Die Bürgergesellschaft - eine süße Utopie

Sind die großen Erzählungen tatsächlich Geschichte? Nicht ganz. Wo die alten Träume erloschen sind, ist ein neuer erwacht. Doch von der Bürgergesellschaft wird zu viel erwartet

Sie gehört in jedes gute Tagungsprogramm einer Evangelischen Akademie. Die Symposien der diversen Stiftungen kommen ohne sie nicht aus. Keine bundespräsidiale Ansprache lässt sie unerwähnt. Selbst der ganz unpathetische Kanzler bekennt sich zu ihr. Und auch die Herren Stoiber, Westerwelle, Kuhn, natürlich ebenfalls Frau Merkel, befürworten sie eifrig. Die Bürgergesellschaft. Ein wenig salopp ausgedrückt: Die Laudatio auf die Bürgergesellschaft ist mittlerweile zum Gassenhauer erhabener Fest- und Feiertagsansprachen der bundesdeutschen politischen und reflexiven Klasse geworden.

Das könnte einen misstrauisch genug machen. Denn man weiß ja: Feiertagsrituale haben mit dem profanen Alltag oft nicht viel zu tun; sie dienen eher der Meditation, oft bloß der Kompensation. Doch die eigentlichen Erfinder und Apostel der Bürgergesellschaft meinen es bitter ernst. Sie fechten für ihre Sache im Stile klassischer Ideologen. In den vergangenen Jahren hat man oft lesen können, dass die Zeit der "großen Erzählungen" vorbei sei. Doch das Drehbuch der Bürgergesellschaft ist ganz nach dem Muster einer "großen Erzählung" verfasst. Es kennt das Böse: Den gängelnden Staat. Es kennt die Pioniere der Befreiung: Die Bürgerinitiativen, Selbsthilfegruppen, Nachbarschaftshilfen. Und es kennt das gelobte Land: Eben die Bürgergesellschaft. Das alles reicht bis zur Sprache, die kontrastierend eingefärbt ist und bipolare Synopsen liebt. Die Bürgergesellschaft ist licht, leuchtend, froh, ein großes Glück - die Staatsgesellschaft ist düster, bedrückend, lastend, ein schlimmer Alp.

So haben alle Ideologen zu allen Zeiten die Welt beschrieben. Und so ist das auch bei den Ideologen der Bürgergesellschaft, die sich gewiss für ganz unideologische Menschen halten. Aber der Anspruch der "Bürgergesellschaft" ist vielfach hybrid genug. Es geht nicht einfach nur um die - fraglos begrüßenswerte - Eigeninitiative verantwortungsbewusster Bürger, es geht um die große gesellschaftliche Alternative, um den strukturellen Ersatz etwa der parteienstaatlichen Institutionen. Aber kann bürgergesellschaftliches Engagement den Verlust des Vertrauens in die politischen Parteien wirklich kompensieren?

Natürlich ist die Sorge, die hinter einer solchen Frage steckt, allzu verständlich. Denn in der Tat erfüllen Parteien immer weniger die Aufgabe, die ihnen ursprünglich zugedacht war. Eigentlich sollten Parteien zwischen Staat und Gesellschaft Brücken bauen. Sie sollten in die Gesellschaft hineinhorchen, Ängste, Bedürfnisse, Interessen kennen, aufnehmen, bündeln, aggregieren und sodann in das politische System hinein vermitteln. Parteien hatten mithin Filter zu sein, als Puffer zu fungieren, sollten eine gleichsam osmotische Beziehung zwischen regierenden Eliten und regiertem Volk herstellen. Es gab im 20. Jahrhundert auch einige Jahrzehnte, da kamen die Parteien - wenngleich keineswegs alle - diesem (Selbst-)Anspruch durchaus nahe. Vor allem die katholischen und sozialistischen Parteien hatten sich früher über allerlei Vorfeldorganisationen tief im Alltagsleben ihrer Wählergruppen eingegraben und vertäut. Sie waren basisnah und "grasverwurzelt". Sie prägten ihre Mitglieder und Teile ihrer Wählerschaft nicht nur politisch, sondern auch normativ und kulturell. Sie konnten ihre Anhänger noch bei Bedarf mobilisieren, konnten sie gezielt in die Kampagne schicken. Sie durften sich lange, auch in schwierigen Zeiten und bei unpopulären Entscheidungen, auf die Loyalität ihrer Kerngruppen verlassen.

