Die den Koran besitzen

Christen und Muslime auf der Suche nach dem "wahren” Islam

Wo immer auf der Welt von Muslimen ein Mord begangen wird, haben es sich wohlmeinende Christen und die Mehrheit der Muslime in Deutschland angewöhnt daran zu erinnern, dass dies ja nicht im Namen des “wahren” Islam geschehe, dass der Islam eine friedliche Religion ist; und im Namen dieses wahren, friedlichen Islams wird demonstriert, Dialog gefordert und betrieben. Doch wozu all diese Beteuerungen, woher die Verpflichtung, sich öffentlich auf bestimmte Glaubensinhalte einzuschwören? Vielen von uns in Deutschland lebenden Muslimen hat der 11. September 2001 Anlass gegeben, uns unserem Glauben neu zu nähern; allmählich wird es Zeit, den Glauben davor zu bewahren, dass er in eine öffentliche Politik der Versöhnung eingespannt wird.

Damit ist natürlich nicht gemeint, dass die Anschläge auf das World Trade Center den Muslimen aus dem Herzen gesprochen hätten. Nein, zu Herzen gingen die Bilder der sich aus den Türmen stürzenden Menschen, die staubigen Gesichter in den Straßen. Aber bereits während wir entsetzt waren (und auch ein wenig Voyeurismus an uns beobachteten, wie es bei Mitgliedern einer TV-Gesellschaft unvermeidlich ist, und die damit verbundene Scham verspürten), erschraken wir nochmals: Waren wir an diesen Morden schuld?

So schnell hatte sich herausgestellt, dass es Muslime gewesen waren, die sie geplant und durchgeführt hatten, noch dazu aus von ihnen selbst als “islamisch” verstandenen Motiven, dass man wirklich das Gefühl haben konnte, einer Religion von Mördern anzugehören. Wenn der Islam jetzt tatsächlich die “bescheuertste” Religion war, wie Michel Houellebecq es wenig später formulierte, wenn die friedliche Vision dieses Glaubens, der man bisher angehangen hatte, doch nur ein Minderheitenphänomen war? Wenn die Lehren von Gerechtigkeit, Mitleid, Solidarität und Güte, die die eigenen Eltern in der Erziehung betont hatten, vielleicht nur die Akzente der eigenen, eben gerechten und gütigen Eltern gewesen waren?

In den ersten zwei, drei Tagen nach dem 11. September konnte man dieses Schuldgefühl noch für eine Privatneurose einiger weniger halten; doch zeigte sich bald, dass es weit verbreitet war. Möglicherweise ging es Muslimen, die auch innerhalb Deutschlands in sehr fest gefügten Gemeinden leben, anders; aber es wird kaum die Mehrheit sein, die so lebt. Auch wenn man uns gern weismachen will, die meisten Muslime seien in dem einen oder anderen suspekten Verein organisiert oder liefen freitags immer in “ihre” Moschee – der Islam, den die meisten Muslime der zweiten oder gar dritten Generation hier in Deutschland erlernen, wird ihnen keineswegs als ein selbstverständlicher Teil irgendeiner geschlossenen “Parallelgesellschaft”, in die sie hineinwachsen, “mitgeliefert”. Falls sie überhaupt religiös sozialisiert werden, wächst dieser Minderheitenglauben neben, in Abgrenzung von, in Überschneidung mit religiösen Elementen der ihn in Kindergärten, Schulen, Literatur, Fernsehen, Nachbarschaft und Freundschaften umgebenden gesellschaftlichen Mehrheit.

