Deutschlands Russen, Putin und der Fall Lisa
A ls der Spiegel im Jahr 1998 über die Russlanddeutschen und ihre Enttäuschung gegenüber der bundesdeutschen Politik schrieb, war von dem Wunsch die Rede, als Bevölkerungsgruppe endlich „politisch in Erscheinung zu treten“ – bis hin zu „einem Pakt“ mit rechtsnationalen Parteien als Notalternative zur Union. Rund 15 Jahre später attestierte eine größere Studie den Spätaussiedlern eine Integrationsgeschichte, die (nach anfänglichen Turbulenzen) wie im Märchen verlaufe: Die meisten Russlanddeutschen seien erfolgreich integriert, unauffällig und zeigten eher geringes politisches Interesse.
Das war 2013. Kaum drei Jahre später, im Januar 2016, explodieren die Schlagzeilen: Die Medien melden Demonstrationen von Tausenden Russlanddeutschen, Youtube-Videos zeigen aufgebrachte Menschen, die deutsche Politiker beschimpfen, es zirkulieren Aufrufe in Russisch zu Straßenprotesten. Es geht um Lisa, ein Mädchen aus einer Berliner Aussiedler--Familie, das russischen Medien zufolge von Flüchtlingen vergewaltigt wurde. „Unsere Lisa“ nennt sie der russische Außenminister Sergej Lawrow; „unsere Töchter“ skandieren die Demonstranten in Deutschland und fürchten um die Sicherheit ihrer Kinder. Leitmotive der Demonstrationen: Ablehnung der „unkontrollierten“ Zuwanderung, Misstrauen gegenüber Angela Merkel, den deutschen Behörden und Medien. Die ersten dieser Demos wurden von NPD-Anhängern initiiert, alle weiteren von Rechtsextremen und populisten zumindest unterstützt. Aktiv in Erscheinung tritt auch die Partei „Einheit“ – ein Bündnis um den einstigen SPD-Genossen Dmitri Rempel, das mit starken Positionen pro Putin auftritt, den Krim-Anschluss gutheißt und eine Umsiedlung von 500 000 Menschen aus Deutschland auf die annektierte Halbinsel prophezeit.
Nur mit größter Mühe gelingt es den Behörden, die aufgebrachten Aussiedler davon zu überzeugen, dass die russischen Berichte über die „vergewaltigte“ Lisa nicht der Wirklichkeit entsprechen. Die Straßenmobilisierung der Russlanddeutschen lässt daraufhin zwar nach, die politischen Einstellungen jedoch bleiben bestehen. Bei den baden-württembergischen Landtagswahlen im März fährt die AfD auffallend hohe Ergebnisse in Bezirken mit einem starken Anteil an Russlanddeutschen ein: In Wartberg etwa bekommt sie 51 Prozent der Stimmen, im Pforzheimer Stadtteil Haidach sind es 43 Prozent, im Ellwanger Wahlbezirk Bürgertreff-Kolpingweg 25 Prozent.
»Besorgte Neubürger« in kämpferischer Stimmung
Nun rätselt die Öffentlichkeit, was unter der „geräuschlosen“ Oberfläche der russischsprachigen Integration wirklich los ist und welche Rolle die russischen Medien dabei spielen. Doch jede monokausale Erklärung für die aktuelle Situation würde zu kurz greifen. Vielmehr muss man drei Aspekte betrachten: Die gesamtgesellschaftliche Situation der Bundesrepublik spielt ebenso eine Rolle wie die internen Besonderheiten der russischsprachigen Community und die gezielte Einflussnahme von außen.