Aber irgendwann in den sechziger und siebziger Jahren wurde die Bindung zwischen den Parteien und ihren ursprünglichen Trägerschichten brüchig. Die erklärenden Stichworte für diesen Erosionsprozess sind hinreichend häufig gefallen und können hier knapp gehalten werden: die Menschen wurden selbstständiger, eigensinniger, säkularisierter; sie brauchten nicht mehr die großen Weltanschauungen und politischen Organisationen als kollektive Schutz- und Stoßtrupps ihrer Interessen. Dadurch lockerten sich die Fäden, welche die politischen Eliten bis dahin noch mit den gesellschaftlichen Lagern verknüpften. Die Parteien koppelten sich mehr und mehr von der Gesellschaft ab, kompensierten indessen ihre sozialen Einflussverluste durch großzügige staatliche Subventionen und kräftige Personalpatronage in den staatlichen und halbstaatlichen Einrichtungen, wodurch sie sich aber noch weiter vom Volke entfernten. Am Ende beschränkten sich die Parteien, nach dem Auslaufen ihrer intermediären Vermittlungsrolle und ihres programmatischen Deutungsanspruchs, auf die Rekrutierung des politischen Personals für Parlamente und Regierungen. Doch auch die Elitenrekrutierung vergrößerte den Abstand zur Gesellschaft. Das Gros der politischen Klasse kam und kommt aus dem öffentlichen Dienst, so dass Parteien und Parlamente die soziale Schichtung der Gesellschaft nur verzerrt wiedergeben und höchst einseitig repräsentieren.

Bildung gleich Kompetenz gleich Partizipation gleich Engagement?

Zu schlechter Letzt führte die Entkopplung von Parteien und Gesellschaft in die Entfremdung. Das Jahrzehnt dieser Entfremdung waren vor allem die neunziger Jahre mit ihren zyklischen Debatten über Parteienkrisen und Parteienvordrossenheit. Die Symptome waren offensichtlich: Der Anteil der Stammwähler schmolz zusammen; die Beteiligung an Wahlen ging zurück; die Zahl der Parteimitglieder schrumpfte beträchtlich. Vor allem jüngere Menschen zog nichts mehr in die spannungslose Hinterzimmerkultur der Ortsvereine. Auffällig war zudem, dass sich sowohl die neuökonomischen Eliten als auch das neue Unten aus Langzeitarbeitslosen und Sozialhilfeempfängern teils gleichgültig, teils auch aggressiv-verächtlich vom Betrieb der Parteien abwandten und sich jeder Teilhabe am Politischen rigide verweigerten. Darin bestand - und besteht noch immer - die Legitimationskrise des Parteienstaats.

Hier nun setzt der bürgergesellschaftliche Anspruch an. All die neuen und alten bürgergesellschaftlichen Initiativgruppen, Selbstorganisationen und Assoziationen sollen künftig den intermediären Raum zwischen Privatsphäre und Staat füllen, den die Parteien im Zuge ihrer Etatisierung verlassen und freigegeben haben. Dabei berufen sich die Künder der Bürgergesellschaft gern und durchaus zu Recht auf den großen Demokratietheoretiker des frühen 19. Jahrhunderts, Alexis de Tocqueville, für den die freiwillige Organisation der Bürger die Voraussetzung und die Substanz schlechthin einer freiheitlichen Gesellschaft war. Was zur Zeit von Tocqueville plausibel war, muss nach bürgergesellschaftlicher Überzeugung erst recht für den Beginn des dritten Jahrtausends gelten. Schließlich hat sich das gesellschaftliche Fundament für bürgergesellschaftliche Eigenaktivitäten, hat sich die Zahl der zur autonomen Selbstorganisation befähigten Bürger seither drastisch verbreitert und vergrößert. Vor allem die Bildungs- und Wissensrevolution seit den 1960er Jahren hat viele Menschen kompetenter, selbstständiger, eigenverantwortlicher gemacht. Allein im vergangenen Vierteljahrhundert hat sich die akademische Bildungsschicht in Westeuropa etwa verdoppelt. In ihren Berufen arbeiten die Angehörigen dieser Schicht in Teams und Projekten; sie agieren dort kritisch, kommunikativ und kreativ. Und wer im Erwerbsleben kooperativ und partizipatorisch handelt, der ist dazu auch im zivilen Leben, in der Freizeit und im sozialen Kontakt in der Lage, der ist fähig und willens, Teil zu haben an der Regelung des Gemeinwohls. So jedenfalls lautet die gewissermaßen mathematisch-soziologische Formel bürgergesellschaftlicher Vordenker: Bildung gleich Kompetenz gleich Partizipation gleich bürgergesellschaftliches Engagement.