Die eigenen Glaubensinhalte erscheinen daher nicht absolut, sondern relativ zu denen einer anderen Religion, sie finden in Sätzen Niederschlag, die “Ihres” und “Unseres” vermitteln, zum Beispiel: “Die Christen glauben, Jesus war Gottes Sohn, wir glauben, er war Gottes Gesandter.” Oder: “So wie für uns das Almosengeben wichtig ist, haben die Christen Sankt Martin und die Nächstenliebe.” Solange dieses “Wir” nicht aggressiv gemeint ist, ist nichts Schlechtes daran, den eigenen Glauben derart zu dem anderer in Beziehung zu setzen. Man könnte sogar positiv daran hervorheben, dass dies, was die alleinige Wahrheit der Dogmen, die hundertprozentige Richtigkeit seiner Riten angeht, ein sich offen gebender, verletzlich zeigender Glauben ist; einer, der sich nicht auf die Fiktion einer Ursprünglichkeit stützt, die normalerweise mit der Idee einer Offenbarungsreligion, die von einem Mann gestiftet wurde, einher geht. Während sich der “fundamentalistische” Glaube der wenigen gegen die vielen anderen richtet, die ja sowieso alle “verblendet” sind, ist der fragilere Glaube dagegen historisch kontingent, als von den Gläubigen mitgeformt zu erkennen.

Dies geschieht natürlich nicht programmatisch, sondern vollzieht sich sozusagen unter der Hand. Daher können sich die so Gläubigen in den entsprechenden Schrecksekunden fragen: Haben wir uns da etwas zurechtgelegt, das der Ausgangsidee nicht mehr entspricht? Insbesondere werden sie sich dies fragen, wenn plötzlich andere, die derselben Religion angehören, daher kommen und monströse Taten begehen und sagen: Wir haben ihn, den ursprünglichen Glauben. Und genau das will ja, in Anlehnung an die Bewegung der entsprechenden protestantischen Christen in den USA, der Begriff “Fundamentalismus” bezeichnen: Fundamentalisten behaupten, über einen Glauben zu verfügen, der eben in nichts kontingent ist, sondern so, wie er von Anfang an gemeint war, unverändert und unverfälscht – im Unterschied zu dem Glauben, zu dem sich die unwissende Mehrheit hat hinreißen lassen.

Muslimische Fanatiker werfen die Frage nach dem wahren Islam auf, indem sie bereits die alleinige Antwort zu besitzen behaupten. Ironischerweise wollen aber auch besorgte Nicht-Muslime wissen, was es mit dem “wahren Islam” auf sich habe. Sie hoffen auf einen “guten” Islam – und fürchten, er könne doch “barbarisch” sein. Stimmt es, fragen sie, dass im Koran steht, man solle Andersgläubige töten? Verdankt sich das Kopftuchgebot einer falschen Übersetzung, und erben Töchter im Islam weniger als Söhne? Wieso trinken manche Muslime Alkohol und andere nicht, und müssten Zigaretten nicht auch verboten sein? Ist das Pilgern nicht gefährlich, weil so viele Leute an einem Ort zusammen kommen, wie viele Frauen hatte Mohammed, und wann ist das Jüngste Gericht?

Unwissen, Ignoranz und Vorurteil in fließendem Übergang

Bei solchen Fragen befinden sich Unwissen, Ignoranz und Vorurteil im fließenden Übergang. Doch davon zunächst einmal abgesehen: Auch mit dem sachlichen Inhalt sind die Befragten oft überfordert. Beim rituellen Gebet werden die erste Sure (Fatiha) und die letzten, kürzeren Suren verwendet; sie sind den meisten Muslimen vertraut. Was aber das Gros des Korans, die nach absteigender Länge geordneten Suren dazwischen, angeht, ergeht es auch dem durchschnittlichen Muslim nicht anders als dem Nicht-Muslim: Er kann kein Arabisch, er greift zu einer Übersetzung, und dennoch bleibt ihm vieles aus dem Inhalt einigermaßen fremd. Die Sprache des Koran erscheint umständlich, altmodisch; man weiß nicht immer: Wer spricht zu wem? Er enthält vielerlei weltliche Reglements und Bezüge auf historische Situationen sowie mythische Figuren.

In einem solchen Text kann man nicht einfach strittige Punkte nachlesen, man muss den Umgang mit diesem Text lernen. Die hier lebenden Muslime aber sind bekanntlich nicht immer sehr gebildet, was ihre Religion angeht. Solche “Halbbildung” in Fragen der eigenen Religion muss übrigens nichts Negatives sein; und bereits ihre Ursachen sind vielfältig. Sie verdankt sich nicht nur der Tatsache, dass es vor allem ungelernte Arbeiter waren, die aus der Türkei hierher gekommen sind – anders als beispielsweise aus dem Iran – und die Mehrheit der hier lebenden Muslime stellen. Die mangelnde Sicherheit in religiösen Fragen liegt auch daran, dass es nicht immer sehr religiöse Muslime waren, die hierher gekommen sind (und aus dem Iran sogar viele Gegner der dortigen Religiösen).

