Die Abweichung wird zur Norm
„Diversität als Erfolgsfaktor“, fasst Thomas Sattelberger den Schwerpunkt der letzten Ausgabe der Berliner Republik treffend zusammen. Aber was heißt das konkret? Wir alle wissen: Eine hohe Gruppenkohäsion führt zu einheitlichen Lösungsvorschlägen, weil nur wenige Alternativen berücksichtigt werden. Die Wahrscheinlichkeit von Fehlentscheidungen steigt. Aber was ist die Alternative? Wir müssen verstehen, dass gute Ergebnisse – ob im privaten, im öffentlichen oder im beruflichen Leben – einen Prozess voraussetzen, bei dem möglichst unterschiedliche Menschen mit verschiedenen Meinungen um die beste Lösung ringen.
Es reicht nicht aus, eine Frauenquote einzuführen, wenn sich diese Frauen dann an männliche Produktions- und Karrieremechanismen anzupassen haben. Wir brauchen Veränderungen, die weit darüber hinausgehen. Was männlich und was weiblich ist, wird von Kultur zu Kultur unterschiedlich, aber in der Regel von Männern definiert. Das macht das Leben einfacher. Männer können schlecht zuhören und Frauen schlecht einparken. Der zuhörende Mann ist ein Softie, die Frau, die gut einparkt, eine Emanze. Gewiss, Schubladen sind in einem gewissen Maß erforderlich, um in einer komplexen Welt zu bestehen. Schwierig wird es, wenn wir nur vier davon haben und die Zuordnung irreversibel ist.
Warum die erfolgreiche Polizistin nicht Leiterin einer Mordkommission werden könne, erklärte mir ein ehemaliger Kollege einmal so: „Bei Jugendkriminalität ist ein kooperativer Führungsstil vielleicht sinnvoll, aber bei der Mordkommission bekommt man nur Respekt, wenn man mit der Faust auf den Tisch haut.“
Sind wir heute schon weiter? Zumindest gibt es bereits einige Beispiele für flexible Lösungen, besonders bei der Arbeitszeitgestaltung. So können Schichtpläne heutzutage häufig nach den eigenen zeitlichen Bedürfnissen erstellt werden. Natürlich erfordert dieses Modell viel Abstimmung und weniger hierarchische Führung. Aber was jahrzehntelang als zu anarchisch abgelehnt wurde, funktioniert in der Praxis sehr gut.
Hingegen wehrte sich die Arbeitgeberseite jüngst vehement dagegen, folgenden Satz in ein politisches Dokument zu schreiben: „Bei Beschäftigten mit Familienpflichten sind Umfang und Lage der Arbeitszeit mit diesen abzusprechen.“
Das zeigt unser Dilemma. Und deshalb reicht es mir nicht mehr, immer neue Ausnahmen zu schaffen: für Menschen mit Kindern oder pflegebedürftigen Angehörigen oder für die Ausübung bestimmter Religionen. Ich möchte eine inklusive Gesellschaft und Arbeitswelt, in der Abweichung die Norm ist.
In der Verkehrspolitik versucht man gerade, diesen Anspruch mit den „gemeinsamen Verkehrsflächen“ einzulösen: Alle können sie nutzen, niemand hat Vorfahrt – und jeder nimmt auf den anderen Rücksicht. Zugegeben: So ganz funktioniert dieses Konzept noch nicht. Es gibt immer noch einige, die das Recht des Stärkeren für sich in Anspruch nehmen. Das führt manchmal zu brenzligen Situationen. Aber ich bin überzeugt: Dies sind Übergangserscheinungen, denn an der gleichberechtigten Nutzung aller führt kein Weg vorbei.
Was für die Verkehrsflächen zutrifft, gilt auch für die Gesellschaft. In unserer schnelllebigen Welt benötigen wir kreative Prozesse, die flexible Lösungen hervorbringen. Die Voraussetzung dafür ist eine vielfältige Lebens- und Arbeitswelt. Diese wird nicht ohne Einschränkungen möglich sein, aber auch neue Freiheiten mit sich bringen: Einige von uns werden Macht abgeben müssen, andere werden lernen müssen, sie sinnvoll zu nutzen.
Die spannende Frage lautet: Wie viel Konformität ist für den Arbeitsprozess unerlässlich, und wie inklusiv kann Arbeit organisiert werden? Bis wir darauf eine gemeinsame Antwort gefunden haben, ist es noch ein weiter Weg. Gerade deshalb sollten wir ihn endlich etwas zügiger gehen.