Das klingt gewiss nicht unlogisch, es wirkt faszinierend und malt die Zukunft der Demokratie in hellen Farben. Auch Politiker mögen daher die Bürgergesellschaft. Es gibt wahrscheinlich keine Landesregierung in Deutschland mehr, in der nicht mindestens ein Fachreferent für bürgergesellschaftliches oder ehrenamtliches Engagement zuständig ist. Das hat nicht so sehr mit einem jäh ausgebrochenen partizipationsdemokratischen Impetus höherer Regierungsräte zu tun, eine Menge aber mit den Nöten knapper Kassen der öffentlichen Hände: Was die Bürger selber regeln, muss der Staat nicht mehr bezahlen. Die Bürgergesellschaft also entlastet den Staat, der sich in den sechziger und siebziger Jahren wahrscheinlich weit überfordert hat. Daneben sind bürgergesellschaftliche Initiativen und Zusammenschlüsse oft Signale für neue soziale Probleme, mit denen es die Politik zu tun bekommt. Insofern ist die Bürgergesellschaft ein Frühwarnsystem für Demokratien, die so auch nach der Erschlaffung und Verstaatlichung der Parteien ihre Elastizität, Korrektur- und Veränderungsfähigkeit, im Politologenjargon: ihre Responsivität bewahren können. Und schließlich aktiviert die Bürgergesellschaft die Menschen. Sie trotzt damit der allgegenwärtigen Tendenz zur Zuschauerdemokratie, in der nörgelnde Angebotskonsumenten sich passiv durch die Programme zappen, statt aus ihrem Sessel zu kommen und sich mit Elan einzumischen. In der Bürgergesellschaft gilt also der Akteur, der mitmacht, nicht das Publikum, das bloß zusieht und sich unterhalten lässt.

Zwischen Silent Revolution und Hedonismus

So etwa lässt sich das kühne Versprechen der Bürgergesellschaft beschreiben. Es ist eine wunderschöne große Erzählung, von ähnlichem Optimismus durchdrungen wie die großen Ideologien des 19. und 20. Jahrhunderts, dabei aber doch sehr viel humaner, ziviler, republikanischer und dadurch rundum sympathisch. Und doch sollte man auch bei dieser freundlichen Erzählung die Skepsis und den Einwands nicht gänzlich beiseite lassen. Man kann jedenfalls mit guten Gründen schon an der empirischen Verlässlichkeit der soziologisch-mathematischen Formel vom Anstieg der Partizipation durch Mehrung von Bildungsabschlüssen und Eigenständigkeit zweifeln. In den siebziger und achtziger Jahren schien die Gleichung noch evident. Es waren dies die Jahrzehnte, in denen Ronald Inglehart mit seiner Interpretation der "Silent Revolution" Furore machte. In diesen beiden Jahrzehnten konnte er eine Menge schlüssig wirkender Daten dafür liefern, dass die Expansion der Bildungsabschlüsse mit postmaterialistischen Einstellungen und wachsender Partizipation einherging. Doch dann, Ende der achtziger Jahre, riss diese Kausalkette jäh ab. Der Zauber der stillen Revolution verflog; es kehrten die klassischen Brot-und-Butter-Themen zurück.