Was die relative Nähe oder Ferne zum Ursprungsglauben, also der Religion der Eltern, angeht, ist die Bandbreite genauso groß wie bei den Getauften auch: Mancher hat alles bewahrt, was ihn gelehrt wurde, mancher glaubt nur an einiges davon, viele haben vieles verlernt oder vergessen. Kommt noch die unvermeidliche Variationsbreite jeder Weltreligion hinzu: Man darf sich also nicht einmal die religiöse Auffassung der Eltern so vorstellen, als sei es ein und derselbe Islam, dem die nachfolgenden Generationen bloß mehr oder minder stark anhingen – sozusagen auf einer Skala von “säkularisiert” bis “fundamentalistisch”. Wie sich die Inhalte im Einzelnen auch ausnehmen mögen: Da es im Islam keine Taufe gibt, keine Konfirmation, keine Firmung, kein Register, in das man sich ein- oder austragen lassen kann, fehlen auch die Schwellen, sich entweder ganz für oder gegen die Religion der Eltern zu entscheiden. Mancher machte sich bisher gar nicht so viele Ge-danken darüber: “Jetzt wo du fragst... Ja, ich würde schon sagen, ich bin etwas religiös.”

In den letzten Jahren aber sind viele von denen, die sich früher nicht lauthals als Muslime bezeichnet hätten, zu Muslimen geworden. Fremdbeschreibung und Dauerdrangsalierung durch die deutsche Mehrheitsbevölkerung haben sie regelrecht zu Muslimen gemacht: Jeder Spiegel-Titel, jeder Aufmacher von Stern oder Emma, der geknechtete Frauen im Kopftuch oder Männer zeigt, die mit der Kalaschnikow auf einem Esel reiten, hat dem aus einem islamischen Land stammenden Kioskkunden vor Augen geführt: So sehen sie auch mich! Jede staunend-lobende Frage: “Aber Sie wirken ja sehr selbstbewusst, und Sie sprechen so gut Deutsch!”, hat Türkinnen der zweiten und dritten Generation der Verbitterung näher gebracht. Jeder Fernsehbeitrag, der die immer gleichen Massenszenen zeigt, betende Pos zu Hunderten in die Luft gereckt, zeigt den hiesigen Muslimen, die sich bisher nicht für welche gehalten hatten, dass sie doch welche sind: Wenn ihnen diese Bilder einen peinlichen Schauer den Rücken hinunterjagen, wenn sie hören, wie sie selbst leise aufbegehren: He, so blöd sind wir auch wieder nicht! So schleicht es sich früher oder später ein: das “Wir”, zu dem sich früher viel weniger hier Lebende gezählt hätten. Und es ist kein gutes “Wir”; es ist etwas gekränkt, und ein bisschen trotzig; es ist das “Wir” von Leuten, die sich missverstanden fühlen.

Kopftuchtragen aus Trotz gegen die Nicht-Muslime?

Oft wird das Phänomen dieser Trotzreaktion den weniger Gebildeten, wenig “Integrierten” zugeschrieben; diejenigen, die sich in Deutschland gänzlich verloren fühlten, heißt es, griffen jetzt wieder nach der Religion, um sich an etwas festzuhalten. Auch diese mag es geben. Aber die beschriebene Irritation, die Kränkung und der daraus folgende Impuls zur Verteidigung findet sich bei Vertretern aller Schichten; bei Angehörigen der zweiten Generation, die nie national empfunden haben, weder für hier noch für dort; bei Frauen, die stets Gegnerinnen derjenigen Glaubensbrüder waren, die das Kopftuchtragen zur religiösen Pflicht erklärt haben. Es gibt nicht wenige solcher Frauen, die aus reiner Wut darüber, wie die deutsche Öffentlichkeit am Tragen oder Nichttragen eines Kopftuches seine Patriarchatsdiagnose festmacht und auf diesem Weg regelmäßig den Islam in den Dreck zieht, in Erwägung ziehen, eines zu tragen. Momentan fühlen sie sich von den Nicht-Muslimen stärker bedrängt als von Fanatikern der eigenen Religion.