Zudem ist die Gruppe der Russischsprachigen in Deutschland sehr vielfältig. Mit geschätzten 1,4 (so das Statistische Bundesamt) bis 4 Millionen (wie die Verbände der Russlanddeutschen behaupten) Bürgern, stellen die (Spät-)Aussiedler die größte Gruppe. Hinzu kommen die jüdischen Zuwanderer aus Russland, seit 1989 ungefähr 220 000 Menschen, deren Zahl aufgrund demografischer Besonderheiten heute aber wesentlich kleiner sein dürfte. Schließlich gibt es noch viele russische Migranten ohne jeglichen Bezug zu den beiden anderen Gruppen, unter denen aber ebenfalls die kämpferische Stimmung der „besorgten Neubürger“ verbreitet ist und die für eine Mobilisierung aus Russland anfällig sind. Von dieser insgesamt also recht großen Bevölkerungsgruppe russischsprachiger Einwohner sind zu Beginn dieses Jahres etwa 10 000 Menschen auf die Straßen gegangen. Eine Zahl, die gemessen an der Gesamtzahl der Russlanddeutschen überschaubar ist, aber groß genug ausfällt, um einen beunruhigenden Trend festzustellen.
Allerdings muss man diesen Trend auch in den gesellschaftlichen Kontext einordnen. Aussiedler sind schließlich nicht die einzigen Bürger, die durch die Flüchtlingskrise verunsichert sind. So waren bei Umfragen des DIW im Januar und Februar 2016, also zu der Zeit der „Aussiedler“-Demos, 57 Prozent der Befragten der Meinung, dass Deutschland durch die Aufnahme von Flüchtlingen zu einem eher schlechteren Ort geworden ist; lediglich 19 Prozent deuteten die Entwicklung positiv. Die Vorfälle in der Kölner Silvesternacht und die anschließende Berichterstattung ließen grüßen. Die Ansichten bei den Russlanddeutschen entsprechen somit bloß der gesamtdeutschen Stimmung aus Verunsicherung und Polarisierung. Dafür sprechen auch die Wahlergebnisse für die AfD in Hessen und Sachsen-Anhalt, wo Aussiedler im Gegensatz zu Baden-Württemberg keinen besonders hohen Anteil an der Bevölkerung ausmachen. Und bei rechtspopulistischen Bewegungen wie Pegida ist die Beteiligung der Russlanddeutschen nach übereinstimmenden Berichten nicht besonders auffällig.
Dennoch wäre es falsch, die Einstellungen unter den Russlanddeutschen gänzlich auszublenden. Dabei sind sowohl spezifische Erfahrungen als auch politische Prädispositionen der Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion von Bedeutung. Eine große Rolle spielt die post-sowjetische Mentalität: Die meisten Menschen aus dem post-sozialistischen Raum fremdeln mit der liberalen Demokratie europäischer Prägung. Sie denken nationalstaatlich, sind skeptisch gegenüber der Idee eines liberalen Multikulturalismus und reduzieren Demokratie auf das Diktat der Mehrheit. Ein gehemmter Umgang mit Sexualität, patriarchale Männlichkeitsvorstellungen und die Ablehnung jeglicher sexueller Vielfalt treffen auf starke Familienbande und den Hang zu imaginierten Traditionen. Hinzu kommt bei vielen Spätaussiedlern eine starke Bindung an kirchliche und freikirchliche Einrichtungen.
Stolze Deutsche, zu Fremden degradiert
Die Spätaussiedler weisen zudem eine gewichtige Besonderheit auf: Sie betrachteten sich schon immer als Deutsche – zunächst in der Sowjetunion, wo sie und ihre Vorfahren als Deutschstämmige verfolgt und verbannt wurden, und erst recht nach ihrer Ankunft in der Bundesrepublik. Die Aussiedler sind als stolze Deutsche nach Deutschland gezogen, wurden hierzulande dann aber zu „Fremden“ degradiert. Die Wirklichkeit des Einwandereralltags, die faktische Zurückweisung ihrer deutschen Herkunft durch die deutsche Gesellschaft, die Vernachlässigung ihrer Interessen von den politischen Parteien, aber auch die eigenen Erlebnisse mit anderen Zuwanderern in gesellschaft-lichen Brennpunkten während der Ankunftszeit haben bei vielen Russlanddeutschen Spuren hinterlassen.