Im Grunde brauchte man zu dieser Einsicht nicht erst umständlich erhobene Belege aus breit angelegten und teuren sozialwissenschaftlichen Forschungsprojekten. Es reichte der ethnologisch geübte Blick auf den Alltag der jungen Partizipationsgeneration der achtziger Jahre, deren Zugehörige im Laufe der neunziger Jahre in die Mitte des Lebens rückten, Kinder bekamen, im Beruf hart gefordert wurden. Das alles kostete Kraft, absorbierte Energien und minderte die Partizipationsfreude beträchtlich. Die entkräftete Partizipationskohorte der "Silent Revolution" nahm daher ungefähr mit Beginn der "Berliner Republik" eine durchaus verständliche und jedermann zu gönnende Auszeit, die in gewisser Weise bis heute anhält.

Stattdessen ist nun seit einiger Zeit ein anderer Typus im Vormarsch, den die Werteforscher als hedonistischen Materialisten, kurz: "Hedomat", bezeichnen. Der kümmert sich nicht um die öffentlichen Angelegenheiten; er hält nichts von Mitwirkung, Teilhabe, sozialem Engagement. Er ist konsumorientiert, will das schnelle Geld verdienen und schnell wieder ausgeben. Er ist natürlich jung und sehr modern, ziemlich zeitgeistig, ein veritabler Zukunftstypus. Für Politik interessiert er sich nicht. Nur wenn es schlecht läuft, für ihn, sozial und ökonomisch, beginnt er zu maulen und zu motzen. Mit ihm, dem "Hedomat", wird es schwierig, eine Bürgergesellschaft zu begründen.

Der flexible Mensch hat für Gemeinsinn nicht viel Zeit

Und schließlich sind da noch die Prozesse der Individualisierung und Ökonomisierung, die die Gesellschaft mehr und mehr durchformen. Man mag das gar nicht gerne schreiben, man hat das bereits zu häufig gehört und gelesen; es klingt deshalb schon ganz leerformelhaft, abgenutzt, nach biedersinniger Kulturkritik. Aber falsch ist es dennoch nicht. Natürlich haben die Leitprinzipien der neuen Ökonomie - Beschleunigung, Mobilität, Flexibilität - ein gutes Stück des überlieferten "Sozialkapitals" aufgezehrt. Praktizierter Gemeinsinn etwa erfordert Zeit. Wer indes jeden Tag rastlos durch das Land oder zwischen den europäischen Finanzmetropolen hin und her jettet, kann vielleicht - wenn er ein guter Mensch ist - für dieses oder jenes spenden oder - wenn er auf sein Image bedacht ist - das eine oder andere sponsern. Aber für verbindliche bürgergesellschaftliche Aktivität fehlt ihm die Zeit. Wahrscheinlich braucht Gemeinsinn nicht nur Zeit, sondern auch einen festen Ort, sie braucht Erfahrung, braucht Vertrauen. Das alles lässt sich nur in dauerhaften, stabilen, konstanten Strukturen und Räumen herstellen, die der flexible, mobile neuökonomische Mensch unwiderruflich hinter sich gelassen hat. Nun wird es genug Theoretiker der Bürgergesellschaft geben, die dergleichen Bedenken für übertrieben und konservativ halten. Man wird bei dieser Gelegenheit in der Regel darauf verwiesen, dass die Zahl der Ehrenamtlichen in Deutschland keineswegs zurückgegangen sei. Das ist richtig und begrüßenswert. Aber das Problem ist damit nicht gelöst. Denn die "neuen Ehrenamtlichen", wie sie heute gern etikettiert werden, sind im Unterschied zu den Altehrenamtlichen aus Arbeiterwohlfahrt und Caritas viel diskontinuierlicher, rhapsodischer, launischer bei der Sache. Sie machen mit, solange ihnen das Ganze Spaß bereitet; sie sind im Übrigen aber weniger belastbar, viel mehr an Selbstverwirklichung als an, ja, Gemeinsinn interessiert. Das hat man gewiss nicht mit verkniffen-altbildungsbürgerlicher Ehrpusseligkeit zu beklagen, nur muss man es ebenfalls nicht als Baustein für eine intakte Bürgergesellschaft neusoziologisch schöninterpretieren.