Hinter der Anti-Doppelpass-Kampagne oder dem Begriff der Leitkultur machtstrategische Erwägungen zu vermuten, hat sich bereits weitgehend durchgesetzt. Insbesondere in den Medien fühlt man sich verpflichtet darauf hinzuweisen, welche möglichen Schäden solche Kampagnen in einer sehr gemischten Gesellschaft anrichten können. Schlimmer aber als die Parteipolitiker mit ihren klar umgrenzten und immerhin erkennbaren Zielen tragen Presse und Fernsehen selbst dazu bei, dass sich die Kluft zwischen den Angehörigen der verschiedenen Religionen verschärft. Selbst noch in ihrem vermeintlichen Aufklärungswillen, in ihrem Eifer, “die Muslime” und “den Islam” darzustellen, verbreiten Presse und Fernsehen mehr Unsinn und peinliche Verallgemeinerungen, als die wenigen wirklich kundigen Muslime und/oder Islamwissenschaft-ler, die in die Talkrunden geladen werden, je werden zurechtrücken können.

Vielleicht liegt es sogar gerade an diesem Aufklärungswillen: Die Mehrheit der Journalisten mag es durchaus gut meinen – leider ist es ein Gut-Meinen auf ziemlich niedrigem Niveau. Das Problem besteht nicht einmal unbedingt darin, dass die einzelnen Sätze, die sie in ihren Artikeln und Fernsehbeiträgen verwenden, falsch sind; über die Sätze kann man nicht einmal wirklich befinden, denn alles daran ist falsch. Bereits die Verständnisfragen, die zu klären die meisten Artikel und Beiträge antreten, sind keine reinen Verständnisfragen, denn sie enthalten Wertungen, implizite Befürchtungen und Vorwürfe. Wer nach dem Kopftuch fragt, denkt eigentlich ans Frauenhaus. Wer ununterbrochen beteuert, dass nicht alle Muslime böse seien, befürchtet es offenbar insgeheim doch. Wer wissen will, was Scharia bedeutet, will Demokratiefähigkeit ermitteln. Darum gibt es auch für den “dialogbereiten” Muslim auf solche Fragen keine unbefangenen Antworten. Noch während man nach der “korrekten” Antwort sucht, ist man damit beschäftigt zu überlegen: Zu welchem nächsten Missverständnis, zu welcher weiteren Befürchtung könnte diese Antwort nun wieder führen?

Hast du einmal das Alte Testament komplett gelesen?

Bei allem Reden über den Islam hat sich leider die Erkenntnis noch nicht durchgesetzt, dass der Islam aufgrund seiner vierzehn Jahrhunderte währenden Geschichte schon viele Erscheinungsformen gehabt hat; dass es in ihm eine lange Geschichte der Rechtsauslegung, des theologischen Streits gibt. Dass, wie im Christentum auch, die Religion von verschiedenen weltlichen Reichen adaptiert wurde, mit deren imperialen Interessen man aber nicht die “Religion an sich” verwechseln sollte. Ungeachtet all solcher Unterschiede spricht man weiterhin von “dem Islam” in allgemeiner Hinsicht, und es kann schon ein wenig dauern, bis die Quelle des jeweiligen Unbehagens oder Missverständnisses herausgefunden ist: Sind bestimmte Stellen im Koran gemeint oder Überlieferungen von Mohammed, das frühe Kalifat, das späte Osmanische Reich, der heutige Iran oder die Empfehlungen der Al-Azhar-Universität in Kairo?1