Anders, aber nicht weniger schmerzhaft war die Enttäuschung bei Teilen der jüdischen Zuwanderer. Sie schöpften ihre besondere Legitimation zur Einwanderung aus der tragischen deutsch-jüdischen Geschichte. Zahlreiche Vertreter dieser Zuwanderungsgruppe waren selbst Überlebende des Holocaust, fast alle kommen aus betroffenen Familien. Doch auch sie, die in ihren Herkunftsländern häufig als Juden diskriminiert wurden, bekamen in Deutschland einfach den Stempel als „Russen“ aufgedrückt und fühlten sich herabgesetzt. Die Älteren unter ihnen dürfen sich im Gegensatz zu den Russlanddeutschen nicht einmal Rentner nennen. Ihre Lebens- und Leidensgeschichten werden ignoriert.
Schließlich müssen auch noch die (erfolgreichen) Migrationsgeschichten der jüngeren Russlanddeutschen im öffentlichen Bewusstsein oft den Migrationsgeschichten anderer Zuwanderergruppen weichen. So werden meist nur „die Türkeistämmigen“ der zweiten und dritten Generation als die eigentlichen Migranten wahrgenommen. Die Russischsprachigen hingegen sind in der deutschen Gesellschaft weder Deutsche noch Migranten geworden. Als „Russen“ blieben sie im Zwischenraum der öffentlichen Wahrnehmung hängen und man überließ sie vielfach ihren eigenen konservativen Einstellungen, Stereo-typen und Migrationstraumata.
Putin spricht von seinen »Landsleuten« im Westen
Aufgrund genau dieser Vernachlässigung sind viele Russlanddeutsche empfänglich für die Seelenfänger aus rechtspopulistischen Parteien und für Instrumentalisierungsversuche aus den kremlnahen Medien. Hinzu kommt, dass die Einflussnahme auf „Auslandsrussen“ aus Moskau lange strategisch vorbereitet wurde. So entstanden seit Beginn der Ära Putin zahlreiche staatliche Outreach-Programme, die ihre Zielrichtung zunehmend auf die westlichen Länder ausgeweitet haben. Sprach man in den neunziger Jahren meist noch von Emigranten, so ist seit einem Jahrzehnt verstärkt von der „russischen Diaspora“ oder den „Landsleuten“ im Westen die Rede. Bei einem Kongress für Auslandsrussen im Jahr 2006 betonte Wladimir Putin, dass „die russische Diaspora gewissermaßen ein Teil Russlands“ bleibe, die mit „dem Zentrum der russländischen Zivilisation – dem russischen Staat“ fest verbunden sei. Bei einem ähnlichen Kongress drei Jahre später sprach Putin bereits von dem Ziel, einen gemeinsamen informationellen Raum mit den Auslandsrussen zu schaffen und „ihre solidarische Haltung gegenüber Russland“ zu stärken. Ideologisch wurde diese Verbindung mittels Informationskampagnen über die „Entrechtung“ und „Diskriminierung“ der russischen Diaspora im Ausland unterfüttert, wobei es zunächst vor allem um die russischsprachige Bevölkerung in den zentralasiatischen Staaten und im Baltikum ging.
Besonders persistent war die Berichterstattung über angebliche Diskriminierungen dann, wenn es um den Umgang mit Kindern, Elternrechten, Adoptionen oder Sexualunterricht ging. So sorgen russische Medien immer wieder für Schlagzeilen über russischsprachige Mütter, denen im Ausland das Sorgerecht für ihre Kinder entzogen wird – ob in Finnland, Schweden oder auch in Deutschland. Im Jahr 2014 etwa erschienen mehrere Berichte über Kinder in Norwegen, die vor allem russischen Eltern weggenommen worden seien. Eine dubiose Organisation namens „Russische Mütter“ wurde als Kronzeugin für die „Missstände“ in Norwegen ins Feld geführt. Und in einer 30-minütigen Reportage im drittgrößten TV-Sender NTW wurde berichtet, wie norwegische Behörden im Schnitt alle zwei Stunden drei Kinder ihren Eltern wegnehmen und wie russische Mütter ihre Kinder dann zwangsweise zur Adoption freigeben mussten – natürlich häufig an schwule Eltern. Die anschließende mediale Diskussion führte zu einer lang anhaltenden antiwestlichen Berichterstattung und mündete sogar in gesetzlichen Verboten von Adoptionen russischer Kinder durch amerikanische Bürger (später auch Bürger aus Staaten, in denen gleichgeschlechtliche Ehen zugelassen sind).
