minderheiten zu äußern, vor allem dann, wenn sie eine dunklere Hautfarbe haben oder Muslime sind. Deutschland stehen raue Zeiten bevor. Wem die Freiheit und der Erhalt unserer Demokratie, die jahrzehntelang mühsam aufgebaut wurde, etwas wert sind, der muss sich gegen die rechten Scharfmacher zu Wehr setzen. Nur so wird Deutschland erspart bleiben, was unter der PiS in Polen und unter Orbán in Ungarn längst Realität ist.