Schließlich kommt erschwerend der Umstand hinzu, dass die nicht-muslimischen Deutschen, die sich aufgrund politischer Konflikte jetzt erstmals mit dem Islam beschäftigen, selbst nicht unbedingt religiös sind. Folglich besteht oft eine erstaunliche Ungeübtheit in sämtlichen religiösen Fragen, die natürlich im Rahmen der vertrauten christlichen Mehrheitsreligion nicht auffällt – bei der Beschäftigung mit einer “fremden” Religion aber sehr wohl! So mag ein aus der Kirche Ausgetretener in bester Absicht in den Koran hineinblicken und entsetzt fragen: Das kann man lesen? Er wird Stellen finden, wo es um Kampf geht, oder um die Hölle, oder um Gesetze, die den Erwartungen des 20. Jahrhunderts nicht entsprechen. Das enttäuscht ihn. Eben mag er die Fundamentalisten noch kritisiert haben, dass sie den Koran als unhistorisch, als authentisches Gotteswort verstehen; im nächsten Moment bringt er selbst es fertig, sich über die – damals geradezu revolutionären – Gesetze aus dem 7. Jahrhundert zu empören.

Man möchte zurückfragen: Hast du einmal das Alte Testament komplett gelesen, oder das Johannesevangelium? Wie erklärst du dir gewisse Nichtübereinstimmungen zwischen den Evangelien, wie hältst du es mit der göttlichen Natur Christi und dem Konzil von Nicäa, und woher stammt das Gold der Kirche? – Man würde das gern zurückfragen, aber man hätte dabei einen leicht schnippischen Ton, und im Grunde ist es für alle Beteiligten entwürdigend.2 Am schwierigsten aber ist das Gespräch mit ehemaligen Christen, die sich entschieden von ihrer Religion abgewendet haben; den Tücken jedes Religionsvergleichs gesellen sich dann noch allgemeine anti-religiöse Ressentiments hinzu. So misst der wütende Agnostiker den Islam womöglich an einer Messlatte, die er aus den Erfahrungen mit seinem Konfirmandenunterricht mitgebracht hat. Wenn er diese Messlatte für die heute noch einzig taugliche hält, an der seine eigene Religion zu messen ist, ist das eines; aber eine andere Religion daran zu messen, führt nirgendwohin.3 Gewiss, man kann sich mit Angehörigen und “Abtrünnigen” aller Konfessionen über Glaubensfragen unterhalten – aber muss es ein Streitgespräch werden? Viel eher sollte es doch ein behutsames, privates Gespräch sein; ebenso wie man sich wünschen mag, dass Religion (und auch die Abkehr von ihr) endlich eine private Angelegenheit sein dürfte.

Wieso hat Gott die Welt nicht durch und durch gut gemacht?

Vermutlich wurden in Deutschland nie mehr Bücher über den Islam publiziert als in den drei Jahren seit Ende 2001, und sie wurden nicht nur von interessierten Christen gekauft.4 Von zwei Seiten – fanatischen Glaubensbrüdern und besorgten Nicht-Muslimen – nach dem Kern seines Glaubens befragt, musste sich mancher “laxe” Muslim erst einmal selbst schlau machen. In dieser neuen, von wenig erquicklichen äußeren Umständen initiierten Begegnung mit der Religion, in der man aufgewachsen ist und es sich mehr oder weniger bequem gemacht hat, lag auch eine große Chance: in der Wiederentdeckung von Gleichnissen und Gebeten, Vorbildern, Biografien von früheren Gläubigen, mittelalterlichen Dichtern und heutigen Politikern; in dem Ausräumen von Vorurteilen, die man sich selbst im Laufe der Jahre angeeignet hat. Freudig findet man bestimmte Antworten: Ja, der Koran hat die Situation der Frauen tatsächlich deutlich verbessert. Nein, Mohammed war nicht kriegslüstern, sondern friedliebend. Ja, im Islam kommt es auf die innere Gesinnung an, nicht aufs Lippenbekenntnis und das starre Befolgen der Regeln.

Gleichzeitig begegnet man Fragen wieder, die sich jedem Kind im Religionsunterricht stellen (auch wenn es sie nicht immer erwachsenengerecht formulieren kann): Wieso hat sich Satan gegen Gott entschieden? Was ist mit den Völkern und Generationen, die keinen Propheten erlebt haben? Wieso hat Gott die Welt nicht durch und durch gut gemacht? Gibt es die Hölle wirklich – und den Himmel? Es sind Fragen, die damals nicht zufriedenstellend beantwortet werden konnten; erwachsen geworden, erkennt man, dass es Fragen sind, die nicht beantwortet werden müssen und die immer wieder umzuschichten selbst ein wesentlicher Teil von Religion ist.

