Die bitter schmeckende Kost der Ethik

Der Philosoph Julian Nida-Rümelin schreibt über die Grenzen der Zuwanderung und die Notwendigkeit gesicherter Staatsgrenzen

Als Julian Nida-Rümelin im Jahr 2001 die Nachfolge Michael Naumanns im Amt des Kulturstaatsministers antrat, gab er seine Maxime aus: „In der Ruhe liegt die Kraft.“ Damit gelang es ihm beispielsweise, die Bundeskulturstiftung beharrlich in Gang zu setzen. Beim hochexplosiven Themenkomplex Migration bedarf es erst Recht der von ihm postulierten Nüchternheit in der Analyse und unaufgeregten Bestimmtheit im praktischen Handeln. Der Münchner Philosophieprofessor möchte eine Brücke zwischen Ethik und Politik schlagen, empirische und normative Fakten zur Geltung bringen. Als „ethischer Realist“ will er Wege aufzeigen, wie man aus den Schablonen eines festgefahrenen und größtenteils vergifteten Migrationsdiskurses herauskommt, in dem die willkommenseuphorischen Moralisten häufig des „Gutmenschentums“ geziehen, die skeptischen Realisten als „Extremisten der Mitte“ charakterisiert und verschreckte Bürger mit dem Gaga-Befund der „German Angst“ auf die Couch verwiesen werden. Nida-Rümelin fordert eine Abkehr von solchen Stereotypen, stattdessen sei eine globale Orientierung angesagt.

Aber auch die Vertreter seiner akademischen Disziplin dürften nicht länger in einer splendid isolation verweilen. Der Autor mischt sich mit einer „kohärentistischen“ Position ein, was bedeuten soll, dass es den allwissenden Ansatz nicht gibt, von dem aus sich alle Fragen beurteilen lassen. „Die Sachverhalte sind komplex, sie erfordern ethische Urteilskraft. Der Versuch, diese Komplexität loszuwerden, indem man eine Position postuliert und daraus seine Forderungen an die internationale Gerechtigkeit ableitet, muss scheitern. Wir müssen also dem verständlichen Bedürfnis nach Übersichtlichkeit und Eindeutigkeit entgegentreten und für Offenheit, Differenziertheit und Komplexität werben.“ Nach dieser Annahme muss nichts auf ewig gelten, alles kann in Fluss geraten und sich ändern, was Nida-Rümelin an der Sklaverei historisch zu exemplifizieren versucht. Diese sei lange Zeit akzeptiert worden, bis die Überzeugung gewachsen war, dass es sich dabei auch dann um ein grundsätzliches Unrecht handele, wenn in einer bestimmten Kultur, beispielsweise in der Antike, die Sklaverei als ganz normaler Teil der Lebensform gegolten hat.

Lokalismus und Weltbürgertum

Nida-Rümelin geht es als ethischem Philosophen auch um die Überwindung zweier konträrer Paradigmen: zwischen dem Kommunitarismus, der partikularistisch auf die Zugehörigkeit zu kulturellen und politischen Gemeinschaften rekurriert, und einem universalistisch verpflichteten Kosmopolitismus, der das Prinzip der gleichen menschlichen Würde in den Vordergrund stellt. Der weit gereiste frühere Münchner Kulturpolitiker beharrt darauf, dass Kosmopolitismus mit Gemeinschaftsbindungen verträglich sein muss. Die Orientierung an einer lokalen Gemeinschaft und eine weltbürgerliche Einstellung sind danach keine gegensätzlichen Motive.

Eine Migrationsethik, wie sie Nida-Rümelin vertritt, beginnt bei der globalen Verantwortung. Darunter versteht er, Gründe vernünftig abzuwägen, einen ethisch akzeptablen Interessenabgleich vorzunehmen, um die eigene Praxis in eine gerechtfertigte Struktur einer kollektiven Praxis zu bringen. Globalisierung hebe die menschliche Handlungsverantwortung wegen „zu großer Reichweiten und Unübersichtlichkeiten“ keineswegs auf. Am Beispiel des „Klimawandels“ lässt sich hochaktuell demonstrieren, wie sehr das Prinzip der „Mitverantwortlichkeit für die Entwicklung der Welt“ in Konflikt zur politischen Praxis geraten kann. Aufwendige Konferenzen werden abgehalten, Postulate feierlich verkündet, Resolutionen als Durchbruch bejubelt. Aber eine kohärente Praxis sieht anders aus.