Oft hat man sowieso den Eindruck, als gebe es eine verborgene Gemeinsamkeit zwischen marktorthodoxen Wirtschaftsliberalen und gemeinsinnigen Bürgergesellschaftern. Die Wirtschaftsliberalen glauben bekanntlich fest an die unsichtbare Hand des Marktes, die das Allgemeinwohl schon richten werde. Die Bürgergesellschafter glauben ebenso fest an die invisible hand des selbstorganisierten dritten Sektors, dessen Aktivitäten in der Summe Gemeinsinn und Gemeinwohl ergeben müssen. Das allerdings ist höchst zweifelhaft.

Denn am Ende aller Eigeninitiative muss durchaus nicht das wohlgeordnete Ganze, schon gar nicht das Gemeinwohl stehen. Die Addition von einzelnen Selbstorganisationen kann auch die tribalistische Gesellschaft bedeuten, in der selbstständige Bürgerzusammenschlüsse in rivalisierender Konkurrenz mit- beziehungsweise gegeneinander rangeln. Gemeinsinn braucht vermutlich doch zusätzlich noch so etwas wie eine spezifische Sozialmoral, einen motivierenden Ethos, eine normative Quelle, eine orientierende Weltanschauung auf das Ganze. Gewiss, das klingt furchtbar altmodisch, vermufft, nachgerade vorgestrig. Aber warum noch eigentlich sollten Menschen, aller kollektiver Verbindlichkeiten und ethischer Verpflichtungen entledigt und allein rational-ökonomisch programmiert, gemeinschaftlich handeln, solidarisch kooperieren, sich um die Anliegen von Gesellschaft scheren?

Man vergleicht die Selbstinitiativen der Bürgergesellschaft oft mit den Organisationen der klassischen Milieus im Umfeld der früheren Weltanschauungsparteien. Doch es war gerade deren Sozialmoral, es waren deren transzendentale oder innerweltliche Glaubensüberzeugungen, deren programmatische Sinnbotschaften, die diese Milieus banden und stabilisierten. Man muss diesen vergangenen Milieus nicht sentimental hinterher trauern. Schließlich haben sie die Gesellschaft lange ideologisch polarisiert und dadurch politisch-kulturell belastet. Aber ihr weltanschaulich gestütztes und durchwirktes Organisationsgeflecht war die Basis für die Integration verschiedener Generationen und verschiedener Klassen. Der religiöse Glaube und die kirchlichen Einrichtungen verknüpften im Milieu der katholischen Parteien Junge und Alte, Bauern, Bergarbeiter und Barone; die Weltanschauung und das Freizeitwesen des Sozialismus vereinten im Umfeld der Sozialdemokratie ebenfalls Jugendliche und Veteranen, Facharbeiter, Erwerbslose und jüdische Intellektuelle. Der Verlust von Sozialmoral, Weltanschauung und Glaubensüberzeugungen hat die moderne Gesellschaft zwar ideologisch pazifiziert, er hat sie dabei aber auch sozial und altersstrukturell desintegriert. In der postweltanschaulichen Gesellschaft ist besonders das "soziale Unten" aus den früheren kulturellen Behausungen herausgefallen, ist politisch verwaist, ist gleichsam heimatlos geworden.