Der Boden für »Lisa« wurde langfristig bereitet
Eine neue Qualität der Einflussnahme zeigte sich bei der Kampagne russischer Medien gegen den Sexualunterricht in Deutschland im Jahr 2015. Zum ersten Mal wurden auch hierzulande – vor allem in den Reihen der „Besorgten Eltern“ – deutsche Stimmen mit russischem Akzent unüberhörbar. Parallel dazu tauchten im russischen Fernsehen „besorgte“ russlanddeutsche Eltern auf, die erschreckende Geschichten über den Sexualkunde-Pflichtunterricht für ihre Kinder erzählten und über zahlreiche Eltern berichteten, die in Deutschland in Zwanghaft gelandet seien, weil sie sich weigerten, ihre Kinder in die Schulen zu schicken. Das Thema wurde in den russischen Medien aktiv skandalisiert und spielte auch bei russischsprachigen Politikern in Deutschland eine Rolle – etwa im Wahlkampf des jungen CDU-Abgeordneten Nikolaus Haufler, der damals um den Wiedereinzug in die Hamburger Bürgerschaft kämpfte.
Der „Fall Lisa“ und die Berichterstattung darüber sind somit nur der logische Höhepunkt einer längeren Entwicklung. So war das russischsprachige Publikum in Deutschland durch die skandalisierende Berichterstattung russischer Medien zur Fluchtmigration bereits hoch emotionalisiert, als die angebliche Vergewaltigung publik wurde. Der Boden für die thematische Verquickung sensibler Themen (Kinderschutz, Sexualdelikte, Entrechtung der Russen und Straflosigkeit der Flüchtlinge) ist jahrelang vorbereitet worden. Hinzu kommt eine generell antieuropäische Berichterstattung, die den Kontinent als eine verweichlichte, dekadente und naive Gesellschaft darstellt. Es brauchte also nur einen kleinen Funken, um das Feuer der Proteste bei den Russlanddeutschen zu entfachen. Beispielsweise berichtete der größte russische Fernsehsender ORT über die erste Demonstration zum „Fall Lisa“. Dass ausgerechnet die NPD diese Demo organisiert hatte, wurde diplomatisch verschwiegen. Es folgten zahlreiche Berichte in russischen Medien, die über die „Vergewaltigung“ des Mädchens, eine Einschüchterung seiner Familie durch deutsche Behörden und die vermeintlichen Lügen der westlichen Medien berichteten.
Moskau kann in Deutschland Massen mobilisieren
Unklar bleibt, ob der konkrete Vorfall und die folgende Kampagne von Russlands staatlichen Stellen gezielt geplant oder organisiert wurden. Fest steht aber, dass er nahtlos in die bisherige Berichterstattung über Deutschland passt. Und es ist offensichtlich, dass hierbei auch die gepflegte ideologische Nähe russischer Staatsorgane zu populistischen und rechtsradikalen Gruppen in Europa zum Tragen kam. Beobachter wie Stefan Meister von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) sehen die Instrumentalisierungsversuche im Fall Lisa zwar als gescheitert an, man sollte sie aber als ernsthaftes Warnsignal betrachten: Mittels seiner Medien ist es Russland gelungen, innerhalb kürzester Zeit eine beträchtliche Zahl deutscher Bürger für Proteste zu mobilisieren. Wahrscheinlich hat der russische Medieneinfluss auch zum jüngsten Erfolg der AfD beigetragen.
Allerdings können diese Versuche russischer Einflussnahme in Deutschland überhaupt nur verfangen, weil sie an die Einstellungen und Erfahrungen der russischsprachigen Menschen als medial und politisch vernachlässigte Gruppe anknüpfen konnten. Der einzige Weg, einer erneuten fern-gesteuerten Mobilisierung dieser Gruppe entgegenzuwirken, ist eine intensive Auseinandersetzung mit den politischen und sozialen Sorgen der russischsprachigen Bevölkerung. Nur so kann man das Bild einer schwachen europäischen Gesellschaft entkräften. Und nur so lassen sich solche Fälle medialer Übergriffigkeit vermeiden.