Seit Jahrtausenden haben sich Menschen bemüht, dem Guten einen Platz in ihrem Leben einzuräumen, ohne das Hier und Jetzt für nichtig zu erklären. Sie haben Leitung und Trost gefunden, verloren, Spiritualität mal stärker und mal schwächer empfunden. Heilige Männer kannten das Gefühl der Verzweiflung – “Oh Herr, mache Raum mir in meiner engen Brust!” (Moses) – und wenig glorreiche Frauen wurden heilig durch kleinste Taten, die einem Moment echter Barmherzigkeit entsprangen (wie die Frau, die dem verdurstenden Hund in der Wüste Wasser gab). Wo einem die Schemenhaftigkeit der Vorurteile einerseits, die übergroße Gewissheit von Eiferern andererseits Furcht einflößen kann, ist es die Vielfalt des gelebten Glaubens, die einen dessen Inhalts versichert.

So schön es ist, sich als Erwachsener noch einmal mit frischem Blick mit seinem Glauben zu beschäftigen, der Anlass bleibt unschön: nicht die terroristischen Anschläge allein (die ohnehin), sondern auch der gesellschaftliche Druck, Fragen der Religion auf die eigene politische Agenda zu nehmen. Und die Situation verführt dazu, sich als Reaktion auf anti-islamische Verdächtigungen auf ein neues Islam-Verständnis festzulegen – das zwar nicht im herkömmlichen Sinne fundamentalistisch, von seinen Inhalten vielleicht philologisch präzise und wunderbar demokratiekompatibel wäre. Und doch, die Vielfalt und Freiheit des Glaubens wird jedes Mal in Frage gestellt, wenn wir uns aufschwingen, Auskunft zu geben über “den Islam”, sogar wenn es mit den besten Absichten geschieht. Jede Religion hat das Gute der Menschen, letztlich der gesamten Schöpfung im Sinn; und da das doch unstrittig ist, wozu sollte man öffentlich immer wieder auf eine bestimmte “wahre” Auslegung der Religion rekurrieren?

Kein Äquivalent zu Luther oder Papst – viele Deutsche irritiert das

Immer wieder weisen besonnene Muslime darauf hin, dass es im Islam keine offizielle Version, kein Äquivalent zur Kirche und keinen Papst gibt. Man legt ihnen solche Äußerungen bisweilen als Rhetorik aus; aber selbst wenn sie dies in vereinzelten Situationen sein mag, steht dahinter doch der vernünftige und für weite Teile des Islams tatsächlich tragende Gedanke, dass ein Glaube vielleicht versuchen sollte, ohne Dogmen und Autoritäten auszukommen, die festlegen, wer dazugehört, wer nicht, und was geglaubt werden muss. Es fällt der christlich geprägten Umgebung offenbar schwer, diesen Gedanken wirklich zu akzeptieren, und so gehen ihre Vorwürfe manchmal in zwei geradezu entgegen gesetzte Richtungen: Sie wirft dem Islam vor, dass er keine Reformation, keinen Luther gehabt habe; dass aber im Islam kein weltlicher Richter, kein Imam zwischen Gott und dem Gläubigen steht und über die Inhalte seines Gewissens richten darf, das passt ihr (obwohl sozusagen lutherisch durch und durch) auch wieder nicht. Immer wieder verlangt die Öffentlichkeit danach, dass endlich die eine muslimische Autorität auftauche, die all dem abschwört, was sie dem Islam an Abscheulichem vorwirft.