Die Herausgefallenen haben von der Bürgergesellschaft nicht viel

Die Bürgergesellschaft wird bei der Reintegration der Herausgefallenen, Überflüssigen, Marginalisierten kaum helfen. Vielleicht im Gegenteil. Infolgedessen kann die Bürgergesellschaft auch nicht ein entscheidendes Legitimationsproblem des Parteienstaats lösen. Wie gesagt: Eher im Gegenteil. Denn Partizipation und Selbstorganisation sind keine geeigneten Instrumente zur Aktivierung und Einbeziehung des unteren gesellschaftlichen Fünftels. Die Bürgergesellschaft ist das Forum akademischer Mittelschichten, nicht das Terrain bildungsferner Sozialgruppen. In der Bürgergesellschaft tummelt sich eben nicht nur der verantwortungsbewusste und selbstlos am Gemeinwesen modellierende Citoyen - hier agiert zugleich der sozial privilegierte, seine spezifischen Interessen rüde vertretende Bürger von Besitz und Bildung. Arbeiter und Erwerbslose, das jedenfalls wissen wir aus unzähligen Studien und ähnlich vielen alltagsweltlichen Erfahrungen, sind in Bürgerinitiativen, Bürgerausschüssen, Elternräten oder was auch immer kaum beziehungsweise höchst unterrepräsentativ vertreten. Sie werden von den Mittelschichtlern mit Abitur und Hochschulabschluss an die Wand geredet und an den Rand gedrängt. Die Fähigkeit zur Partizipation ist eben gebunden an Kompetenzen: Sprachgewandtheit, Selbstbewusstsein, Informationen. Die Partizipationsgesellschaft prämiert den privilegierten Zugang zu Bildungsgütern. Bürgergesellschaftliche Partizipation verfestigt und steigert so noch die Elitenstruktur modernen Demokratien; sie konsolidiert und fördert so die Oligarchisierung des Willensbildungsprozesses. Bürgergesellschaftliche Partizipation ist dem Vermittlungs- und Aggregierungsmechanismus der parlamentarischen Demokratie und des Parteienstaats deshalb eben nicht überlegen. Im demokratischen Minimalismus der repräsentativen Demokratie, dem Wahlakt, zählt jede Stimme gleich; in der Partizipationsdemokratie der Bürgergesellschaft zählen Artikulationsfähigkeit, Rhetorik und Wissen aber mehr. Parteien und Abgeordnete müssen sich, wollen sie Wahlen gewinnen, um alle Gruppen kümmern; die Bürgergesellschaft braucht nur auf die Partizipatoren zu hören, die sich vokalisieren, organisieren, Aufmerksamkeit erzielen. In der Bürgergesellschaft, kurzum, geht die Schere noch weiter auf zwischen denen, die durch Teilhabe gesellschaftliche Integration und Dominanz erreichen, und jenem abgedrängten, zahlenmäßig keineswegs kleinen Rest, an dem die Entwicklung der modernen Wissensgesellschaft vorbeiläuft und der auf diese Exklusion mit Abwehr und Resignation, irgendwann vielleicht aber auch mit Rebellion reagiert.

Die Mehrheit der Deutschen braucht den handlungsfähigen Staat

Erst recht wird dieses "soziale Unten" weiterhin angewiesen sein auf die klassischen Solidaritäten, Schutzmechanismen und staatlichen Ausgleichshandlungen. Aber gerade im liberalen Projekt der Bürgergesellschaft gibt es für all das keinen Platz mehr. In der liberalen Bürgergesellschaft sind die Großverbände des alten industriellen Zeitalters nicht mehr vorgesehen; auch der Staat wird nur noch in drastisch abgespeckter Gestalt geduldet: nur als diskursiver Moderator gesellschaftlicher Auseinandersetzungen, nicht mehr als selbstbewusster Interventionist und Gestalter. In der liberal definierten Bürgergesellschaft existieren allein der freie Markt und die freien Kleinassoziationen freier Bürger.

Schwierigkeiten damit werden jene bekommen, die sich weder auf dem freien Markt behaupten können noch zur freien Selbstorganisation fähig sind. Man weiß nicht recht, was aus ihnen werden soll. Sie brauchen einen handlungsfähigen Staat, der robust Transfers von oben nach unten erzwingt; sie brauchen kräftige Institutionen, die entschieden ihre Interessen vertreten; sie brauchen kollektiv organisierte Versicherungssysteme, die ihnen verlässlich Schutz bieten. Keine neuehrenamtliche Mildtätigkeit herzensguter Bürgerfrauen kann das wirksam ersetzen. Am Ende eines bürgergesellschaftlichen Vakuums an Institutionen und Staatlichkeit jedenfalls hätte sich das politische System noch weiter delegitimiert.