Wider die bloße Gesinnungsmoral

Wenn es um den Themenkomplex Migration im weiteren Sinne geht, also um Asyl, Flüchtlingsbewegung oder um heikle Fragen der Integration oder Abschiebung, bezieht der überzeugte Pragmatiker dezidiert Gegenpositionen zu häufig nur gesinnungsmoralisch argumentierenden Freunden aufseiten der politischen Linken, auch wenn ihm deren humanitäre Motive durchaus sympathisch sind.

So fußt seine Migrationsethik auf einer unbequemen Position: dass die Aufnahme von Armutsflüchtlingen aus dem globalen Süden keinen vernünftigen Beitrag zur Bekämpfung von Weltarmut und Elend darstelle. Zudem wird häufig vergessen, dass die hier ankommenden Armutsflüchtlinge nicht zu den Hilfebedürftigsten, zur bottom billion zählen, vom starken gender bias – zwei Drittel der Migrierenden sind Männer zwischen 14 und 34 Jahren – nicht erst zu reden. „Die Hoffnungslosigkeit der Lage in den Herkunftsregionen verstärkt sich durch ihre Auswanderung in den meisten Fällen.“ Denn der Aufwand für die transkontinentale Wanderung sei viel zu hoch – an Lebensgefahren für die Flüchtenden, an Integrationskosten für die Einheimischen, an Kulturverlust für die Migrierenden einschließlich der enormen sozioökonomischen Verluste aufseiten der Herkunftsländer. Schlimmer noch und brutal gesprochen: Die Qualifikationen der Immigranten werden auf dem europäischen Arbeitsmarkt nicht gebraucht; auf den Tätigkeitsfeldern ungelernter Hilfskräfte gibt es bereits eine hohe einheimische Arbeitslosigkeit.

Wann ist Integration sinnvoll?

Die Vorstellung, dass sich die Bevölkerung in den Reichtumsregionen um 800 Millionen verdoppeln müsste, um einen positiven Einwanderungseffekt zu haben, zeige allein schon, wie absurd diese humanitäre Vorstellung einer Bekämpfung von Hunger und Elend sei. Bitteres Fazit: Die Erwartung, ein besseres Leben in unserer europäischen Wohlstandsregion aufzubauen, wird nur für einen winzigen Bruchteil der hier Ankommenden realisierbar sein.

Nida-Rümelin verweist auch darauf, dass Bürgerkriegsflüchtlinge aus der so genannten MENA-Region, also aus dem Mittleren Osten und Nordafrika, andere ethische und völkerrechtliche Fragen auslösen als afrikanische Armutsflüchtlinge. So muss es in den Augen der Willkommenseuphoriker geradewegs einem Sakrileg gleichkommen, wenn Gerhard Schröders früherer Kulturminister die Integration von Bürgerkriegsflüchtlingen für wenig sinnvoll hält. Der nüchterne Grund liege im Widerspruch zum Geist der Genfer Flüchtlingskonvention: „Es gibt eine Verpflichtung, Menschen die vor Bürgerkrieg und Krieg fliehen, aufzunehmen, sie anständig zu versorgen und zwar mit Unterstützung der Weltgemeinschaft als Ganzer. Von der Logik her ist aber die Sache so gedacht, möglichst nahe an den jeweiligen Konfliktregionen, damit nach Ende des Konfliktes diese Menschen sich wieder am Aufbau ihrer zerstörten oder von Kriegsfolgen betroffenen Regionen beteiligen.“

Aber auch die stattdessen empfohlene kontrollierte Einwanderung ist – kosmopolitisch und humanistisch betrachtet – aufgrund des von ihr verursachten Braindrains hochproblematisch, also des massiven Verlusts an Innovationskraft in den Herkunftsländern. Einer der zentralen Punkte in Nida-Rümelins Migrationsethik ist deshalb ein Schädigungsverbot gegenüber den zurückgebliebenen Ländern, Kulturen und Regionen. Es könne nicht sein, dass beispielsweise ein ostafrikanischer Staat wie Somaliland in die Ausbildung von Krankenschwestern investiere, die aber als Absolventinnen hinterher zur Hälfte in westeuropäischen Kliniken arbeiteten, weil die Aufnahmeländer es versäumt hätten, selbst für Nachwuchs zu sorgen. Folglich seien bei einer kontrollierten Migrationspolitik die Interessen der Herkunftsländer und der aufnehmenden Länder gleichermaßen zu berücksichtigen. Zudem sei es unumgänglich, die Einwanderung so zu organisieren, dass sie hier sozial akzeptabel sei – über alle Bevölkerungsschichten hinweg.