Der nach meinem Eindruck zu Unrecht als “Wolf im Schafspelz” verschriene Tariq Ramadan zum Beispiel wurde jüngst öffentlich gefragt, was er von der Steinigung von Ehebrecherinnen halte. Er erklärte, er sei dagegen und immer dagegen gewesen, man müsse ein Moratorium zu diesem Thema ins Leben rufen. Seine nicht-muslimischen Gegner waren aufgebracht: Er will nur ein Moratorium?!? Doch man sollte sich erinnern: Im Islam gibt es auch für den einflussreichsten Mann keine Möglichkeit, eine Bulle zu erlassen. Ein anderes Mal antwortete Ramadan auf die Frage nach der Beschneidung von Mädchen mit der einzig anderen ihm zur Verfügung stehenden Antwort: Diese Praxis sei unislamisch. Wieder war man empört: Bloß unislamisch – nicht noch mehr? Und wieder bleibt rätselhaft, was man mehr erwarten kann: Sagt er, “ich bin dagegen”, reicht es nicht aus; sagt er “meine Religion ist dagegen”, reicht es genauso wenig.

So verständlich es einerseits ist, dass Muslime auf Anwürfe und Unterstellungen mit einer Verteidigung antworten – “der Islam sagt es aber so und so” – so schade ist es doch, dass sie sich in die Situation bringen lassen, über wenige Grundsätzlichkeiten hinaus inhaltliche, programmatische Bestimmungen ihres Glaubens vorzunehmen. Die Fundamentalisten tragen ihren angeblichen Ursprungsislam wie ein Wahlplakat (es ist zum Glück eine wenig aussichtsreiche Partei) vor sich her; müssen wir anderen Muslime uns auch ein Schild malen: “Korrektes Islamverständnis nur bei uns”? Müssen wir jetzt wirklich jeden selbstverständlichen menschlichen Zug mit einem Hinweis versehen: Der Koran befiehlt es uns? Müssen wir uns von jetzt an bei jedem Mord, den ein Muslim verübt, ebenfalls als Muslim outen, um mit der dadurch erlangten Autorität zu beteuern: Der Koran verbietet Mord?

Was soll das für eine Welt werden, in der man ständig eine Art religiösen Ausweis ziehen muss? In einem nahe liegenden Reflex sucht die Politik der Verständigung Vertreter eines “guten” Verständnisses des Islam zusammen; sie ruft “gute” Christen herbei, um ihnen die Hand zu reichen. Aber diese Politik kann dazu führen, dass sich Menschen vermehrt über ihre Religionen werden identifizieren und darüber Rechenschaft ablegen müssen – eine Abkehr von der Glaubensfreiheit, die doch nicht nur bedeuten sollte, dass jeder glauben darf, wozu er sich berufen fühlt; sondern dass er diesen Glauben auch für sich behalten darf, ohne der Vernachlässigung seiner bürgerlichen Pflichten verdächtigt zu werden.

Dieser Entwicklung zu entgehen, bedürfte es einiger Disziplin und Zurückhaltung, auf beiden Seiten. Muslime müssten der Versuchung widerstehen, bei jedem Missverständnis, bei jedem historischen oder politischen Malheur Beweise für den anderen, den wahren, den guten Islam hervorzuholen. Und Nicht-Muslime müssten davon Abstand nehmen, als Antwort auf die Taten der Fanatiker von anderen Muslimen Bekenntnisse zu und Aussagen über diesen wahren, besseren Islam zu verlangen. Es ist unwahrscheinlich, dass dies auch nur ansatzweise durchzuhalten ist; die politische Atmosphäre verlangt nach entschiedenen Reaktionen, beinahe jeden Augenblick. (Und die Tendenz, verstärkt öffentlich auf Religion Bezug zu nehmen, die so genannte Wiederkehr der Religionen, findet sich auch bei den Angehörigen anderer Religionen – in diesem Fall nicht unbedingt im Kontext des 11. September, sondern als Teil einer jener verwickelten Bewegungen, Gegenbewegungen, Nachfolgebewegungen der politischen Moderne.)

Muss es aber immer gleich ein Religionsverständnis wie aus dem Schulbuch sein? Die “Halbbildung”, die man vielen Muslimen vorwirft, ist doch nicht von Schaden, solange der Inhalt der Religion kein politischer Kompass, kein Gegenstand politischer Auseinandersetzungen ist. Und wozu braucht es “vollständiges” Wissen, wo jemand für die Besserung seiner selbst und der Welt betet, oder mit Gott hadert und sich der rätselhaften Leere stellt, die wohl jeder Betende kennt?