Große Illusionen sollte man sich nicht machen. Auch in bürgergesellschaftlichen Zeiten wird ein erheblicher Teil der Deutschen mit der Verlässlichkeit staatlicher Leistungen rechnen. Das Gros der Deutschen wird auch in Zukunft vom Staat wohlfahrtliche Sicherungen und infrastrukturelle Angebote erwarten, kurzum: Effizienz und überzeugenden Output. Doch das wird sich gerade unter bürgergesellschaftlichen Bedingungen nicht leicht bewerkstelligen lassen. In Bürgergesellschaften wirken schließlich viele Eigeninitiativen mit. Das mag das Gemeinwesen bei einigen sozialen Diensten entlasten. Das macht die Gesellschaft aber zugleich heterogener und unübersichtlicher. Die Zahl der Akteure wird größer, damit aber auch die Zahl der Vetomächte und Verhinderer. Das minimiert die Steuerungsmöglichkeiten der Politik weiter. Politik wird daher noch moderierender und im Ergebnis noch inkonsistenter. Je komplexer aber die Gesellschaft, desto stärker wird und muss die Politik nach verhandlungs- und konkordanzdemokratischen Verfahren und Lösungen suchen. Die Bürgergesellschaft reklamiert Offenheit, Diskurs und Vielfalt; die Politik wird darauf mit Intransparenz, informellen Absprachen in kleinen Runden jenseits von Öffentlichkeit und Parlament antworten, um das schwierige Geschäft des management of complexity überhaupt noch einigermaßen sachrational hinzubekommen.

Immerzu partizipieren? Das wollen die Menschen nicht

Die Politik wird also ihren Steuerungsraum weiter verlieren. Sie wird noch mehr an der Kette bürgergesellschaftlicher Partizipatoren liegen. Doch stellen sich zahlreiche Wähler ihre Wunschpolitiker noch immer anders vor: Als energische Leitwölfe, einsam und entschlossen, kantig und kämpferisch, zäh und zielstrebig, als mutige Männer des markigen Machtworts. Nur wenig davon können Politiker in der Bürgergesellschaft leisten. Aber eben das mag den Hang zum autoritären Habitus, zu einer neuen Präferenz für charismatische Anführer am Ende noch steigern - gerade bei jenen, die aus der Wissens- und Bürgergesellschaft herausgefallen sind. Das alles jedenfalls könnte zu den Paradoxien und Ambivalenzen der Bürgergesellschaft gehören.

Aber man darf die Dinge natürlich nicht nur pessimistisch betrachten. Ganz so schlimm wird es schon nicht kommen. Denn ganz so forsch bürgergesellschaftlich wird es in der deutschen Republik auch in Zukunft nicht zugehen. Die Menschen sind nicht so, dass sie fortwährend mitwirken, teilhaben, partizipieren, sich engagieren und aktivieren wollen. Zwischendurch gibt es stets lange Zeiten der Ermüdung, der Pflege des Intimen und Privaten, des Rückzugs, der Regeneration und Erholung. Deshalb suchen Menschen Entlastung, darum haben sie Delegation und Vertretung erfunden. Und das wird den friedensstiftenden Bestand an Institutionen, Staatlichkeit und Repräsentanzstrukturen im politischen System noch lange sichern. Irgendwo dazwischen wird auch die Bürgergesellschaftlichkeit ihren Platz finden. Denn natürlich sind die Deutschen zu guten Teilen tatsächlich kompetent, mündig, selbstbewusst und eigenständig genug geworden, um vieles selbst in die Hand zu nehmen, was der Staat lange für sie regelte. Das alles ist gewiss auch trotz der hier geäußerten Einwände zu begrüßen, denn Selbstorganisation entlastet den Staat finanziell und kräftigt zugleich das Institutionenvertrauen der Aktiven. Allein das rechtfertigt schon die Bürgergesellschaft: dass sie die deutschen Mittelschichten an die Demokratie bindet, was in historischer Perspektive ganz so selbstverständlich nicht ist.

Drücken wir es salomonisch aus: Die Bürgergesellschaft wird im Konzert der modernen Gesellschaft und Demokratie ein wichtiges Instrument spielen. Aber sie ist nur Teil des Orchesters, nicht das Orchester selbst. Je stärker sie ihre Rolle überschätzt und übertreibt, desto dissonanter wird die Aufführung ausfallen.

Für die Genehmigung zum Abdruck des vorliegenden Essays danken wir der Körber-Stiftung, in deren Auftrag er geschrieben wurde

zurück zur Ausgabe