Die Corbyn-Revolution: Chance oder Sackgasse?
Mai 2015: Ein amtsmüder und angeschlagener Premierminister schleppt sich durch den Wahlkampf. Die Meinungsumfragen sagen David Cameron einen knappen Wahlausgang voraus. Vermutlich wird auch dieses Mal keine Partei die absolute Mehrheit erreichen. Ed Miliband, Chef und Spitzenkandidat der Labour-Partei, darf trotz seines nicht gerade pannenfreien Wahlkampfs und eher mittelmäßiger Zustimmungswerte auf den Einzug in 10 Downing Street hoffen – wenn nicht mit absoluter Mehrheit, dann vielleicht als Anführer einer von den Liberalen und der Schottischen Nationalpartei (SNP) geduldeten Minderheitsregierung.
Als die BBC am Wahlabend pünktlich um 18 Uhr ihre Prognose bekannt gibt, sendet dies Schockwellen über die Insel: Entgegen aller früheren Vorhersagen erreichen die Tories die absolute Mehrheit, während Labour gegenüber dem Ergebnis von 2010 Verluste erleidet. In Schottland hat die SNP die Jahrzehnte währende Labour-Vorherrschaft gebrochen: 40 Sitze verliert Labour allein im Land der Bravehearts. David Cameron bleibt also Premierminister. Ed Miliband wiederum übernimmt die Verantwortung für die historische Niederlage seiner Partei und tritt noch am selben Abend von allen Ämtern zurück.
Angesichts dieses Debakels kam der Urwahl des neuen Parteivorsitzenden für Labour eine ähnlich hohe Bedeutung zu wie dem SPD-Mitgliederentscheid über den Koalitionsvertrag 2013. Das Besondere an dieser Wahl: Für ganze drei Pfund konnten sich interessierte Bürger als Unterstützer registrieren lassen und an der Wahl teilnehmen. Zudem waren zahlreiche Gewerkschaftsmitglieder stimmberechtigt.
Mehr als 100 000 Bürger ließen sich als Labour-Unterstützer registrieren, weitere 150 000 wurden sogar Vollmitglieder. Dennoch sorgte das neue Urwahlverfahren für viele Diskussionen. Kritiker befürchteten, das Votum der eigentlichen Parteimitglieder könne verfälscht werden. Diese Sorge stellte sich jedoch als unbegründet heraus: Jeremy Corbyn gewann die absolute Mehrheit in allen drei Gruppen – und die Zahl der Parteimitglieder nahm weiter zu.
Endlich wieder klare Alternativen?
Die Diskussion innerhalb von Labour weist erstaunliche Parallelen zur Situation der SPD auf: Während letztere noch immer mit dem Erbe von Rot-Grün unter Gerhard Schröder ringt, debattiert man in Großbritannien die Hinterlassenschaften von Tony Blair und Gordon Brown. Mit Corbyns Erdrutschsieg hat sich Labour deutlich von diesem Erbe abgegrenzt. Sicher: Corbyns bisherige Rolle war die eines ständig parteioppositionellen Hinterbänklers. Aber was er zugleich mitbrachte, war die politische Erfahrung aus 32 Jahren Unterhaus.
Den neuen Stil konnte man zuletzt beim Besuch des chinesischen Ministerpräsidenten in London erkennen. Während sich die Regierung, das Königshaus und weite Teile der Wirtschaft gegenüber dem Gast aus dem fernen Osten geradezu unterwürfig verhielten, sprach Corbyn offen an, dass die Dumping-Preise der chinesischen Stahlexporte die britische Stahlindustrie massiv unter Druck setzen – und präsentierte sich damit als Anwalt der Stahlarbeiter im Norden Englands.
Schluss also mit dem Kampf um die Mitte? Sicher: Corbyn spricht mit seinen politischen Positionen dezidiert linke Wählergruppen an. Daraus folgt aber nicht, dass er damit den regierenden Konservativen die politische Mitte überließe. Im Gegenteil: Corbyn sorgt wieder für klare politische Alternativen im Parteienspektrum. Traditionelle Stammwähler, die Gewerkschaften und vor allem junge Wähler werden wieder eindeutig angesprochen. Ungewiss bleibt allerdings, ob dies am Ende ausreichen wird, um bei der nächsten Unterhauswahl an den Konservativen vorbeizuziehen. Das britische Mehrheitswahlrecht hat zur Folge, dass Labour vor allem in den auf der Kippe stehenden Wahlkreisen (marginal seats) mit Mittelschichtsprofil Stimmen hinzugewinnen muss. Ob dies mit Corbyns Neupositionierung gelingen kann, ist sehr fraglich. Denn es sind diese Wahlkreise, in denen Labour schon bei der letzten Wahl die entscheidenden Stimmen einbüßte: Vor allem junge Familien entschieden sich auf den letzten Metern für die Konservativen. Zugewinne in sicheren Labour-Wahlkreisen – etwa im urbanen London – halfen der Partei bereits bei der letzten Wahl nicht, um zusätzliche Sitze im Parlament zu gewinnen.