Intellektuelle auf der schiefen Bahn

Der vielleicht umstrittenste Punkt der Migrationsethik Nida-Rümelins ist aber die These, die Sicherung staatlicher Grenzen sei ethisch legitim. Eine Welt der offenen Grenzen und der freien Migration könne es nicht geben. Natürlich setzt er dabei nicht auf rigide Grenzregime à la Viktor Orbán, aber auf eine funktionierende Administration, die Geflüchtete nicht bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag im Ungewissen lässt und sie am Ende doch ins neuerliche Elend der Abschiebung zurück schickt.

Dem Typus des von Hause aus eher globalisierungskritischen Intellektuellen, der in der Flüchtlingsdebatte für offene Grenzen plädiert, attestiert Nida-Rümelin, auf die schiefe Bahn libertär-marktradikaler Globalisierungsfanatiker geraten zu sein. „Ich argumentiere kosmopolitisch: Wir haben ein Interesse daran, dass nicht nur ökonomische Abläufe die Welt steuern, sondern dass wir politisch einen Rahmen setzen, politischen Gestaltungsspielraum haben, zu dem auch die Sozialstaatlichkeit ganz zentral gehört. Wer das Aufrechterhalten will, der braucht funktionierende Staatlichkeit. Und die kann nur funktionieren, wenn auch Grenzen gesichert werden.“ Neben der Armutsmigration und der Einwanderung von Bürgerkriegsflüchtlingen lehnt Nida-Rümelin auch eine rational austarierte Arbeitsmigration ab: „Eine Welt unbeschränkter Arbeitsmigration ist nicht wünschenswert. Damit könnte das Modell einer sozialstaatlichen modernen Demokratie als Ganzes scheitern.“

Die Früchte der fairen Kooperation

Migration hat überhaupt nur dann eine Chance akzeptiert zu werden, wenn sie wirksam staatlich gesteuert und kontrolliert wird. Und dies impliziert zweifelsfrei zügige Abschiebungen und die Verhinderung unguter Ghettobildungen in den Großstädten. Der Autor rückt zurecht: „Das kollektive Selbstbestimmungsrecht einer in einem Staat organisierten Bürgerschaft liegt in der legitimen Entscheidung, wie sie leben möchte, mit wem sie leben möchte, ob sie kulturelle soziale und ökonomische Veränderungen akzeptiert oder nicht.“

Anhand abschreckender amerikanischer Beispiele warnt Nida-Rümelin schon seit Jahren vor der stillschweigenden Hinnahme von Parallelgesellschaften und einem realitätsfernen multikulturellen Ideal. Es sei illusionär, eine Demokratie so gestalten zu wollen, als könnte man unterschiedliche Kollektive und Identitäten zu einem Modus vivendi zusammenfügen.

Integration nur auf die soziale Frage zu reduzieren, gleichsam auf eine Arbeitsplatzbeschaffungsmaßnahme, mit dem Grundgesetz und obligatorischen Sprachkursen so ganz nebenbei, genüge nicht. Nida-Rümelin fordert mehr als nur Rechtstreue, nämlich ein „einigendes Band“ der Kooperation, der alltäglichen Verständigung, von Verhaltensweisen, des Respekts. Und das funktioniert nicht, wenn die primären Identitäten der Menschen über die einzelnen Kulturen laufen und sie dann untereinander sogar in einem Freund-Feind-Verhältnis stehen. „Das ist keine gute Basis für eine Demokratie“, befindet der Philosophie-Professor, der seinen sozialdemokratischen und linksliberalen Freunden mit den wohltuend unpolemisch vorgetragenen Einsichten seiner Migrationsethik eine bitter schmeckende Kost vorgesetzt hat. Er rät eindringlich dazu, die Gründe für die Wahlniederlage Hillary Clintons und der Demokraten im November 2016 genauer zu studieren. „Eine politische Linke oder eine linksliberale politische Position, die das nicht ernstnimmt, die hat schon verloren.“

Humanismus könne in Utopismus umschlagen und Pragmatismus in technokratische Praxis. Julian Nida-Rümelins kosmopolitische Empfehlung versteht dagegen die Weltgesellschaft als eine Form der Kooperation, deren Früchte in fairer Weise eingesetzt werden sollten, um „ein Leben nach eigenen Vorstellungen“ zu ermöglichen.

Julian Nida-Rümelin, Über Grenzen denken: Eine Ethik der Migration, Hamburg: Edition Körber-Stiftung 2017, 242 Seiten, 20 Euro

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