Deutschland als aktive Mittelmacht
Das Jahr 2014 hat mit seinen Krisen und Konflikten, darunter die Ukraine-Krise und der Vormarsch des „Islamischen Staates“, erneut die außenpolitische Gestaltungskraft Deutschlands zum Thema gemacht. Offenbar haben die deutschen Entscheidungsträger und ein großer Teil der Öffentlichkeit erkannt, dass Deutschland und Europa sich nicht mehr auf die Scheingewissheit einer immer enger integrierten Europäischen Union verlassen kann, die von Freunden umgeben ist und anderen Regionen als Modell dient. Viele Debattenbeiträge reduzieren die Frage nach der Rolle Deutschlands in der Welt jedoch auf die Instrumente der Außenpolitik. Aus dieser Sicht erschöpft sich die Frage nach der deutschen Verantwortung darin, wie viele Soldaten Deutschland für internationales Krisenmanagement entsendet und welchen finanziellen Beitrag es zur Behebung internationaler Probleme leistet. Wer aber über Deutschlands Rolle in der Welt reflektiert, muss sich mit den folgenden vier Dimensionen befassen.
An erster Stelle steht die Frage nach der Reichweite des außenpolitischen Gestaltungsanspruchs. Einerseits ist ein so vielfältig globalisiertes und international überdurchschnittlich vernetztes Land wie die Bundesrepublik auch von geografisch weit entfernten Entwicklungen betroffen. Gleichwohl wird Deutschland durch diese vitalen Interessen an globalen Entwicklungen nicht gleich zur globalen Ordnungsmacht. Stattdessen erstreckt sich der Radius, für den Berlin zuerst ordnungspolitische Verantwortung tragen soll und kann, auf die euro-atlantische Peripherie: auf Nordafrika, den Nahen Osten und auf die östliche Nachbarschaft. Hier stellen sich bereits viele, ja fast zu viele außenpolitische Herausforderungen, die Deutschland unmittelbar betreffen.
Es wäre deshalb richtig, wenn Deutschland sich in diesem Sinne bewusst als aktive Mittelmacht definiert. Eine solche bemüht sich darum, in ihrem internationalen Umfeld zusammen mit anderen zur Problembearbeitung beizutragen – wohl wissend, dass nicht alle internationalen und globalen Probleme kurzfristig lösbar sind. Eine aktive Mittelmacht ist sich ihrer Stärken, aber auch der Grenzen ihrer Macht und ihres Einflusses bewusst. Im Gegensatz zu Staaten mit Großmachtanspruch wissen die nationalen Entscheidungsträger, dass ihr Land allein zu klein ist für die globalisierte Welt, dass es auf multilaterale Zusammenarbeit angewiesen ist und dass es nicht überall eine führende Rolle spielen kann. Sie sind sich aber auch bewusst, dass ihr Land sich angesichts problematischer oder gefährlicher internationaler oder globaler Entwicklungen nicht einfach wegducken und sich schon gar nicht auf bestimmte funktionale Nischen beschränken kann. Stattdessen sollte Deutschland eine Führungs- und Mitführungsrolle anbieten, und zwar in Bereichen, in denen es besser als in anderen – oder besser als andere – zur Problemlösung beitragen kann.
Die zweite Dimension außenpolitischer Verantwortung bezieht sich auf die Ideen und Initiativen, die Deutschland zur Regelung internationaler Fragen einbringt. Wichtig ist, eine klare Vorstellung von den eigenen Interessen zu haben, zu wissen, welche Ziele man erreichen möchte und kann, und andere für eine entsprechende Strategie zu gewinnen. Das verlangt zudem die Bereitschaft, notfalls auch die Kosten für die Durchsetzung dieser Ziele in Kauf zu nehmen. Beispiele für ein derartiges Engagement Deutschlands bieten die langjährige Atom-Diplomatie gegenüber Iran (seit 2003) und die deutschen Beiträge zum Umgang mit Russland und der Ukraine in den vergangenen Monaten. In beiden Fällen waren klare strategische Ziele und Ideen zur Konfliktbearbeitung sowie die Bereitschaft und Fähigkeit vorhanden, einen breiten Konsens zu schaffen, zögerliche Partner ins Boot zu holen und diesen, sofern es zur Lösung beitrug, die Führung zu überlassen. In beiden Fällen zeigte sich die Führungs- und Mitführungsverantwortung Berlins auch in der Bereitschaft, Kosten zu übernehmen, um die mit europäischen und internationalen Partnern gemeinsam vertretenen Ziele in die Tat umzusetzen.
Die dritte Facette außenpolitischer Verantwortung ergibt sich aus der multilateralen Selbstbindung bundesrepublikanischer Außenpolitik und aus der Tatsache, dass eine rein nationale Außenpolitik den Anforderungen einer globalisierten Weltpolitik kaum mehr gewachsen ist. Entscheidend für die deutsche Außenpolitik ist die Frage nach den Partnern und internationalen Organisationen, mit denen beziehungsweise in denen Deutschland bestimmte Ziele zu verwirklichen sucht. Der Aufstieg neuer Mächte hat eine solche Neuorientierung in den vergangenen Jahren genauso notwendig gemacht wie die NSA-Affäre oder die Krise des europäischen Integrationsprozesses. Es reicht heute nicht mehr aus, einfach auf die Bedeutung der transatlantischen Beziehungen oder die EU als deutschen Handlungsrahmen zu verweisen. Je nach Politikfeld wird die deutsche Außenpolitik immer wieder neu um geeignete und gestaltungswillige Partner werben müssen.
Erst zuletzt stellt sich die Frage nach der vierten Dimension außenpolitischer Verantwortung, nämlich den Instrumenten deutscher Außenpolitik. Dazu gehört die gesamte Bandbreite der diplomatischen, militärischen, finanziellen und wirtschaftlichen Maßnahmen, die der Bundesrepublik zur Verfügung stehen. Die jüngsten Debatten über die Herausforderungen deutscher „Ordnungspolitik“ weisen vor diesem Hintergrund in unterschiedliche Richtungen: Während die Politik von Bundeskanzlerin Angela Merkel und Außenminister Frank-Walter Steinmeier in der Ukraine-Krise reflektierter, ja „erwachsener“ im Sinne einer aktiven Mittelmachtrolle wirkt, scheinen die Debatten um die Bewaffnung der Peshmerga-Milizen sowie die bevorstehende Ausbildungsmission im Nordirak eher außenpolitischen Aktivismus zu suggerieren, dem klare Vorstellungen von Ordnung und Konfliktbearbeitung – zumindest bislang – noch fehlen.