Immerhin könnte Corbyns Rückbesinnung auf linkssozialdemokratische Kernbotschaften dazu beitragen, das ehemals rote Schottland wieder für Labour einzunehmen. Die SNP konnte dort mit ihrem Wandel von einer nationalpopulistischen zu einer tendenziell sozialdemokratischen Partei an Boden gewinnen. Zu ihrem entscheidenden Popularitätsschub verhalf der SNP schließlich das schottische Unabhängigkeitsreferendum im vergangenen Jahr, bei dem Labour Seite an Seite mit den konservativen Tories für den Erhalt Großbritanniens eintrat.
Das Referendum markierte auch den Beginn einer aus kontinentaleuropäischer Perspektive schier unglaublich anmutenden Repolitisierung der britischen Gesellschaft. So konnte die SNP ihre Mitgliederzahl von 25 000 Mitgliedern auf über 100 000 vervierfachen. Der aktuelle Zustrom zu Labour belegt ebenfalls, dass viele Menschen wieder bereit sind, sich aktiv an Parteien zu binden.
David Cameron kündigte bereits vor der Wahl an, kein weiteres Mal zu kandidieren – was ihm prompt die Bezeichnung lame duck eintrug. Hinzu kamen die ständigen Attacken europakritischer Hinterbänkler in der konservativen Fraktion. Umso erstaunlicher ist der Wandel, der seither zu beobachten ist: Cameron wirkt nicht lahm, sondern regelrecht befreit. Dies zeigt sich etwa an der aktuellen Debatte über den Sparhaushalt von Schatzkanzler Osborne: Insgesamt sollen vier Milliarden Pfund an Steuervergünstigungen für Geringverdiener und Familien gestrichen werden.
Das Veto des Oberhauses gegen das umstrittene Steuerkürzungsgesetz des Schatzkanzlers zeigt einmal mehr, wie aufgewühlt die Stimmung derzeit ist. Es ist lange her, dass die ehrenwerten Lords und Ladies ein Gesetzesvorhaben derart brüsk zurückgewiesen haben – ein Vorgang, der mit der Unterschriftsverweigerung des Bundespräsidenten vergleichbar ist. Ungeachtet dieses Widerstands werden die Kürzungen mit dem nächsten Haushalt vermutlich auch das Oberhaus passieren.
In 10 Downing Street will Corbyn nicht
Während im ganzen Land tausende Menschen der Labour-Partei beitreten, scheinen die 230 Fraktionsmitglieder größtenteils wie erstarrt. Erst kurz vor Fristablauf gelang es Corbyn, die für seine Kandidatur zum Parteivorsitz notwendigen 35 Unterstützer aus der Fraktion zu präsentieren. Einige von ihnen waren nicht einmal wirklich für Corbyn, sondern wollten ganz einfach den politischen Wettbewerb beleben. Tatsache ist: Die überwiegende Mehrheit der Fraktion fremdelt mit ihrem neuen Vorsitzenden. Journalisten fanden heraus, dass Corbyn in seinen Unterhausjahren insgesamt häufiger gegen Labour stimmte als Tory-Premier David Cameron. Angeblich nahm Corbyn nach seiner Wahl zum Oppositionsführer erstmals an einer Fraktionssitzung teil. Auch für ihn wird sich also in Zukunft sicher einiges ändern.
Wird das System Corbyn also früher oder später kollabieren, so wie es Hopi Sen in der Berliner Republik 5/2015 vorhergesagt hat? Sicher: Labour sieht schwierigen Zeiten entgegen. Corbyns Programm verspricht eine linke Wohlfühloase, die aus der Opposition heraus vorerst keiner Realitätsprüfung standhalten muss. Angesichts des Mehrheitswahlrechts ist kaum damit zu rechnen, dass Labour der Rückkehr in 10 Downing Street auch nur einen Schritt näher kommen wird.
Auftanken an der traditionellen Basis
Unter progressiven Linken besteht Konsens darüber, dass positiver politischer Wandel eigene Regierungsmehrheiten voraussetzt. Jeremy Corbyn ist diese Prämisse fremd. Für ihn und seine Anhänger stellt bereits die Machtübernahme innerhalb der Labour-Partei den größten erreichbaren Sieg dar. Die nächste Unterhauswahl dürfte in seinen Überlegungen daher nur eine untergeordnete Rolle spielen. Deshalb wäre es falsch zu glauben, Corbyn würde eine Niederlage bei der nächsten Unterhauswahl als Scheitern seiner Politik ansehen.
Dass sich sozialdemokratische Parteien in vielen europäischen Ländern an der politischen Mitte orientieren, hat viele Bürger verunsichert. Sie fragen sich, ob die Sozialdemokratie noch zu ihren Kernüberzeugungen steht. In Deutschland hat sich die SPD in eine schwierige Position zwischen Agenda 2010 und Rente mit 63 manövriert. Die starke Verbindung zu den Gewerkschaften ist über die Jahre hinweg erodiert. Genau hier liegt immerhin – trotz einer mehr als schwierigen Ausgangslage – die große Chance für die Labour-Partei unter ihrem neuen Vorsitzenden: Aus einer gestärkten Verankerung in der traditionellen Basis kann das Werben um die politische Mitte erneut beginnen.