Anmerkungen
1 Das heißt umgekehrt nicht, dass all diese historischen Ausprägungen nichts mit dem Islam zu tun hätten – den reinen Islam zu postulieren, also eine Religion vor jeder historischen menschlichen Praxis, wäre ja naiv. Eher will ich darauf hinaus, dass man damit einer Versuchung des Fundamentalismus in die Falle geht (wenn auch “mit den besten Absichten”, um nämlich jenem aggressiven Islam einen anderen Super-Islam entgegenzuhalten). Wenig hilfreich ist es auf Dauer auch, historische Vorzüge des Islam herauszukehren, die vor Jahrhunderten einmal bestanden. Auch wenn Kalifen und Sultane oft erstaunliche Toleranz haben walten lassen, haben sie sich diese teils bezahlen lassen. Selbst wenn sie – Staatsmänner, Eroberer, Weltpolitiker! – aber aus reiner Weisheit und Menschenfreundlichkeit gehandelt hätten, gereichte das den heute lebenden Muslimen doch kaum zur Ehre.
2 Dasselbe gilt übrigens auch für viele der “halb gebildeten” Muslime; sie schlagen den Koran auf und sind frappiert: Es kommt ihnen alles vor wie Kraut und Rüben. Allein auf dieser Basis eine Anklageschrift gegen den Islam zu schmieden, zeigt eine Unvertrautheit mit religiösen Fragen allgemein; und, wenn es sich um ansonsten recht belesene Geisteswissenschaftler handelt, darf man hier vielleicht doch nicht nur im deskriptiven, sondern im verbreiteten pejorativen Sinn von mangelnder Bildung sprechen.
3 “Ich finde Kirche eh scheiße”, sagte mir kürzlich ein überzeugter Agnostiker, “also darf ich ja wohl den Islam auch scheiße finden, oder?” Nein. Ganz grundsätzlich: Wer die eigenen Eltern für Langweiler hält, ist zu bedauern; sobald er sich ungebeten über die eines anderen lustig macht, wird er unverschämt. Politisch gesehen ist es darüber hinaus ein Nachteil, dass gerade viele deutsche Linke so starken Verdacht gegen jede Form religiösen Glaubens hegen. Was Asylgesetzgebung angeht, Abschiebepolitik und Auffanglager in Nordafrika (von denen Otto Schily möchte, dass wir sie Auffangzentren nennen), kämpft man für den Menschen als Menschen. Sobald sich aber die aus den Klauen des Bundesgrenzschutzes oder aus den Mühlen der Ausländerbürokratie geretteten Menschen als religiös entpuppen, kommt die uneingeschränkte Solidarität ins Wanken.
4 Vgl. etwa Nasr Hamid Abu Zaid, Ein Leben mit dem Islam (erzählt von Navid Kermani), Freiburg 2001; Ludwig Ammann, Die Geburt des Islam: Historische Innovation durch Offenbarung, Göttingen 2001; ders., Cola und Koran: Das Wagnis einer islamischen Renaissance, Freiburg 2004; Karen Armstrong, Kleine Geschichte des Islam, Berlin 2002.

 

Der vorliegende Essay stammt aus dem Anfang April erscheinenden Buch "Deutschland denken. Beiträge für die reflektierte Republik", herausgegeben von Undine Ruge und Daniel Morat. Mehr als 15 Jahre nach dem Mauerfall wird darin Deutschland intellektuell neu vermessen: 16 jüngere Autorinnen und Autoren überprüfen die Denkgewohnheiten der gegenwärtigen politischen (Reform-)Debatten: Wie positioniert sich die jüngere Generation angesichts der fundamental gewandelten Bedingungen von Politik? Was können Begriffe wie "Republik" und "Patriotismus" heute noch bedeuten? Was für Herausforderungen stehen dem deutschen Sozial- und Nationalstaat bevor? Und welche Aufgabe können Intellektuelle für die Gesellschaft übernehmen?

Undine Ruge und Daniel Morat (Hrsg.), Deutschland denken. Beiträge für die reflektierte Republik, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2005, 206 Seiten, 19,90 Euro

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